Germaine Adelt

Die Gelegenheit

            Er hasste Fahrstühle. Besonders dann, wenn sie nicht leer waren. Mit fremden Leuten dicht gedrängt, musste er sich einer Technik anvertrauen, deren Versagen er immer wieder minütlich erwartete. Am Schlimmsten war das Schweigen der Leute. Besonders wenn man neu einstieg, kam man sich vor wie ein Aussätziger. Mit gesenktem Kopf traten dann alle zur Seite, um Platz zu machen, und schwiegen beharrlich. Er selbst hatte schon oft darüber nachgedacht, was man sagen, worüber man erzählen könnte. Aber die meisten erwiderten nicht einmal seinen Gruß. Oft wünschte er sich einen Fahrstuhlführer zurück wie den, von dem seine Großmutter immer erzählt hatte, oder die, die man aus den alten Schwarz-Weiß-Filmen kannte. Vielleicht wären die bereit, Gespräche anzufangen. Zumindest hätte man dann das Gefühl, wenigstens einen Menschen zu kennen. Aber letztlich war es auch egal.

            Also lief er die Treppe. Das förderte seine Kondition und er konnte so seiner Angst entfliehen, ohne sich dazu zu bekennen. Die letzte Panikattacke war zu peinlich, obwohl er damals allein im Fahrstuhl gewesen war. Was aber, wenn da Leute gewesen wären, die einen Krankenwagen oder gar die Jungs mit den weißen Westen geholt hätten.

            Am Ende hätte man ihn noch zum Therapeuten geschickt. Womöglich zu einem, bei dem man sich auf die Couch legen musste, um sich die Seele analysieren zu lassen. Dinge, die für ihn einem Kontrollverlust gleichkamen.

            In der vierten Etage hielt er kurz an um einmal leise durchzuatmen. Er wollte gerade weiter, als er ein leises Stöhnen hörte. Da er bisher eher lautlos gelaufen war, verharrte er für einen Moment. Das Stöhnen wurde nun abgelöst von einem Schlurfen und er war sich jetzt sicher: Weiter oben, vermutlich eine Etage höher, war noch eine andere Person.

            Er reckte seine Nase in die Höhe und schloss konzentriert die Augen. Diese Mischung aus Schweiß, Leder und Vanderbilt verriet ihm: Sie war weiblich und Mitte dreißig. Entweder übergewichtig oder untrainiert oder eben beides und die Stöckelschuhe hatte sie längst gegen bequemere Schuhe eingetauscht, die aber sündhaft teuer waren, um diese Bequemlichkeit nach außen kaschieren zu können. Geschminkt war sie nicht oder nur sehr vage. Zumindest konnte er nicht den für ihn aufdringlichen Geruch von Make-up-Puder wahrnehmen.

            Er lächelte süffisant. Sie war geradezu perfekt. Die kleine, unscheinbare graue Maus mit wenig Selbstbewusstsein, die letztlich niemand vermisste, da sie niemand richtig wahrnahm.

            Leichtfüßig holte er sie ein und setzte ein überraschtes Gesicht auf. Sie senkte ihren Blick. Es war ihr peinlich so außer Atem mit hochrotem Gesicht vor ihm zu stehen. Er war jedoch galant genug, um dies zu überspielen.

            Er beugte sich interessiert über das Geländer. „Meine Güte ist das hoch. Wo sind wir? In der vierten oder schon in der fünften Etage?“

            „In der fünften“, sagte sie und es klang ein wenig stolz. Sie war tatsächlich kaum geschminkt und leichter, als er erwartet hatte.

            „Tatsächlich?“ Er tat erstaunt. „Sie sind doch aber nicht die ganzen fünf Etagen gelaufen?“

            Wieder senkte sie ihren Blick, diesmal aus Verlegenheit. „Doch, bin ich.“

            Sie vertraute ihm schon jetzt völlig. Ihm, einem wildfremden Mann in einem menschenleeren Treppenhaus. Wie naiv manche Menschen doch waren. Vermutlich gehörte er aber zu den ganz wenigen in ihrem Leben, die sie überhaupt beachteten.

            „Wie heißen Sie, Gnädigste?“

            „Caroline. Und Sie?“

            „Oliver“, log er und sah ihr fest in die Augen, bis sie seinem Blick nicht mehr standhalten konnte.

 

            Es war die perfekte Gelegenheit, wenn auch völlig unerwartet. Und es war der perfekte Moment. Sie würde vermutlich nicht einmal schreien, da sie ihm nichts Böses zutraute. Und selbst wenn sie kurzzeitig laut werden würde. Er war mit ihr allein in einem Treppenhaus, das mit Sicherheit niemand anderer betreten würde.

            Mit einem kurzen Rundumblick sondierte er unauffällig das Terrain. Noch immer misstraute er der Situation, die einfach zu vollkommen war. Dennoch betrachtete er interessiert ihren schlanken Hals. Wenn er sie nur kurz in den Schwitzkasten nähme und dann leicht zudrückte, würde sie sehr schnell bewusstlos werden. Er trat dichter an sie heran und sie wich nicht einmal aus. Die pulsierende Halsschlagader ließ ihre Halskette auf und ab tanzen, ein ideales Andenken für ihn. Doch dann beschloss er, Schicksal zu spielen. Er würde sie unversehrt lassen. Er war der Alleinherrscher über ihr Leben und er beschloss, sie für heute in ihrem sicherlich öden Alltag zu belassen.

            Dieses Gefühl der Macht berauschte ihn regelrecht. Fast ein wenig mehr als sonst, wenn er anderen Frauen Dinge angetan hatte, für die man ihn seit einiger Zeit suchte. Allerdings hatte man ihn noch nicht einmal ansatzweise im Visier.

             „Sagen Sie, Caroline, sind Sie öfter hier?“

            Eigentlich brauchte sie gar nichts zu sagen. Die Antwort kannte er auch so.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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