Klaus-D. Heid

Der Augenblick

Es war nur unsere flüchtigen Blicke, die sich trafen. Augenblicke. In dem Moment, als wir uns begegneten, geschah etwas mit uns. Obwohl es nur Sekunden waren, lasen wir in unseren Gedanken. Kommunizierten. Fragten. Antworteten. Alles, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ich sehe Dich noch, wie Du auf der Rolltreppe des Kaufhauses nach unten fuhrst, während ich mich von der Rolltreppe nach oben befördern ließ. Du drehtest Dich nach mir um. Ich sah mich nach Dir um. Unsere Augen tauschten sich aus und stellten sich Fragen. Wer bist Du? Was tust Du? Wie bist Du? Was wird aus uns? Dann trennten sich unsere Blicke. Zurück blieb dieses seltsame Gefühl von Vertrautheit und Neugier, dieses unerklärliche Wissen voneinander und diese Sehnsucht nach Antworten.

Auf der II. Etage angekommen, ging ich erst ein paar Schritte, bevor ich nachdenklich stehen blieb. Dieses Gesicht. Dieses Gesicht! Dieses Gesicht...? Wem gehörte es? Warum habe ich diesen Augenblick so intensiv verspürt, wenn er doch nur einem Haschen nach Wind glich? Musste ich nicht Momente festhalten, die derart viel in mir auslösten?

Ich machte kehrt.

Wenn ich mich beeilte, würde ich sie vielleicht noch einholen können. Ich musste nur zusehen, dass ich mich durch die Massen von einkaufsgierigen Leuten kämpften, die sich nicht verstanden, weshalb ich mich an ihnen vorbeiquetschte. Sollten sie ruhig schimpfen. Ich musste dieses Gesicht noch einmal sehen. Warum, warum nur bewegte sich die Rolltreppen so unendlich langsam? Und warum waren gerade jetzt so viele Menschen unterwegs, um durchs Kaufhaus zu bummeln? Ich hab’s eilig! Bitte verzeihen Sie! Tut mir leid! Entschuldigung! War keine Absicht!

Ich hatte etwa die Hälfte Distanz mit der Rolltreppe zureckgelegt. Vielleicht war sie längst im Gewimmel der Leute verschwunden? Ob sie überhaupt einen Gedanken an mich verschwendete?

Das gab’s doch nicht...

Da war sie. Sie fuhr wieder rauf, während ich runter fuhr! Wieder trafen sich unsere Blicke. Noch intensiver. Erwartend. „Ich habe Dich gesucht!“ sagten ihre Augen. „Ich Dich auch...!“ antworteten meine Augen. Konnte es wirklich so sein, dass wir kein Wort miteinander wechselten – und doch ganz genau wussten, was wir uns sagen wollten? Oder war es doch nur ein Zufall? Nur ein Zufall?

„Warte oben auf mich... ich komme wieder rauf...!“ rief ich plötzlich laut hinter ihr her.

Ihr Gesicht lächelte. Sie nickte nur. Sie wusste, dass ich sie meinte und ich wusste, dass sie mich verstanden hatte. Die Leute vor und hinter mir, sahen mich misslaunig an. Niemand von ihnen ahnte, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte. Selbst wenn sie es gewusst hätten, wären sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um irgendetwas verstehen zu können.
Plötzlich war es vollkommen ruhig um mich herum. Ich hörte keine Stimmen mehr. Ich sah keine Menschen mehr. In meinem Kopf gab es nur noch... sie. Sie wartete auf mich. Das, was uns für einen Augenblick verbunden hatte, hielt uns also noch immer fest.

Kaum war ich unten angekommen, ließ ich mich von der gegenüber liegenden Rolltreppe wieder nach oben befördern. Ich sah sie von ganz unten. Sie blickte zu mir herunter und lächelte noch immer.

Sie wartete auf mich. Nur noch einen Augenblick – und ich war endlich bei ihr...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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