Rainer Tiemann

Was nun?

Glücklich und ausgelassen kehrte er heute nach Hause zurück. Was war nur schuld an diesem neuen Gefühl, das er schon lange nicht mehr zu kennen glaubte?

Als er mit sich und seinen Gedanken allein war in seinem Zimmer, das kalt und alles andere als einladend wirkte, versuchte er, sich dessen bewusst zu werden. Gedankenverloren stellte er seinen Wecker, um am nächsten Tage pünktlich die Kirche besuchen zu können. Was - schon fast 3 Uhr? Hoffentlich habe ich nicht die Eltern und Geschwister geweckt, sagte er zu sich selbst, um dann wieder den vergangenen Tag, diesen unvergesslichen, ereignisreichen und doch, stellte er fest, wiederum doch ereignislosen Samstag vor seinem geistigen Auge vorüber laufen zu lassen.

Schnell entkleidete er sich, wusch sich gründlich und bemerkte, dass sich auf seinem Gesicht schon wieder ein Anflug grau-blauer Bartstoppeln abzeichnete. Er löschte behutsam das Licht und begab sich zu Bett, dessen Federn ihn bald wohlig umschmiegten - warm und weich wie ein Mädchenkörper.

Der Tag hatte begonnen wie so viele: früh war er zu seiner Arbeitsstelle gefahren, hatte um 17 Uhr frei und fuhr zurück nach Hause, um zu essen, wie immer mit der Linie 71. Doch der Abend rückte näher und - nun hatte er sie wieder gesehen, hatte sie angesprochen, mit ihr getanzt. Heute, wo er allein, nur mit seinem besten Freund zum Tanzen gegangen war - ohne seine Verlobte.

Er hatte sie entdeckt inmitten des Gewühles sich eng und fest aneinanderschmiegender, heißer Menschenleiber, im Halbdunkel der schwach erleuchteten Tanzfläche. Erst erkannte er sie nicht - sie hatte ihre Frisur geändert, ihre Gesichtszüge waren reifer geworden - doch dann sah er in ihre Augen, mandelförmig und grau-grün.

Er nickte ihr zu. Sie erwiderte seine unbeholfene Bewegung mit diesem Lächeln, das ihn fortriss, das ihn bewusst werden ließ, dass er sie noch immer liebte. Rasend und wie toll hämmerten seine Schläfen. - Sie liebst du, sie und nicht ...

Damals war er mit ihr zusammen gewesen, als er noch die Schulbank des ehrwürdigen Gymnasiums drückte. Damals trug er voll Stolz ihre Tasche, die Schultasche seiner Freundin vom Mädchengymnasium. Zum ersten Mal war er verliebt, unbeschwert und glücklich. Wie schön war sie doch, die gute alte Pennälerzeit!

Doch dann kam die Zeit des Studiums. Er sah sie weniger und weniger... und vergaß sie. Er sprach damals zwar von ewiger Treue und unendlicher Liebe, doch noch kannte er nicht den Spruch "Aus den Augen, aus dem Sinn".

Nun aber sah er sie wieder und fühlte, dass er sie liebte, sie nur sie, obwohl er sie jahrelang nicht gesehen. Heute aber war sie ihm begegnet, er hatte mit ihr gesprochen, mit ihr getanzt und gefühlt, dass auch sie ihn noch immer mochte. Es war so wie damals. Als sie ihm dann sagte, sie liebe ihn noch immer, war er glücklich und innerlich zerschlagen zugleich; denn er war verlobt und würde in Kürze jemanden heiraten, der ihm nichts gab, als eine animalische Liebe, die er nun verabscheute. Jetzt wusste er es genau. Zärtliche, aber auch platonische Liebe, unschuldig und rein, machte ihn glücklich, aber diese, die seiner zukünftigen Frau?

Die Stunden mit ihr waren vergangen wie im Fluge. Und dann brachte sie ihn noch zum Bus. Er fuhr heim und war nun allein in seinem kalten Zimmer unter der wärmenden, kuscheligen Decke.

Doch die Kälte des Zimmers durchdrang die Wärme des Bettes, legte sich auf sein Herz und ließ ihn erschauern: Es gibt kein zurück, gibt kein zurück, kein zurück - zurück!


RT 2006

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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