Anke Ritter
Die letzte Hoffnung
Es ist die Zeit zwischen Nacht und Tag. Eine Zeit, in der die Geister der Nacht mit letzter Kraft seltsame Träume an die Schlafenden schicken. Eine Zeit, in der das Unterbewusstsein schon den neuen Tag wahrnimmt, in der die Schatten des Schlafs abgestreift werden.
Die Sonne geht gerade auf, ihre Strahlen spiegeln sich im träge dahin fließenden Red Rock River, die Vögel zwitschern lautstark, die Stadt erwacht. Am Stadtrand, gleich hinter den schmutzigsten Docks am Hafen, ist schon Bewegung. Dort steht der Galgen. Der Sheriff hat einen Verurteilten an seiner Seite. Der Verurteilte soll hängen. Bei Sonnenaufgang.
Es stimmt, er ist ein Pferdedieb und er wusste, mit welcher Gefahr er spielte. Er wusste genau, dass wenn er mal erwischt würde, dass er dann hängen müsste. Aber diese Möglichkeit hat er nie in Betracht gezogen, schließlich war er noch jung und er war schnell. Und nun ist es passiert. Ausgerechnet in Wyoming, nicht weit von hier war er aufgewachsen, am Red Rock River. Er fragt sich, was er falsch gemacht hat, wie ist der Sheriff so schnell auf seine Spur gekommen.
Er sieht nicht, dass nur wenige Leute gekommen sind, um sich am frühen Morgen dieses Schauspiel anzuschauen. Er geht seine letzten Schritte, rauf zum Galgen. Die Hände sind ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, er schaut auf seine Schuhe. Tränen der Angst rollen lautlos an seinen Wangen herunter. Aber er geht, er setzt einen Fuß vor den anderen, bis er genau unter dem Seil steht.
Der Henker steht hinter ihm und legt ihm die Schlinge um den Hals, während ein Priester an seiner Seite leise aus einer Bibel die Bergpredigt liest. Er weiß, dass er auf einer Falltür steht, seine Knie zittern, er weiss, dass diese Falltür auf das Zeichen des Sheriff geöffnet wird und . . .
er fällt . . . die Falltür ist aufgeklappt worden . . . der Strick hält nicht – er reißt . . . er fällt durch bis auf den Boden. Innerhalb einer Zehntelsekunde realisiert er, was passiert ist. Der Sheriff und seine Leute stehen da, mit offenem Mund. Er weiß nur eins, jetzt muss alles schnell gehen. Schnell springt er auf die Beine und spurtet in Richtung Fluss. Das Schilf am Ufer zerkratzt seine Arme und sein Gesicht während er mit großen Schritten, die Hände immer noch auf dem Rücken, hindurch läuft. Es schmerzt, aber er freut sich darüber, er lebt, er könnte es schaffen. Mit einem Hechtsprung springt er in die Fluten. Wie gut, dass er so hervorragend schwimmen kann, er kennt sich hier aus, er weiß wo er hin schwimmen muss und wo er wieder an Land gehen kann.
Ein paar Meter weiter im Fluss taucht er wieder auf, schaut sich um, sieht wie die Leute schon am Ufer stehen und auf ihn zeigen. Er weiß, dass er es schaffen muss. Der Fluss wird ihn schnell mit der Strömung weiter tragen, er muss nur immer wieder tauchen. Er taucht, er schwimmt ins Schilf, am anderen Flussufer, er schaut zurück. Er sieht die Leute noch und weiter hinten kommt auch schon der Sheriff mit Hunden. Ein paar Fischer sind dabei und lösen ihre Boote. Langsam bekommt er Panik. Das Wasser ist kalt, er muss einfach weiter, er darf sich nicht mehr umblicken. Mit aller Kraft zerrt er am Seil, das seine Hände fesselt. Das Wasser hilft ihm, seine Arme und Hände sind glitschig, er kann das Seil abstreifen. Er hört das klatschen der Paddel, er hört die Hunde bellen, die mit dem Sheriff zusammen schon auf einem Fischerboot sind. Er stößt sich wieder ab . . . und taucht . . . nun aber schnell . . . und vorsichtig . . . und möglichst weit weg . . . und . . .
er fällt . . . die Falltür ist aufgeklappt worden, der Strick ist richtig bemessen, der Pferdedieb fällt, das Genick bricht mit einem lauten ´KNACK`.
In der Stadt erwachen die Menschen und beginnen einen neuen Tag, mit Arbeit, mit Kraft, mit Liebe, mit Glauben . . . und mit HOFFNUNG.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2007.
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