Torsten Tückmantel

Geschichte ohne Ende !?

Die Dächer der Vorstadt starren ungerührt zur brüllenden Sonne hinauf. Wir zerfließen unter ihrem monotonen Lied, aber das kann den Dächern ja egal sein. Ihre einzige Aufgabe ist es eben Dach zu sein; zu verhüllen, was verhüllt werden will, werden muß.
Unter diesen Dächern schläft das Leben. Noch jedenfalls, denn wir warten nur ungeduldig auf den Abend, der Linderung zu versprechen scheint und doch so lange Zeit schon nicht mehr hat bringen können. Und selbst auf die Zeit können wir uns nicht mehr verlassen. Irgendwie und nur unter schwersten Anstrengungen schleicht auch sie sich lediglich Sekunde um Sekunde voran.
Und die Sonne brüllt ihr monotones Lied dazu.

Ich wache auf. Es ist noch früh am Morgen. Eigentlich viel zu früh um aufzustehen. Aber im Bett halte ich es auch nicht mehr aus. Viel zu eng und viel zu warm. Die ganzen letzten Tage schon. Im Fernsehen, gestern, die Meteorologen haben Erklärungen abgegeben, warum und wieso und wie lange noch. Verstanden habe ich eh nichts. Ist ja auch viel zu warm. Und fast schon viel zu eng im Kopf. Wegen der Hitze, versteht sich, denn die macht die Gedanken schwer wie Blei, daß sie so unfaßbar träge werden.
Ich koche Kaffee, gehe ins Bad und genieße den lauwarmen Wasserstrahl auf meiner Haut. Einfach herrlich, unter der Dusche die Seele zum Schwimmen ins Meer zu schicken!
Nach dem Frühstück und der Zeitung - wieder so ein unsäglicher Versuch, diese Hitze zu erklären - mache ich mich auf in die Stadt. Irgendein Café wird wohl schon geöffnet haben. Irgendwo muß es doch Leben geben! Aber die Straßen sind wie leer gefegt. Fein säuberlich bis in den letzten Winkel. Fast wie Weihnachten. Nur ohne Schnee, aber den hatten wir ja auch schon lange nicht mehr. Und ohne Lieder, aber die sind ja auch nicht friedlich genug ohne Schnee und ohne diese klebrige Lebkuchenstimmung.
Den Menschenauflauf am anderen Ende der Straße hätte ich beinahe verpaßt. Und das wegen Weihnachten! Mitten im Sommer! Dicht gedrängt stehen dort ungehörig viele Gestalten an der Hauswand und starren sich die Augen aus dem Kopf. Aber, neugierig genug geworden fassen auch meine weihnachtlichen Gedanken wieder Tritt, und ich beeile mich, nichts zu verpassen.
Die Menge steht erbarmungslos vor einem Plakat, und ich weiß ganz genau, daß das da gestern noch nicht gehangen hat. Unverschämt, wer erdreistet sich nur, unser wohlbehütetes Leben derart durcheinander zu bringen? Wer darf sich so etwas anmaßen? Unverschämtheit!
Langsam kann ich auch die Buchstaben auf diesem Schandfleck der Vorstadt entziffern. "Gebt uns unser Deutschland wieder. Deutschland den Deutschen. Ausländer raus!" springt uns da in gelben Lettern von der unschuldigen Hauswand entgegen. Ich schüttele mich. Wie kann man nur Hoffnung so mißbrauchen? Und diese Häuserwand? Und überhaupt, teilt den niemand diese heilige Weihnachtsstimmung mit mir?
Aber nicht einer schließt sich meiner Empörung an. Keiner hat Mitleid mit einer Häuserwand oder gar mit Hoffnung, zumal wenn sie nur gelb ist! Und an Weihnachten denkt ja jetzt, mitten im Sommer, schon mal gar keiner mehr. Es ist eben viel zu warm. Und viel zu eng, ach ja, im Kopf!
Vorne, in der ersten Reihe, ganz nah am Plakat, so als wollte er den Inhalt dieser Gefühlskonserve in sich aufsaugen, steht ein älterer Mann. Klein ist er und etwas zu dicklich. Wie der Vater der Gartenzwerge. Nur ohne Bart und ohne Schubkarre, aber die hat er bestimmt im Schuppen seines Gartens in irgendeinem Kleingartenverein stehen. Gleich neben den Ersatzgartenzwergen, falls mal irgendein Zwergenfreischärler dieselben hinterm Gartenzaun befreit, und man eben Ersatz braucht. Deckt so etwas eigentlich irgendeine Versicherung ab? Aber der ganze Papierkram; nein, das wäre ja dann auch wieder zuviel Arbeit. Nur wegen der Gartenzwerge, das lohnt nicht wirklich.
Den Zwergenfreischärler aber, ja, den müßte die ganze Härte des Gesetzes treffen! Für Jahre ins Zuchthaus gehört der, aber das gibt's ja nicht mehr. Nur noch Gefängnisse mit Rückführungsgarantie in die Gesellschaft, sozial geläutert versteht sich. Irgendwie endet´s aber dann doch immer wieder im Milieu.
Die laute, zackige, mich an meine schon Jahre zurückliegende Wehrdienstzeit erinnernde Stimme des Alten reißt mich äußerst unsanft aus meinen Überlegungen über ihn und seine Zwergenmotivation; doch ich gönne ihm diesen Triumph, ihm, dem Vater der Gartenzwerge, und höre unwillkürlich zu. Genauso wie damals, bei der Bundeswehr. Man hat auch unwillkürlich zuhören müssen, egal wie groß der Blödsinn war, der einem da gerade verzapft wurde.
Und Mr Gartenzwerg hier verzapft wirklich ein Menge davon. Man müsse sich endlich mobilisieren, diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, Deutschland endlich wieder zurückführen zu altem Glanz und alter Glorie. Er redet ununterbrochen, so unheimlich viel und dabei so heimlich dumm, daß wohl nur ich ihn auf seinem Beutezug ertappe, denn alle anderen um mich herum sind geradezu magisch fasziniert; so sehr, daß sie nicht einmal diese widerliche Knoblauchfahne des Alten bemerken.
Gestern beim Griechen muß es ihm wohl wieder so richtig deutsch geschmeckt haben. Daß sie dort jetzt aber schon Sauerkraut und Schweinshaxe in Knoblauchrahm anbieten, will mir nicht in den Kopf. Vielleicht ist es dafür einfach viel zu warm und viel zu eng im selben.
Die Anhängerschaft des Gartenzwergvaters jedenfalls ist begeistert, und ihr Murmeln steigert sich zu jubelnder Zustimmung, Ja, endlich mal einer, der die Wahrheit spricht, der ihre Unmöglichkeit in schöne Worte zu kleiden versteht, an denen sie sich nicht genug satt hören können.
Mir wird schlecht. Aber das liegt wohl an der Knoblauchfahne, die gestochen scharf die Luft durchschneidet.
Ich suche das Weite, flüchte mich tiefer in die Vorstadt hinein. Aber irgendwer hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Viele Häuserwände haben heute Nacht ihre Unschuld verloren. Und noch viel mehr Menschen starren jetzt dieselben an. Und irgendwie scheinen heute die Gartenzwerge viel zu viele Väter zu haben.
Aber, ich will auch das Gute sehen! Endlich Leben, das sich mir hier bietet. Endlich Menschen, die zusammen kommen, trotz der Hitze und Enge im Kopf. Menschen so, wie ich selbst einer bin. Mit all ihren Träumen, Hoffnungen und Ängsten, die ich nur allzu gut verstehe.
Aber, mir kann man es ja auch nicht recht machen, denn so gefällt mir Leben auch nicht. Ich befürchte, die treffen sich alle nur, gerade weil es in ihrem Kopf so eng ist. Und bei allen Träumen und Hoffnungen, werden sie letztlich wohl nur von ihrer Angst getrieben, von ihrer Angst, die sie wahrscheinlich noch nicht einmal konkret benennen könnten. Einfach ihre Angst vor allem, was anders ist.
Also, auf Leben in dieser Form kann ich getrost verzichten! Es kann ja so grausam sein. Und ich sehne mich nach noch mehr Wärme und endlos Enge in meinem Kopf! Enge, die auch ohne Hitze existieren kann.
In meinem Lieblingscafé sind die Plakate das Thema schlechthin. Selbst die Friedensbemühungen um das Kosovo können da heute Morgen nicht mithalten. Doch auch hier empört sich niemand so richtig wirklich. Mir schlägt förmlich allerorts jubelnde Zustimmung aus euren Augen entgegen.
Und erst euer Gerede. Mit Händen und Füßen erklärt, unterstützt und verklärt ihr geradezu das, was noch nicht einmal im Ansatz Hand und Fuß haben kann.
Sogar Jenny, die Bedienung, sonst immer ein unglaublicher Ausbund an zurückhaltender Höflichkeit und unterkühlter Distanz, serviert heute so ungemein aufgetaut, irgendwie berauscht. So als wollte sie uns allen ihre Leidenschaft für derartige Plakataktionen ungeschminkt zum Ausdruck bringen.
Und dabei sieht sie wirklich so verdammt gut aus. So verdammt gut, daß ich ihr beinahe ihre Enge nachsehen möchte. Aber, so gut sieht sie ja dann doch wieder nicht aus!
Und mein Kaffee ist abgestanden, total verbittert. Mindestens ebenso sehr wie ich es mittlerweile bin. Aber wohin soll ich jetzt noch gehen? Außer nach Hause, in meine Welt, in die heilende Weite meiner vier Wände, die noch nicht und niemals plakatiert sein werden.
Hier bei mir zu Hause kann ich endlich Ruhe finden vor euch und eurer Enge im Kopf. Hierher könnt ihr mir nicht folgen, hier kann mir kein Gartenzwergvater sein dummes Geschwätz aufzwingen. Hier in meiner selbstgewählten Einsamkeit genieße ich endlich Freiheit vor eurer blinden Ignoranz.
Ich schalte den Fernseher ein. Der Nachrichtensprecher verkündet, daß in vielen deutschen Städten in der ganzen Bundesrepublik eine solche Plakataktion stattgefunden haben soll. Und ich sehe ganz genau das Lachen in seinen Augen. Ich schließe die meinen und kann gar nicht schnell genug einschlafen. Richtig, dafür ist es eigentlich viel zu warm und viel zu eng im Kopf. Aber mit euch kann ich wirklich noch lange nicht mithalten!

Später senkt sich der Abend widerwillig auf die Dächer der Vorstadt. Es beginnt zu regnen, und der Regen bringt endlich die lang ersehnte Linderung. Das Leben wacht auf, um dann doch ganz schnell wieder einzuschlafen. Es ist eben immer noch viel zu warm und viel zu eng in so manchem Kopf!
Und morgen? Morgen brüllt bestimmt wieder die Sonne ihr monotones Lied dazu ...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Torsten Tückmantel).
Der Beitrag wurde von Torsten Tückmantel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Torsten Tückmantel als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Bringt mir den Dolch von Germaine Adelt



Was haben eine Hebamme, ein Englischstudent, eine Bürokauffrau, ein Übersetzer, eine Technische Zeichnerin, ein Gymnasiast, eine Reiseverkehrskauffrau, ein Müller, eine Sozialpädagogikstudentin, ein Kfz-Meister, ein Schulleiter i.R., ein Geographiestudent und ein Student der Geschichtswissenschaften gemeinsam?

Sie alle schreiben Lyrik und die schönsten Balladen sind in dieser Anthologie zusammengefasst.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Torsten Tückmantel

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ali von Claudia Lichtenwald (Gesellschaftskritisches)
Meine Bergmannsjahre (fünfter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen