Maria Peters

Die Legende lebt

„Drachen sollen Legenden sein?“, rief ein braunhaariger Junge empört und erhob sich dabei von seinem Hocker. „Das ist das Dümmste, was ich je in meinem bisher kurzen Leben gehört habe!“
„Aber, Drake, wenn ich es dir doch sage.“, entgegnete ein älterer Mann. „Niemand hat je einen Drachen gesehen. Das sind alles nur Märchen, die man euch kleinen Kindern erzählt.“
„Pah!“, protestierte der Junge namens Drake erneut. „Das ich nicht lache. Drachen sollen nicht existieren? Wenn das wahr ist, dann will ich nicht länger mehr hier leben!“
Der alte Mann stand auf, blickte ihm jedoch noch einmal tief in die Augen.
„Drake, du jagst Fantasiegebilden nach. So etwas wie Drachen und Elfen gibt es nicht. Nicht in dieser Welt. Doch wenn du mir je beweisen kannst, dass ich mich geirrt habe, dann glaube mir, erfülle ich dir jeden Wunsch!“
Drakes Augen verengten sich. Schließlich folgte ein schelmisches Lächeln.
„Jeden Wunsch?“, wiederholte er noch einmal. „Wahrhaftig jeden?“
„Alles, was in meiner Macht steht, mein Junge.“, bestätigte der Alte noch einmal und lachte kurz auf. „Wenn mich mein altes Auge nicht trügt, dann sehe ich in deinem 17-jährigen Gesicht noch immer den Jungen, den ich dort schon vor 10 Jahren gesehen habe!“
„Ach, sei still!“, grummelte Drake und schob den Hocker näher an den Tresen, an dem sie beide gesessen hatten. „Ich bin viel männlicher, als du es dir vorstellen kannst.“
„Oh, ja. Sogar das glaube ich dir. Aber die Sache mit den Drachen“, er wedelte drohend mit seinem Finger, „da lasse ich mich nicht beirren. Ich bleibe dabei: Es hat sie nie gegeben, es gibt sie nicht und es wird sie auch niemals geben!“
Drake wartete, bis der alte Mann das Lokal verlassen hatte, erst dann setzte er seine siegessichere Miene auf und murmelte leise vor sich hin: „Und es gibt sie doch! Es muss sie einfach geben!“
„Wenn du dich da mal nicht irrst!?“, ertönte kurz darauf eine tiefe Stimme hinter ihm, so dass er herumfuhr.
Der Wirt stand hinter ihm, mit seiner typischen Sorgenfalte auf der Stirn.
„Stürz dich nicht immer in Sachen hinein, wo du mit keiner Genauigkeit sagen kannst ob, oder ob nicht. Denn fallen kann man überall. Vergiss das nicht.“
„Ja, ja, Jenks.“, entgegnete Drake abwimmelnd. „Es macht aber Spaß sich mit dem alten Mann zu messen. Ich kenne ihn nun schon seit ich Denken kann und niemals lag er falsch. Irgendetwas muss es geben, das er nicht weiß. Und vielleicht kriege ich ja mit der „Drachen-Geschichte“ das, was ich will.“
„Kinder.“, grummelte Jenks kopfschüttelnd und schlenderte um den Tresen herum. „Müsst ihr denn immer das letzte Wort -“
Er brach ab und blickte an Drake vorbei. Irgendetwas schien Jenks zu beunruhigen, denn er stellte das Glas ab und seine Sorgenfalte kehrte wieder. Drake, der erst verwundert auf das Glas und dann auf die tiefe Furche auf Jenks’ Stirn sah, ging letztlich den Blick des Wirtes nach.
Er entdeckte eine Gestalt in der hinteren Ecke des Lokals, in der vor kurzem noch niemand gesessen hatte.
„Drake, hast du gesehen, wie du Tür aufging?“, fragte Jenks leise, doch Drake antwortete kopfschüttelnd.
Nein, das hatte er wirklich nicht gesehen. Er hatte noch nicht einmal einen kühlen Windhauch gespürt, obwohl es draußen schon merklich Herbst wurde.
„Warte hier. Ich bin gleich zurück!“, versicherte Jenks ihm kurz und näherte sich dann dem neuen Besucher.
Drake beobachtete die beiden aus dem Augenwinkel.
Der Fremde trug einen Hut mit langer Krempe, die er sich bis ins Gesicht gezogen hatte. Leider konnte man dadurch noch nicht einmal erahnen, wie er aussah. Nicht zu vergessen seine schmutzigen Stiefel, die eine lange Spur von Moder bis zu seinem Platz hinterlassen hatten. Oder sein zerschlissener Mantel, der sicher auch schon einmal sonnigere Zeiten gesehen hatte. Ja, allem in allem konnte man sagen, sah er aus, wie ein alter Wanderer. Ein mysteriöser, alter Wanderer, wie Drake es empfand.
Plötzlich zuckte Drake zusammen: Der Wanderer hatte kurz zu ihm geblickt, auch wenn es sich dabei um nicht einmal eine Sekunde gehandelt hatte. Und auch Jenks blickte kurz darauf zu Drake. Dann schien er knapp zu nicken und näherte sich letztlich wieder dem Tresen.
Drakes nicht vorhandene Muskeln waren plötzlich bis ans Äußerste angespannt. Er konnte sich nur schwer gegen den Drang einfach wegzulaufen wehren. Gedanken begannen in seinem Kopf zu kreisen und ließen ihn ein leichtes Schwindelgefühl empfinden, das jedoch sofort zur Übelkeit wurde, als er Jenks’ schwere Hand auf seiner Schulter spürte.
„Drake.“, fing dieser leise an. „Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber der Fremde verlangt nach dir.“
Noch immer gegen seine Übelkeit ankämpfend, kniff Drake die Augen zusammen und atmete einmal tief ein.
„Mich?“, fragte er schließlich ruhig und blickte an Jenks vorbei, zu dem hinteren Tisch, an dem der Fremde noch immer regungslos saß. „Was will er?“
Jenks schüttelte mit dem Kopf und legte einen Finger an die Lippen.
„Ruhig!“, bat er den Jungen und kam ein Stück dichter. „Seine Gründe wollte er nicht nennen, aber er konnte mir deinen Namen nennen. Und gleichzeitig behauptete er, noch nie in diesem Dorf gewesen zu sein.“ Er machte eine kurze Pause und senkte seine Stimme dann weiter. „Wenn du mich fragst, dann hat das einen Haken. Geh am besten nicht zu ihm. Geh nach Haus. Ich werde ihm sagen, dass deine Eltern nach dir verlangt haben.“
Drake schwieg und blickte tief in Jenks’ Augen. Wieder einmal konnte man seine Sorge spüren. Sein Händedruck wurde ebenfalls mit jeder Sekunde stärker, so dass er sich letzten Endes geschlagen gab.
„Gut, richte ihm aus, dass es spät ist.“, murmelte er halb enttäuscht, halb erleichtert. „Ich gehe jetzt nach Haus.“
„Guter Junge. Geh!“
Jenks klopfte ihm unmerklich auf die Schultern und versetzte ihm damit einen leichten Stoß in Richtung Tür. Ohne den Fremden noch einmal zu begutachten, marschierte Drake hinaus auf die Straße.
Drake selbst spürte nicht, wie er mit jedem weiteren Schritt schneller wurde, bis er irgendwann in einen Laufschritt verfiel. Erschöpft hielt er kurz inne und schaute noch einmal zurück.
Es waren gerade einmal zwei Minuten vergangen, seit die Tür hinter ihm zugefallen war, doch ihm kam es bereits vor, wie eine halbe Ewigkeit.
Sicher nur ein Missverständnis, dachte er sich wortlos, konnte sich jedoch nicht von dem Anblick der Lokalfenster lösen, in denen noch immer das schummrige Licht erkennbar war.
Es waren vielleicht weitere zwei Minuten, die er so verharrte, bis ein leises Rascheln ihn zusammenfahren ließ.
„Du wolltest also nicht meine Gegenwart genießen?“, ertönte eine Stimme hinter ihm, die so bedrohlich und markerschütternd war, wie nie eine zuvor. „Dabei bat ich den Wirt doch, dich zu mir zu bringen!“
Drake wandte sich auf dem Absatz um und erblickte den Mann aus dem Lokal nur wenige Meter hinter sich, an eine Steinmauer gelehnt. Er hatte die Arme verschränkt und sah zu Boden.
„Was hat dich aufgehalten? Haben deine Eltern nicht nach dir gerufen?“, fragte der Fremde weiter. „Solltest du nicht schnell nach Hause laufen? Oder hattest du einfach nur Angst?“
Drake fühlte sich ertappt und setzte einen Schritt zurück.
„Wer sind Sie?“, fragte er schließlich ängstlich, wenn auch laut genug, um mutig zu klingen.
„Lykan.“, antwortete der Fremde und schob die Krempe seines Hutes hinauf. „So nennen mich jedenfalls meine Gefährten.“
„Lykan?“, wiederholte Drake. „Ich kenne keinen Lykan.“
„Richtig. Aber das heißt nicht, dass ich dich nicht kenne.“, entgegnete Lykan und trat nun ins Licht der Straßenlaternen. „Also, hast du vielleicht wenige Minuten Zeit?“
Drake antwortete nicht. Eher war er damit beschäftigt sein Gegenüber zu mustern. Im Schein der Laternen war eine lange Narbe sichtbar, die sich über sein linkes Auge erstreckte. Auch konnte Drake nun seine dunkle Haut erkennen. Oder sein tiefbraunes Haar, das ihm locker ins Gesicht hing. Seine ebenfalls braunen Augen hatten ihn fixiert, wie ein Raubtier seine Beute. Er wartete.
„Nun gut.“, gab Drake plötzlich nach. „Wenige Minuten.“
„Fein.“, rief Lykan und kam weiterhin näher, worauf Drake zurückwich. „Keine Angst, mein Junge. Stell dir vor, ich bin ein alter Landstreicher. Was soll ich dir also bitte tun wollen?“
„Das“, sagte Drake mit hochgezogenen Augenbrauen, „kann ich mir bei besten Willen nicht vorstellen!“
„Auch gut. Dann nicht, aber ein wenig Vertrauen musst du mir entgegenbringen, ansonsten funktioniert das alles nicht.“, bat Lykan erneut.
Drake nickte widerwillig.
„Lass uns in die Seitengasse gehen. Dort sind wir vor ungewünschten Gästen sicher.“, schlug er und deutete auf eine nicht beleuchtete Gasse, die sich zwischen den zwei kleinen Hauptwegen lag.
Abermals gab Drake sein Einverständnis und folgte ihm, als er sich in Bewegung setzte.
In vollkommener Dunkelheit bereitete ihm die Anwesenheit seines Gegenübers noch mehr Unbehagen, als er schon im Laternenschein verspürt hatte. Und doch riss Drake sich zusammen.
„Also, was will ein „Landstreicher“ von einem 17-jährigen Jungen, wie mir?“, brachte Drake das Gespräch in Gang. Lykan jedoch räusperte sich nur. Seine ganze Präsenz schien sich zu verändern. Zwar konnte Drake seine Augen nicht sehen, dennoch spürte er die Ernsthaftigkeit, die plötzlich die Umgebung erfüllte.
„Das Tribunal schickt mich.“, begann Lykan nach wenigen Sekunden des Schweigens. „Vor einst drei Monaten begann ich meine Reise, um den zu finden, der die Welt vor dem Dunkel retten könnte!“
Drake zog seine Augenbrauen erneut hinauf und legte seine Stirn in Falten. Trotz dessen wagte er nicht Lykan zu unterbrechen. Er fuhr fort:
„Vor genau einem halben Jahr begann der vielleicht unvermeidliche Krieg. Noch hat er nicht ernsthaft begonnen, aber das Dunkel rüstet sich bereits. Bevor es jedoch zu einem Gefecht kommt, entschied das Tribunal, muss etwas geschehen! Etwas von Größe. Etwas, was uns alle bewahrt. Jemand, der alle Fertigkeiten eines guten Kriegers vereint, musste her, so verlangt es das Tribunal.“
Erneut schwieg Lykan kurz. Dann ein leises Räuspern.
„Also, Gefährte, bist du so weit?“, fragte er dann und beinahe wären Drake die Knie weggesackt.
„Ich?“, entfuhr es ihm überrascht. „Soll das ein Scherz sein? Wenn ja, dann finde ich das wahrlich nicht witzig.“
„Krieg ist auch nicht witzig.“, knurrte Lykan und griff nach Drakes Hand. „Es ist keine Frage, eher ein Befehl. Wenn das Tribunal nach dir verlangt, dann hast du dich zu beugen.“
„Nu, warte doch mal!“, presste Drake atemlos hervor und versuchte seine Hand aus dem eisernen Griff Lykans zu befreien. „Es ist nur so… ich bin in meinem 18. Lebensjahr, habe noch nie ernsthaft über das Wort „Krieg“ nachgedacht, besitze keine Kraft und außerdem frage ich mich, was für ein Tribunal?“
Lykans Griff löste sich leicht, auch wenn er ihn noch immer festhielt.
„Das Tribunal der Geflügelten.“, murmelte er schließlich. „Die Vier Großen, die diesen Teil im Westen bewachen, als auch die Teile im Norden, Osten und Süden. Aber das ist nicht von Wichtigkeit.“
„Wenn ich für etwas kämpfen soll, dann will ich auch wissen, wofür.“, sprudelte es beleidigt aus Drake heraus. „Ich habe kein Kriegerblut in den Adern, das mich dazu bringt, mein Leben einfach wegzuwerfen. Ich bin ein Junge. Ein ganz normaler Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hat.“
„Drake!“, rief Lykan ein wenig energischer. „Es geht um die Zukunft der Erde. Willst du wirklich so egoistisch handeln? Vielleicht bleiben dir noch 2 Jahre, um friedlich zu leben, dann wirst du mit ansehen müssen, wie alle deine Lieben hingeschlachtet werden. Willst du das wirklich?“ Lykan machte eine kurze Pause und beobachtete Drake, wie er zu Boden blickte. „Sicher, es ist viel verlangt. Und hätte ich einen anderen Jungen gefragt, würde dieser sicher genauso reagieren. Aber, ich bitte dich, denk darüber nach. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Zu lange schon habe ich nach dir gesucht. Vergiss das nicht.“
„Ja, ich verstehe.“, sprach Drake erschüttert, dennoch wusste er nicht wirklich, was er dazu sagen sollte.
„Okay.“, gab Lykan schließlich auf. „Es bleibt noch viel zutun. Ich gewähre dir ein wenig Zeit, in der du über alles nachdenken kannst. Komme mit dir ins Reine. Wenn du so weit bist, werden wir dich holen.“
Lykan hatte sich erhoben.
„Woher willst du wissen, wann ich mir sicher bin?“
„Das, mein Junge, lass mal meine Sorge sein.“
Bevor er sich in Bewegung setzte, umschloss er noch einmal Drakes Hand und von einer Sekunde zur nächsten jagte ein Schmerzstoß den nächsten.
Drake zuckte zusammen und ging schließlich in die Knie.
„Was tust du?“, fragte er stotternd, doch Lykan antwortete nicht.
Das Gefühl von Übelkeit kehrte wieder, dann der Schwindel und schließlich wurde ihm schwarz vor Augen, wo sie sich doch gerade an die Finsternis gewöhnt hatten.
Er spürte noch, wie Lykan ihn sanft zu Boden gleiten ließ. Dann war seine Hand wieder frei, wenn auch der Schmerz noch immer in seinen Adern pulsierte.
Und schließlich nichts mehr…
 
„Wieder und wieder derselbe Traum!“, brummte Drake, als er in der Küche auf- und abging.
Seine Mutter hörte ihm angeregt zu, auch wenn sie gerade dabei war, dass Geschirr vom Mittag zu spülen.
„Ich frage mich langsam, ob ich nicht verrückt werde?“, platzte es schockiert aus Drake heraus.
„Schatz, beruhige dich! Es ist nur ein Traum, wie du selbst schon sagst.“, versuchte seine Mutter ihn zu besänftigen. „Menschen haben öfter so etwas. Es ist kein Grund verrückt zu werden. Glaube mir!“
„Ja, aber dann ist da immer wieder dieser Schmerz, Mutter. Immer wieder und er hört nicht auf. Selbst jetzt noch spüre ich ihn, als würde er in meiner Handfläche sitzen und darauf warten, dass ich zu einer Entscheidung komme. Vielleicht soll er mich wirklich daran erinnern, dass ich mich entscheiden soll.“
„Aber warum denn? Es ist ein Traum, Drake. Träume sind Träume. Deshalb nennt man sie so. Sie entstehen im Kopf und sind lediglich Produkte deiner Fantasie. Lass die Geschichten ruhen. Vielleicht hört der Traum bald von allein wieder auf.“
„Mutter, das sagst du so leicht.“, murrte Drake und ließ sich wieder auf einen der Stühle plumpsen. „Das ist so deprimierend. Was würdest du sagen, wenn man dich fragt, ob du an einem Krieg teilnehmen willst?“
„Nach deinem Traum würde ich dem zustimmen. Ich könnte nicht mit ansehen, wie man meine Liebsten hinrichtet. Auch wenn ich keine Kriegerin wäre, ich würde für mein Land kämpfen.“
„Also bin ich ein Verräter? Ich konnte mich in dem Traum einfach nicht entscheiden. Einerseits wollte ich helfen, aber andererseits bin ich noch nicht bereit zu sterben.“
„Niemand ist bereit zu sterben. Besonders nicht Kinder in deinem Alter. Ihr solltet noch nicht kämpfen. Aber, sieh doch mal, wenn du nicht sterben willst, wer sagt, dass du es musst? So wie du es mir nun schon einige Male berichtet hast, hat der Krieg noch nicht begonnen. Vielleicht wärst du in der Lage, die Situation auch ohne Kampf zu retten?“
„Das ist alles so ungewiss.“, verzweifelte Drake schließlich erneut und knallte seinen Kopf auf die Tischplatte. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht hätte ich mich für den Krieg entscheiden sollen. Zu helfen ist immer noch besser, als dumm herumzusitzen und darauf zu warten, dass man stirbt. So hätte ich einmal mein Leben allein in der Hand.“
„Vielleicht.“, gestand seine Mutter und setzte sich zu ihm. „Man kann einiges bewirken, wenn man nur will. Nur muss man wissen wie!“
„Ja, und genau das weiß ich nicht. Sollte ich, sollte ich nicht?“
„Schatz, das ist deine Entscheidung. Ich unterstütze dich bei allem was du tust!“
Lächelnd strich sie ihm durchs Haar und erhob sich. Gerade, als sie die Küche verlassen wollte, stand auch Drake auf. Sie wandte sich noch einmal um und bemerkte seine geballte Faust.
„Wenn du an mich glaubst, dann kann ja nichts passieren. Es ist zwar nur ein Traum, aber wenn ich ihn das nächste Mal träume, werde ich mich für den Krieg entscheiden. Vielleicht werde ich dann sehen, wie die Geschichte ausgeht. Immerhin erinnert sie mich genau an so etwas! Und vielleicht erfahre ich dann ja auch, wer die vier Geflügelten sind?“
Drake hatte gerade seinen Stuhl an den Tisch gerückt, als plötzlich von draußen laute Rufe zu hören waren. Er und seine Mutter sahen sich erschrocken an und stürmten schließlich zu den Fenstern.
Draußen rannten Kinder, Frauen, Männer und sogar die Alten aus ihren Häusern. Niemand wusste wohin er zuerst rennen sollte, denn überall drängelten sich die Umstehenden.
„Was ist das?“, fragte auf einmal Drakes Mutter und deutete auf etwas, das am Himmel zu sehen war.
Sechs dunkle Punkte waren zu erkennen, die mit beständiger Geschwindigkeit immer größer wurden. Sie hielten direkt auf Hokston zu.
Schnell war klar, dass diese Punkte der Grund des Chaos war, das langsam auszubrechen drohte.
Ein letztes Mal sahen Drake und seine Mutter sich an, dann stürmten auch sie hinaus, um sich der Menge der Umstehenden anzuschließen.
„Seit zwei Minuten sind dort diese Punkte am Himmel!“, berichtete die Tochter von Drakes Nachbarn und deutete mit ihrem Finger auf die Schatten, die langsam an Umrissen gewannen.
„Sind das Vögel?“, hörte Drake jemanden aus der Menge rufen und alle Blicke richtete sich auf das Ankommende.
Dann herrschte Stille, bis schließlich klar war…
„Nein, das sind keine Vögel!“, schrie jemand panisch. „Das sind geflügelte Monster. Verstecke sich, wer kann!“
Wie auf Kommando begannen alle Menschen auf den Straßen loszulaufen. Niemand achtete mehr auf die Umgebung. Kleine Kinder wurden umgelaufen und gingen fast in der Menge unter. Das Chaos war da!
Drake sah ein kleines Mädchen, das weinend nach ihrer Mutter schrie. Sofort waren die Wesen am Himmel vergessen, denn eine Gruppe hielt auf das Kind zu, die Blicke noch immer zum Himmel gerichtet.
Drake sprintete los.
Kurz bevor die Gruppe das Mädchen erreicht hatte, riss er sie zu Boden und warf sich schützend über sie.
Die Menschen überrannten Drake förmlich, wie eine Horde wilder Pferde.
Dann spürte er nur noch einen starken Windstoß, der die Bäume zum Biegen brachte. Und schließlich Stille…
Drake wagte es nicht, aufzublicken und doch wollte er es. In seinen Adern hatte das Blut unerwartet zu kochen begonnen. Vielleicht vor Aufregung, vielleicht vor Angst, vielleicht aber auch vor Neugier!?
Das Mädchen stieß sich von Drake los und rannte in Richtung Haus, in dem sie wohnte. Erst dann bemerkte Drake, dass er allein war.
Der plötzliche Andrang, der auf den Straßen kurzzeitig herrschte, hatte sich aufgelöst. Die Straßen waren so verlassen, wie seit langem nicht mehr.
Nur Drake und…
Er wandte sich langsam um und sah sich plötzlich 6 riesigen Wesen gegenüber, die wie Vögel auf den Dächern der Häuser thronten.
„Was –“, brachte Drake nur heraus und blickte sich zu allen Seiten um.
Alle schienen ihn zu beobachten, auch wenn er die Menschen nicht sehen konnte. Von sämtlichen Fenstern und Türen spürte er ihre Blicke, wie sie ihn prüfend durchbohrten.
„Drake!“, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme, wie Drake sie schon zu oft gehört hatte.
„Lykan?“, fragte er und widmete sich wieder den eben angekommenen Geschöpfen.
„Richtig, mein Junge. Ich freue mich, dass du uns nicht vergessen hast!“
Lykan, gekleidet in einem schwarzen, langen Mantel, erhob sich aus dem Sattel seines Wesens und sprang vom Dach des Hauses, auf dem es sich niedergelassen hatte, als wären die fünf Meter, die zwischen ihm und dem Boden lagen, nur ein kleiner Absatz!
Er kam mit schnellen Schritten näher und hielt nur wenige Schritte vor Drake.
„Du hast dich für den Krieg entschieden, damit für das Tribunal und gegen das Dunkel. Du kannst nicht ahnen, wie stolz die Vier Großen auf dich sind.“, murmelte er und wandte sich dann zu den vier größten, majestätischsten Wesen um, die stolz und graziös zu ihn hinab sahen.
Drake blickte ehrfürchtig zu ihnen hinauf. Er wusste nicht, was er zuerst empfinden sollte: Stolz, Angst oder doch einfach nur Dankbarkeit?
Alle vier ließen ihre kräftigen, mit Stacheln übersäten Schwänze durch die Luft kreisen. Ihre Flügel hatten sie dicht an ihren Körper angelegt. Die Köpfe hatten sie alle leicht gehoben, wie es sich für Könige oder Herrscher gehörte, doch bei ihnen wirkte es noch nicht einmal arrogant. Nicht zu vergessen ihre Pranken mit den schärfsten Krallen, die Drake je gesehen hatte. Oder ihre weißen, messerscharfen Zähne.
Ja, sie waren genau das, was Drake sich unter Drachen vorstellte.
„Ich sagte doch, nur weil man es nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht da sein muss.“, wiederholte Lykan seine einst gesagten Worte und klopfte Drake auf den Rücken.
„Ja.“, sprach Drake noch immer überwältigt. „Du hattest mit allem Recht.“
„Ich sagte doch, du sollst mir glauben.“, sagte Lykan noch einmal beleidigt. „Aber auch Misstrauen ist eine gute Eigenschaft. Sie kann dir im Krieg nur helfen.“
„Ja, der Krieg.“, fiel es Drake erneut ein und er wandte sich um.
Er sah seine Mutter in der Tür des Hauses stehen. Sie hatte Tränen in den Augen, auch wenn sie lächelte.
„Lykan?“, wandte er sich noch einmal an diesen. „Muss ich wirklich fort?“
„Drake. Du weißt, dass wir dich nicht zwingen, aber entschieden ist entschieden. Oder willst du deine Entscheidung rückgängig machen?“
Drake schwieg.
Er hörte die Schritte und Stimmen, die langsam wieder lauter wurden. Mit jeder Sekunde kamen mehr Menschen auf die Straße, um die riesigen Drachenwesen zu betrachten.
„Mein Junge, geh!“, vernahm er dann auch die Worte seiner Mutter. „Du bist alt genug, um mich zu verlassen. Versprich mir nur, dass du wiederkommen wirst, in welchen Krieg du auch ziehen magst!“
Drake wusste nicht, wie er reagieren sollte. Ohne Worte nahm er seine Mutter in den Arm.
„Und ich muss dir wohl einen Wunsch erfüllen?“
Drake fuhr herum und sah den alten Mann, mit dem er gewettet und den er nun endlich geschlagen hatte. Ein siegessicheres Lächeln konnte er sich nicht verkneifen.
„Kümmere dich um meine Mutter.“, waren seine einzigen Worte, bis er wieder zu Lykan ging. „Das ist mein einziger Wunsch, den ich habe. Pass auf sie auf.“
„Das, Bürschchen, werde ich mit Freuden tun!“
Einen kurzen Moment herrschte Stille.
Drake besah sich noch mal jedes einzelne Gesicht, jeden einzelnen Grashalm und jeden einzelnen Baum.
Dann nickte er Lykan zu.
„Wenn ich nicht packen muss, dann können wir los, wo auch immer die Reise hingehen mag.“, sagte er widerwillig.
„In ein Land, das du dir noch nicht einmal erträumen könntest.“, antwortete Lykan lächelnd und ging mit ihm zu den sechs geflügelten Wesen zurück.
Fast mit unmenschlicher Kraft sprang Lykan die fünf Meter wieder hinauf.
Dann ertönte ein Wort in einer alten Sprache, von der Drake noch nicht einmal etwas gehört hatte und plötzlich entfaltete einer der kleineren Drachen seine Flügel und ließ einen nieder, damit er sich an ihm festhalten konnte.
Schwerfällig hielt er sich an dem feinen Stoff fest, immer in der Angst ihn einzureißen und fand sich irgendwann auf dem Sattel des Drachens wieder.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, einen so harten Sattel unter sich zu spüren.
Geblendet von dem Licht, das sich in den Schuppen des Drachens reflektierte, blickte er noch einmal zu den Menschen, die er kannte und liebte.
Viele winkten ihm zu, bis er und die anderen sich schließlich in die Luft erhoben.
Wind peitschte um seine Ohren, bis er nicht mal mehr die Worte Lykans verstehen konnte, der direkt neben ihm flog. „Schön festhalten.“, war das einzige, was er von seinen Lippen ablesen konnte.
Drake wusste nicht, was ihn erwartete, aber etwas ließ ihn befürchten, dass er als ein anderer wieder in das Dorf Hokston zurückkehren würde. Als ein ganz anderer Mensch!

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Maria Peters).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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