Manfred Bieschke-Behm

Das Urteil zum ICH

 

„Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um ein gerechtes Urteil zu fällen.

Sind sich die Angeklagten über ihrer Taten bewusst“, fragt der Richter, und gleichzeitig den Blick auf die drei Beschuldigten gerichtet. 

 

Stille!

Keiner der auf der Anklagebank sitzenden wagt es dem Richter ins Gesicht zu sehen.

Weder Herr Unruhe

noch Herr Aufgabe

und schon gar nicht Herr von innerer Zerrissenheit.

 

Jeder hofft, dass der jeweils andere anfängt sich zu äußern.

Alle drei sind fest von ihrer Unschuld überzeugt und wollen sich deshalb auch nicht in die Gefahr begeben, sich durch Aussagen selbst zu belasten.

 

Der Richter bemerkt die allgemeine Sprachlosigkeit.

 

Zunächst bewahrt er Gelassenheit, sieht sich dann aber doch genötigt das Schweigen zu durchbrechen.

 

Ein zweites Mal versucht er, die Angeklagten zum Sprechen zu bewegen.

 

 Wieder ohne Erfolg.

 

Die drei Verdächtigen – noch immer wie verabredet die Köpfe nach unten gesenkt – schauen sich verstohlen an. Ohne sich abgesprochen zu haben, sind sie sich einig nicht auf die Frage des Richters, ob sie sich ihrer Vergehen im Klaren sind, zu antworten.

 

Der Richter spürt Unbehagen bei sich. Aber auch bei dem Kläger sowie den drei Angeschuldigten.

 

Er spricht mit leicht gereizter Stimme:

„Wenn Sie sich jetzt nicht reden, verurteile ich Sie auf Basis der Anklage.

 

Letztmalig biete ich Ihnen die Chance sich zur Anschuldigung zu äußern“.

 

Jetzt werden die Herren Unruhe, Aufgaben und von innerer Zerrissenheit hellhörig.

 

Verurteilt zu werden, ohne die Chance der Verteidigung genutzt zu haben, das wollen sie sich dann doch nicht antun.

 

Wie auf Kommando fangen alle drei gleichzeitig an zu reden.

 

Der Ankläger, der dem Geschehen nur mit Mühe folgen kann, denkt: Genau so, wie sich die drei Herren jetzt verhalten, so taten sie es jahrelang mir gegenüber.

 

Alle drei schafften es mich tagein und tagaus durch ihr unstrukturiertes Tun zu beeinflussen.

 

Sie schafften es, aus mir einen unzufriedenen Menschen zu machen, einen Menschen, dem mehr und mehr die Zufriedenheit verloren ging.

 

Der Richter, der kopfschüttelnd dem Durcheinander zu folgen versuchte, unterbrach den Redeschwall, im dem er laut und deutlich sagte:

„Da die Angeklagten offensichtlich nicht fähig sind hintereinander zu reden, bestimme ich die Reihenfolge:

Als erster haben Sie Herr Unruhe die Gelegenheit sich zu äußern, dann Sie Herr Aufgaben

und zu guter Letzt Sie Herr von innerer Zerrissenheit.

 

Herr Unruhe, bitte erklären Sie uns jetzt, weshalb Sie den Angeklagten – aus seiner Sicht – negativ beeinflussen.“

 

„Herr Richter“, hob Herr Unruhe an, „zunächst erlauben Sie mir die Anmerkung, dass ich mich im Sinn der Anklage nicht schuldig fühle.

 

„So, so“ konstatierte der Richter, „unschuldig“.  

 

„Ja“, antwortete Herr Unruhe und fuhr fort.

 „Der Kläger hatte mich vor langer Zeit zu sich eingeladen um mit mir - so glaubte ich - eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Anfangs lief es auch gut mit uns beiden.

Ich schaffte es ihn zu motivieren, für Neues zu begeistern usw.

 

Eines Tages jedoch bekam ich zu spüren, dass ich ihm offensichtig lästig wurde.

Aber Herr Richter, so schnell gebe ich nicht auf, und so schnell wird man mich auch nicht wieder los.

Ich hatte das gegeben, wozu ich fähig bin und was meine Berufung ist. Ich glaubte willkommen zu sein, und deshalb bin ich jetzt doch sehr verwundert, mich auf der Anklagebank wieder zu finden.

Herr Richter, ich sage nochmals, ich bin unschuldig“.

 

„Danke Herr Unruhe“, sagte der Richter und wandte sich zu an Herrn Aufgaben mit der Frage: „Was haben Sie uns mitzuteilen?“ 

 

„Ich bin mir, genau wie mein Vorredner, auch keiner Schuld bewusst.

 

Ich hatte mich seinerzeit, beim angeblich Geschädigten, vorgestellt und kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich mit offenen Armen empfangen wurde.

Es klingt mir noch im Ohr, so als wäre es gestern gewesen, wie der Kläger zu mir sagte: “Schön, dass ich Dich kennen lernen darf. Deine Vorschläge sind interessant und machen mich neugierig. Deine Ideen beflügeln mich, denn sie lassen keine Langeweile aufkommen. Sie geben mir Beschäftigung für Tage, Wochen und Monate“.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass der Kläger über einen langen Zeitraum immer mehr von mir forderte. Dabei merkte ich schon, dass der Kläger durch meine ihm erteilten Beschäftigungen teilweise überfordert war, aber ich dachte mir, er will es ja so haben, denn ich hörte keinen Prostest.

 

 

Jederzeit hätte er mir sagen können, das es zu viel an Tätigkeiten waren die ich ihm offerierte.

Aber es kam kein entsprechender Hinweis und deshalb sah ich meine Aufgabe weiterhin darin, Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen – nicht mehr und nicht weniger.“

 

„Auch Ihnen danke ich für die sehr interessanten Ausführungen Herr Aufgaben“, sagte der Richter, und wandte sich jetzt an Herr von innerer Zerrissenheit.

 

Herrn von innerer Zerrissenheit fallen nicht so schnell Worte der Verteidigung ein. Er ist noch ganz fasziniert und gleichzeitig irritiert von den Aussagen seiner Vorredner.

 

Nach deutlicher Verzögerung und begleitender Unsicherheit fängt er dann doch endlich an zu reden.

 

Er spricht so leise, so dass der Richter ihn auffordern muss lauter zu sprechen, damit er, sowie die Mitangeklagten aber auch der Ankläger, hören können, was Herr von innerer Zerrissenheit zu sagen hat. 

 

„Ich weiß gar nicht“, beginnt Herr von innerer Zerrissenheit zu flüstern, ich weiß gar nicht was ich sagen soll.

Meine Herkunft erlaubt es eigentlich nicht mich öffentlich zu äußern. Ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ich es mir verbiete, mich öffentlich zu präsentieren.

Ich lebe mehr nach innen, als nach außen – wenn Sie verstehen was ich meine“, und schaut dabei den Richter hilflos an.

 

„Möglicherweise war es ein Fehler mich auf den Kläger einzulassen. Aber durch die Herren Unruhe und Aufgaben fühlte ich mich gut aufgehoben.

Ich selbst kenne sehr gut die Zustände von Ausweglosigkeit und Überforderung. Wurden mir diese Eigenschaften doch mit in die Wiege gelegt.

 

Jahrelang hatten wir drei, plus Kläger uns gut vertragen. Uns nicht gegenseitig gestört.

Ganz im Gegenteil!

Wir fühlten uns bei dem Kläger sehr wohl.

Er ließ es uns zu keinem Zeitpunkt spüren, dass er mit uns unzufrieden war. Er lebte mit uns und wir mit ihm.

 

Ich für meinen Teil bin jetzt doch sehr erstaunt, dass wir drei uns, vor Ihnen Herr Richter, verteidigen müssen.“ 

 

„Ich danke auch Ihnen, Herr von innerer Zerrissenheit, für Ihre nachdenkenswerten Aussagen“, sagte der Richter und bat anschließend den Kläger um sein Schlusswort mit der Bemerkung: „Wenn Sie das jetzt alles so hören, was empfinden Sie dabei?“

 

„Hohes Gericht,

ich bin einigermaßen erschüttert über das was ich von den drei Herren auf der Anklagebank soeben hörte.

 

Mir fehlen fast die Worte.

 

Ich gehe soweit zu sagen, dass ich eigentlich mit den Angeklagten die Plätze tauschen müsste.

Denn nicht sie haben es verdient angeklagt zu sein, sondern ich.

 

 Herr Richter ich bitte Sie um Freispruch für die Angeklagten und Milde mir gegenüber“.

 

Der Richter schmunzelte und verkündigte mit krausgezogener Stirn das Urteil:

 

„Im Namen der Gerechtigkeit ergeht folgendes Urteil:

Die drei Angeklagten werden freigesprochen.

 

Begründung:

Den Herren Unruhe, Aufgaben und von innerer Zerrissenheit kann kein Fehlverhalten nachgewiesen werden.

Sie haben gemäß ihrer Berufungen gehandelt.

Seitens des Klägers erfolgte keine Gegenwehr, so dass für die Angeklagten kein Grund bestand sich aus dem Wirkungskreis des Klägers zu entfernen.

 

Im Gegenteil.

 

Der Kläger hatte durch sein Verhalten immer wieder die Daseinsberechtigung der Herren unter Beweis gestellt.

 

Nach Rechtslage kann den Angeklagten keine boshafte Absicht unterstellt oder gar nachgewiesen werden.

 

Den desolaten Zustand des Klägers hat er allein zu verantworten.

 

Die Angeklagten sind ab sofort freie Persönlichkeiten und der Kläger trägt allein die Kosten, sprich Verantwortung, des Verfahrens.

 

Im Übrigen, so fragte der Richter zum Schluss den Kläger, „im Übrigen, wie heißen Sie eigentlich?“

 

„Eigenverantwortlich“ Herr Richter, „Eigenverantwortlich“.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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