Gabi Mast

Ich nehm die Glatze

Das Familienfest hatte seinen Höhepunkt erreicht; alle redeten von ihren Krankheiten und den vorhergegangenen Untersuchungen. Brigitte versuchte, die Einstichlöcher ihrer Akupunkturbehandlung zu erklären, Tante Klara stöhnte über das Brennen nach und während des Katheters und Opa schilderte begeistert die Folgen seines Einlaufs. Kurts werte Gattin erzählte von dem Reizdarmsyndrom, über das sie neulich in ihrer Frauenzeitung gelesen hatte und dessen Symptome sie auch schon des öfteren bei sich selbst festgestellt hatte.
„Lass’ das ja untersuchen“, riet Brigitte.
„Meinst du?“
„Na klar. Mit dem Darm ist nicht zu spaßen.“
„Du hast recht. Gleich morgen lass’ ich mir einen Termin geben.“
Nur Kurt konnte da nicht mitreden und machte demzufolge offenbar eine recht gelangweilte Miene. Eigentlich sollte er froh sein ob seiner robusten Gesundheit; schließlich blieben ihm bisher alle diese Leiden erspart.
„Und bei dir, Kurt? Alles in Ordnung?“ wollte Tante Klara wissen.
„Jawoll, ich bin kerngesund.“
„Von wegen kerngesund“, keifte Kurts Gattin hämisch, „der hat bloß Schiss vorm Doktor.“
„Red’ nicht so’n Mist.“
„Das ist kein Mist. Du warst noch nie bei ‚ner Untersuchung.“
„Wozu auch? Wenn mir nichts fehlt, brauche ich auch nicht zum Arzt.“ Das hätte Kurt nicht sagen dürfen, denn nun fiel die ganze Verwandtschaft geschlossen über ihn her.
„So ein Arztbesuch ist doch nicht schlimm...“
„Wer wird denn Angst haben vor so ein bisschen Blutabnahme...“
„Du bist verrückt...“
„Du setzt deine Gesundheit aufs Spiel...!
„Das ist gefährlich...“
„Du weißt nicht, was du tust. Das kann dir einen frühen Tod bescheren...“
„Denk’ doch an deine Familie...“ Und... und...und.
Kurt konnte es nicht mehr hören. Keineswegs wollte er sich hier als Feigling hinstellen lassen. Er und Angst haben, pah. Am Dienstag beim Tennisspielen würde er sich bei Dr. Maurer, den er von der Mannschaft kannte, anmelden.

Kurt war überrascht, was in einer Arztpraxis alles los war. Das Publikum hier war noch weitaus kompetenter als seine ganze Verwandtschaft zusammen; hier erfuhr er binnen der viertelstündigen Wartezeit nicht nur von der Existenz von mindestens dreimal so vielen Krankheiten wie auf der Feier am Sonntag; die Patienten hier berieten sich gegenseitig auch äußerst kompetent über die Behandlung derselben.
Kurt füllte indessen den ihm vorgelegten Fragebogen aus. Auch, wenn er sich nicht ganz sicher war, dass es in seiner Familie keinerlei Geisteskrankheiten gab, verneinte er die Frage. Seine Gattin und ihre Schwester Brigitte waren ja schließlich auch nicht mit ihm verwandt.

Dr. Maurer freute sich, seinen Mannschaftskollegen auch mal beruflich kennen zu lernen und untersuchte ihn auf Herz und Nieren. Kurt lernte jeden Apparat kennen, den die Arztpraxis besaß, jede der Arzthelferinnen durfte ihm entweder einen seiner Körpersäfte abnehmen, ein Bild von einem seiner Organe machen oder aber irgendeinen Wert bestimmen. Die Bestandsaufnahme des Kurt B. dauerte fünf Stunden und endete mit einem erneuten Termin bei Dr. Maurer in der kommenden Woche.


Wieder begrüßte der Arzt seinen Patienten sehr freundlich.
„Und, was haben ihre Untersuchungen ergeben?“
„Na ja, soweit alles in Ordnung.“
„Was heißt da soweit...? Mir fehlt doch nichts?“
„Na ja, da und dort ein paar leicht überhöhte Werte...“
„Und was hat das zu sagen?“
„Eigentlich nichts?“
„Also, dann ist doch alles in Ordnung. Dann kann ich ja wieder gehen.“
„Moment noch, Herr B. Wir brauchen noch eine Diagnose.“
„Eine Diagnose? Wozu denn das?“
„Für die Versicherung. Ich muss eine Diagnose auf dem Krankenschein vermerken.“
„Auch, wenn ich gesund bin?“
„Na ja, immerhin haben wir sie auf Herz und Nieren untersucht. Da kann ich schlecht –ohne Befund- draufschreiben. Immerhin gibt es ein paar Auffälligkeiten, die man behandeln kann.“
So langsam dämmerte es Kurt, wie seine Verwandtschaft zu all ihren Krankheiten kommt.
„Verstehe. Und was bitte sollte man bei mir behandeln?“
„Na, ihr Cholesterinwert ist etwas zu hoch.“
„Cholesterin? Wozu braucht man das?“
„Zum Denken. Das Gehirn besteht bis zu einem Fünftel aus Cholesterin.“
„Dann soll ich also mein Denkvermögen behandeln lassen?“
„Nein, es ist nur so, zuviel Cholesterin kann zu Herz- und Kreislauf-Erkrankungen führen.“
Ob deshalb die Menschen zu wenig denken? Kurt wusste es nicht. Jedenfalls entschied er sich:
„Nein, an meinem Cholesterin behandeln wir nichts.“
„Wie sie meinen. Und was ist mit Ihrer Knochendichte?“
„Was soll damit sein?“
„Na ja, ihre Knochen schwinden.“
„Meine Knochen schwinden? Dass ich nicht lache. Ich jogge zweimal die Woche und spiele mindestens einmal Tennis, wie Sie wissen. Können Sie mir sagen, wie das mit verschwundenen Knochen gehen soll?“
„Na ja, es ist so, dass bei jedem Menschen ab 30 die Knochen schwinden.“
„Na also, dann ist das doch normal. Bin schließlich 45.“
„Osteoporose kann aber zu Knochenbrüchen führen.“
„Herr Doktor, ich hatte schon als Kind beide Arme gebrochen. Als meine Knochen noch nicht geschwunden waren. Verschonen Sie mich also mit Ihrer Oster...“
„Osteoporose.“
„Sag’ ich doch. Ich fürchte, das wird nichts mit Ihrer Diagnose, Herr Doktor.“
„Keine Angst, wir finden schon noch was.“ Dr. Maurer hatte da so ein spitzbübisches Lächeln aufgesetzt...
„Sagen Sie, wie sieht’s denn aus mit Ihrer Lust?“
„Welcher Lust?“
„Na, Sie wissen schon...“
„Wie, Sie meinen...? Nee, nee, Herr Doktor, da ist alles in Ordnung.“ Entrüstet schüttelte Kurt den Kopf.
„Wirklich? Wie oft ist das denn in Ordnung, wenn ich fragen darf? Es ist nur... es gibt in manchen Fällen die Möglichkeit, Viagra auf Rezept...“
Mit Kurt war allerdings auch diesbezüglich nicht zu reden. ...Dieser Doktor hat vielleicht Nerven. Gewiss, er hätte seine Diagnose, und ich hätte meine Lust. Aber was nützte ihm mehr Lust mit derselben Frau?
„Danke der Nachfrage, Herr Doktor, aber diesbezüglich ist bei mir wirklich alles in bester Ordnung.“
Mensch, dieser Kurt war aber ein verdammt sturer Bock. Wie konnte man sich nur so mit Händen und Füßen gegen eine Behandlung wehren. Schließlich wollte Dr. Maurer ihm doch nur helfen. Gewiss, Kurt B. hatte sich in den Kopf gesetzt, kerngesund zu sein. Aber das ist nun mal medizinisch nicht möglich. Das musste er schon noch einsehen. Dr. Maurer grübelte, wie er seinem Patienten das klar machen konnte. Hatte er nicht neulich auf irgendeinem Beipackzettel etwas von einem Verweigerungssyndrom gelesen? Eine letzte Chance sollte dieser Kurt B. noch bekommen. War er doch schließlich sein Mannschaftskollege. Also wollte ihn Dr. Maurer nicht in Richtung Psychatrie diagnostizieren, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
„Ich sehe, Ihnen gehen langsam die Haare aus.“
„Ja und, ist das jetzt auch schon krankhaft?“
„Na ja, nicht direkt, aber...“
„Aber?“
„Es könnte ja sein, dass Sie das belastet. Dass Sie Depressionen kriegen, Sie verstehen?“
„Und dann?“
„Es gibt da hervorragenden Medikamente.“
„Gegen die Glatze?“
„ Nein. Gegen die Depressionen.“
„Ich soll ständig so’n Psychozeugs nehmen?“
"I wo, nur, wenn die Depressionen kommen.“
Da Kurt noch niemals an einer solchen Depression gelitten hatte, erkannte er flugs eine einfache Lösung, aus dieser Nummer halbwegs heil heraus zu kommen. Schnell willigte er ein:
„Also gut, ich nehm’ die Glatze.“
Beruhigt nahm Dr. Maurer seinen Stift und vermerkte eine „larvierte Depression aufgrund beginnender Calvitis“.
Zuhause angekommen, wurde Kurt bereits erwartet von seinen mitfühlenden Verwandten:
„Und? Was hat der Arzt festgestellt, Kurt?“ Wortlos hielt der seinen Lieben den Durchschlag mit der Diagnose hin. Bewundernd wurde Kurt in den Kreis der Leidenden aufgenommen. Mit ernster Miene schilderte er seine fatale Krankheit und deren mögliche Folgen. Wie gut, dass sie so frühzeitig erkannt wurde! Die Verwandtschaft erkannte den Patienten von nun an als einen der ihrigen an.
Und Kurt war nun doch froh, dass Dr. Maurer eine so passende Krankheit für ihn gefunden hatte. Man lebt einfach gesünder, wenn man seine Krankheit kennt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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