Norbert Wittke

Die Linde

 
Verachtungsvoll gehst du an ihr vorüber, an ihrem morschen
Stamm mit den vom Sturm zerzausten und geknickten Ästen.
Nachdem sie dem Verkehr weichen musste liegt sie achtlos
da und wartet auf ihren Abtransport von dem Orte, wo sie
viele Jahrzehnte verwurzelt stand.
 
Du würdigst sie keines Blickes mehr, denn du empfandest sie
nur als gefährliches Verkehrshindernis und hast nie über ihr
Leben nachgedacht. Du kannst dir einfach nicht vorstellen,
dass sie früher einmal bessere Zeiten gesehen hat.
 
Einstmals stand sie in der Mitte des kleinen Dorfes, aus dem
jetzt eine Großstadt herangewachsen ist. Jung, schön, aufrecht.
Ihre breite wuchtige Krone wachte schützend über Leben und
Tun der Bewohner. Vielleicht spielte schon dein Großvater
in ihrem mächtigen Schatten mit seinen Spielgefährten und
erkletterte den würdevollen Baum.
 
Die Linde überdauerte viele Generationen. Sie erlebte das Auf
und Ab der Menschen, sah die Kriege, in denen sie sich grund-
los zerfleischten, aus nächster Nähe an. Selbst die schweren
Bombenangriffe überstand sie ohne nennbaren Schaden. Sie
erlebte den Aufmarsch einiger Heere, sah wie die Menge den
einzelnen Herrschern zujubelte. Sie erlebte aus ihrer Perspektive
den Absturz, die Vernichtung und Wiederaufbau. Sie sah einige
Generationen heranwachsen, altern und sterben. War dort tag-
täglich den Launen der Natur ausgesetzt. Der saure Regen nagte
an ihrem massiven Holz. Die Stadt blühte auf. Der Autoverkehr
wuchs und brachte durch die Abgase Beeinträchtigungen für
sie mit.
 
Nun liegt sie da in einem verlassenen Winkel. Ein Stück Ge-
schichte fiel der Umweltverschmutzung durch ständig wachsenden
Verkehr zum Opfer. Da du nun ihre Geschichte gehört hast,
erweise ihr die letzte Ehre. Behalte sie in guter Erinnerung und
kämpfe in Zukunft um jeden Baum, jeden Strauch in deiner Stadt,
denen das gleiche Schicksal ereilen soll. Bete nicht die Technik an,
denn das größte Wunder ist und bleibt die Natur.
 
25.07.2007                    Norbert Wittke

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