Norbert Schimmelpfennig

Schnapsidee in der Wochenzeitung

Auf dem Bildschirmschoner von Dieters Computer steht ein lateinischer Spruch geschrieben, der übersetzt lautet:
„Im Wein liegt Wahrheit, im Bier liegen Laster, im Bärwurz liegt Tabula rasa“; also im Original:
   IN VINO VERITAS
   IN CERVICIA VITIA
   IN URSIRADICE TABULA RASA
 
Gerade hat Dieter erfahren, dass sein Job bei der Schülerhilfe nur als Vertretung gedacht war und mit dem heutigen Tag beendet ist. Jetzt, da er zu Hause sitzt, greift er nach so einer Flasche Bärwurz – einem vierzigprozentigen Schnaps, der den Magen gründlich aufräumen kann – und trinkt die scharfe Flüssigkeit mit einem Strohhalm. Dabei überlegt er, ob er die Flasche in den gegenüber hängenden Spiegel, gegen den Fernseher oder den Computer werfen soll.
Doch da kommt ihm erst eine Erinnerung und darauf eine Idee: Als einmal eine Schülerin nicht wusste, wie sie das Perfekt von „parere“ bilden sollte, gab er ihr den Tipp, hier ein bisschen zu stottern; und da war ihr eingefallen, dass die Lösung „peperi“ hieß. Anschließend hatte sie ihn gefragt, ob er nicht die Klassenarbeit für sie schreiben könnte.
Jetzt, in seinem schon ziemlich angetrunkenen Zustand, kommt ihm der Gedanke, dies doch tatsächlich einmal zu probieren und künftig damit Geld zu verdienen.
 
Somit begibt sich Dieter zum Anzeigenbüro der Wochenzeitung und gibt dort folgende Anzeige in Auftrag: 
Biete an, Klassenarbeiten für versetzungsgefährdete Schüler zu schreiben.
 
Die Dame, welche die Anzeige entgegennimmt, fragt ihn:
„Möchten Sie diese Anzeige wirklich aufgeben? Darauf werden Sie als Reaktion doch nur Telefonstreiche erhalten!“
„Ja, möchte ich unbedingt! In welche Rubrik würden Sie sie denn einordnen?“
„Nun, sie würde unter die Rubrik ‚Verschiedenes’ fallen, ist sie doch gleich zum Dahinscheiden verurteilt. Aber wenn Sie darauf bestehen, drucken wir sie eben.“
 
Ein paar Tage später kommt es zu einer ernsten Auseinandersetzung zwischen Herrn Galle und seiner Tochter Veronika.
„Veronika“, sagt Herr Galle. „Deine Klassenlehrerin, Frau Reichsschnabel, hat uns mitgeteilt, dass deine Versetzung in die nächste Klasse stark gefährdet ist. Wenn du durchfällst, darfst du in den Ferien nicht mit deinen Freundinnen verreisen, sondern musst zur Tante Lara auf den Hof, um dort in Ruhe zu lernen!“
„Was? Zur Tante Lerche, bei der man immer um vier Uhr früh aufstehen muss? Bitte nicht, Vater!“
„Wenn du das nicht willst, streng dich jetzt noch an! Gib dich nicht so viel mit Jungs ab, sondern lerne lieber, zum Beispiel mit diesem Buch aus unserem Schrank. Ich kann zwar kein Latein, weiß daher nicht, was dieses ‚Ovid: Amores’ heißt; aber es wird deinen Lateinkenntnissen auf die Sprünge helfen!“
 
Wenig später liest Veronika in der Wochenzeitung. Dort erscheint ihr eine bestimmte Anzeige zunächst ganz absurd. Beim Weiterblättern kommt ihr aber eine Idee; und sie blättert zurück, um die Telefonnummer anzurufen, die dort abgedruckt ist.
 
Am Tag darauf treffen sich Veronika und Dieter an einer vereinbarten Wegkreuzung im Park, und sie erklärt ihm:
„Ich gehe auf die Drei-Eiben-Schule, dort, wo früher der Grenzübergang war. Eine wahnwitzige Anzeige, die du aufgegeben hast; und bei meiner Mathelehrerin, Frau Reichsschnabel, wäre sie, ebenso wie bei den allermeisten anderen Lehrkräften, auch undurchführbar. Aber ich kenne den Charakter und die Gewohnheiten meines Lateinlehrers, Herrn Muschelkönig; also hör dir meinen Plan an…“
 
Am darauffolgenden Sonntag geht Herr Muschelkönig, wie so oft, mit seiner sechzehnjährigen Tochter Annette ins Schwimmbad, wohin ihnen Dieter folgt.
Wie gewohnt, lässt Herr Muschelkönig seine Brille bei seiner Tochter zurück, um ins Wasser zu steigen, während seine Tochter auf seine Sachen aufpasst und sich dabei ein Bier genehmigt. Dieter nimmt direkt vor ihr Platz und präsentiert seinen gut gebauten Körper der Luft. Bei seinem Anblick denkt das sechzehnjährige Mädchen nicht dauernd an die Sachen ihres Vaters; und Veronika gelingt es in so einem romantischen Augenblick tatsächlich, ihren Coup auszuführen:
Beim Optiker hat sie sich eine billige Brille besorgt, die der Brille von Herrn Muschelkönig ähnlich sieht, aber wesentlich schwächer als diese ist. Wie sie ihren Lehrer kennt, würde er es niemals zugeben, schlechter zu sehen als sonst; und daher vertauscht sie nun rasch dessen Brille mit der von ihr mitgebrachten. Annette bemerkt tatsächlich nichts davon, da sie ununterbrochen zu Dieter schaut.
 
Am folgenden Tag nun ist die letzte Lateinarbeit des Schuljahres angesagt; und Herr Muschelkönig wirkt irgendwie seltsam, sagt aber nichts. Dieter hat sich eine Perücke aufgesetzt, so dass er Veronika weitgehend ähnlich sieht, und sich für diese Stunde auf ihren Platz gesetzt.
Da viele der Klassenkameraden, wiewohl in den Plan eingeweiht, nicht mit Lachen aufhören können, schreit Herr Muschelkönig:
„Ruhe jetzt! Was ist nur heute mit euch los? Sicher, bald sind Ferien; aber jetzt reißt euch noch einmal zusammen!“
Während nun Ruhe einkehrt, setzt er sich wie immer auf seinen Platz und liest lieber in einem Buch, anstatt dauernd die an diesem Tag besonders verschwommenen Schüler anzusehen.
 
Als Veronika eine Woche später ihren Eltern freudestrahlend die Eins in der Lateinarbeit präsentiert, meint ihr Vater:
„Haben unsere Ermahnungen doch gefruchtet! Da wirst du in den Ferien wohl nicht zu meiner Schwester auf den Hof und so früh wie diese Lerche aufstehen müssen.“
Und als Veronika schließlich zwei weitere Wochen später das Zeugnis vorweisen kann, in dem das Schlimmste ein paar knappe Vieren sind, sind sich die Eltern einig, dass sie den Urlaub verbringen kann, mit wem immer sie will.
Allerdings hat sie vorher mit Dieter abgemacht:
„Noch einmal sollten wir diese Anzeige aber nicht in die Tat umsetzen, das würde irgendwann einmal doch noch auffliegen!“
„Ja, genau, auf was man in solch trunkenem Zustand auch kommt… Besser ist es wirklich, wenn ich dir jetzt in den Ferien nebenbei und dann im neuen Schuljahr offiziell Nachhilfe erteile! – Möge diese Schnapsidee verschieden und begraben, aber nicht vergessen sein!“
 
 
 
 
 

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