Daniela Rabenstein

Sein Ausweg

In der Dunkelheit der Nacht irrt er in dem Wald, voll von hohen Bäumen, umher. Er; das ist ein kleiner Junge. Noch nicht einmal acht ist er. Aber er ist in diesem Wald, ganz allein. Ganz allein in einem Wald mit hohen Bäumen, die kein Mondlicht in den Wald lassen. Oder ist der Mond nicht einmal am Himmel? Der Junge ist mutterseelenallein zwischen all den Bäumen, die ihn vom Rest der Welt abschirmen. Nein, der Junge sieht den Mond nicht. Er sieht weder Mond noch Sterne. Er irrt im Wald umher, planlos. Planlos und gleichzeitig ziellos. Wie lange wird er im Wald noch herumirren? Gibt es keinen Ausgang? Irgendwo muß es doch einen Ausgang geben. Es gibt überall einen Ausgang. Hier anscheinend nicht. Und wenn es einen gäbe, wie sähe dieser aus? Käme der Junge einfach nur raus aus dem Wald? Vielleicht wäre ein Zaun davor, und er müßte darüberklettern. Oder es gibt zusätzlich noch ein hohes Gitter, das den Wald umgibt. Diese Vorstellungen machen dem Jungen angst. Er will nicht daran denken; nein, er will es nicht. Dann will er lieber gar nicht denken, wenn ihm jetzt nur solche Gedanken kommen.

Licht! Da vorn ist ein Licht! Es ist sehr hell, und der Junge sieht es ganz genau. Er weiß, daß das ein Licht ist und daß dieses Licht ein Zeichen für einen möglichen Ausgang aus diesem Wald, der voll hoher Bäume steht, ist, weiß er auch. Er ist ja nicht dumm. Seine Mutter hat immer gesagt, daß er ein kluges Kind ist und daß er später, wenn er groß ist und auf sich gestellt - wenn sie nicht mehr für ihn dasein kann -; daß er dann sicher ein berühmter Wissenschaftler werden würde; aber nur, wenn er es selber will. Doch wo ist sie, seine Mutter? Sie ist nicht bei ihm, nicht mehr für ihn da, wenn er sie braucht. Ist er etwa schon ein Wissenschaftler, ohne daß er es gemerkt hat; ohne daß er alt genug ist? Wie alt ist er denn überhaupt? Er weiß es, aber es fällt ihm jetzt nicht ein. Seine Gedanken sind woanders; nicht mehr bei dem Wald mit den hohen Bäumen, nicht bei dem Ausgang, den es gibt oder auch nicht, nicht bei dem Licht, auf das er zuläuft. Nein, seine Gedanken sind zu seiner Mutter zurückgekehrt. Tief in ihm regen sich Gefühle von Grauen, Angst und Verzweiflung. Feuer, er sieht Feuer. Das Licht ist zu einem Feuer geworden. Ein Feuer mit hoch lodernden Flammen; Flammen, die fast höher als die Bäume, die in dem Wald stehen, sind. Und mitten in dem Feuer sieht er sie. Eine schlanke Gestalt, in ein langes KLeid gehüllt; ihre lockigen Haare umranden ihr Gesicht, das feingeschnitten und zart ist. Es scheint, als ob die Flammen, die so hoch lodern wie die Bäume in dem Wald, ihr nichts anhaben können. Wie ein Engel steht sie vor ihm. Ja, der Junge, er sieht seine Mutter wie einen Engel und er schreit; er ruft laut ihren Namen, er will, daß sie ihn endlich hört. Er springt auf und ab und kreischt dabei. Und dann rennt er auf das Feuer zu. Er rennt so schnell, wie ihn seine Beine tragen können; er will in ihre Arme, er will nach der langen Zeit endlich einmal wieder in ihren Armen liegen. Aber er kommt nicht zu ihr. Starke Arme halten ihn fest. Arme, die verhindern, daß es ihm gelingt, zu seiner Mutter zu kommen. Er öffnet seine Augen. Er; das ist ein kleiner Junge, vielleicht acht Jahre alt; er liegt in den Armen seines Vaters in einem dunklen Zimmer. Schon lange liegt er da, träumt von dem Wald mit den hohen Bäumen, von dem Ausgang, dem Licht, das sich in Feuer verwandelt und von seiner Mutter. Er weiß, daß er jetzt zu ihr gehen wird, und er freut sich. Sein Vater weiß es auch. Der Junge hat keine Angst mehr, und er schließt seine Augen.

Am nächsten Morgen wird der dünne Körper des kleinen Jungen in eine Kiste gelegt. Er sieht so glücklich aus.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.07.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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