Enno Ahrens

Geisterstunde

Kurt und Elvira Bremer hatten sich während des Landausfluges in jener warmen Sommernacht mit ihrem Chevrolet verfahren. Die Uhr zeigte fast auf Mitternacht, als plötzlich der Motor streikte.

Die Gegend war nur dünn besiedelt. Kaum hundert Meter entfernt entdeckten sie hügelaufwärts die Umrisse eines Hauses. Kurt Bremer hastete zu dem gespenstisch im Dunkel eingehüllten Gehöft. Seine Frau wartete im Auto. Er hoffte, jemanden anzutreffen, der eine Werkstatt mit Notdienst verständigen könnte.

Elvira beobachtete, wie im Haus Licht anging, die Tür wurde geöffnet. Im Lichtkegel erblickte sie die vertraute Gestalt ihres Mannes. Er sprach mit jemandem und verschwand kurz darauf im Haus. Es erschien ihr endlos. Plötzlich stürzte Kurt aus der Tür heraus. Sie hörte seine Schritte im Dunkeln schnell näher kommen. Er riss die Autotür auf und ließ sich seufzend auf den Sitz fallen. Elvira betrachtete ihn im schwachen Licht des Armaturenbretts. Schweigend saß er da. Die Augäpfel quollen weit aus den Höhlen. Er sah unwirklich aus, wie eine Wachsfigur, die Lippen blutleer, das Gesicht leichenblass und seine Hände zitterten.


Schließlich begann er zu erzählen: „Da hat eine Leiche gelegen, blutverschmiert. Es war grässlich.“ Elvira legte ihre zarte Hand auf Kurts Schulter. „Kurt, so beruhige dich doch und erzähl mir alles von Anfang an.“ „Okay. Eine ältere, etwas rundliche Frau bittet mich also freundlich ins Haus. Ich erzähle ihr von unserer Autopanne. Sie sagt: `Mein Mann wird Ihnen helfen. Er versteht nicht nur was vom Tischlern, sondern auch von Autos. Sie müssen sich etwas gedulden. Er ist gerade beschäftigt`. Sie bietet mir ein Glas Portwein an. Ich lehne höflich ab: „Meine Frau wartet im Wagen. Ich kann sie nicht solange allein lassen.“ `Das verstehe ich`, erwidert sie und führt mich durch einen langen, dunklen Korridor zum Wohnzimmer.

Sie tritt ein. In dem dumpfen Licht sehe ich, wie sich eine lange, hagere Gestalt, offenbar der Mann der Alten, über einen offenen Holzsarg beugt, während ich steif vor Entsetzen auf der Türschwelle verharre. In dem Sarg hat ein Junge gelegen, das T-shirt blutverschmiert, die Augen starr. Als der Alte dann gellend anfing zu lachen und seine Augen dabei gruselig funkelten, bin ich verstört davongerannt.“

„Wir müssen sofort die Polizei alarmieren, Kurt.“ „Bis zum nächsten Gehöft sind es mindestens 3 Kilometer. Wenn wir zu Fuß dort angelangt sind, haben sie die Leiche wahrscheinlich längst fortgeschafft und die Polizei findet nichts vor.“ „Ja, Kurt. Du hast recht. Man wird uns für verrückt halten.“ Im Haus auf dem Hügel ging Licht an. Es musste in der Wohnstube sein.

Sie stiegen aus dem Wagen, und Kurt fasste Elvira bei der Hand. So schlichen sie auf das erleuchtete Fenster zu, das einen Spalt offen stand. Plötzlich brannte auch das Hoflicht. Kurt und Elvira sprangen pfeilgeschwind hinter einen der Holunderbüsche. Der hagere Mann und die kleine Frau schleppten keuchend den Sarg in einen großen Schuppen, verriegelten ihn und verschwanden wieder im Wohnhaus. Aus dem Fensterspalt drangen helle Stimmen. „Das müssen Buben sein, die da lachen“, flüsterte Elvira. „Ja, die ahnen noch nichts von dem, was ihnen blüht.“ „Du meinst, sie müssen auch noch dran glauben?“ „Na klar. Hier geht’s doch schlimmer zu, als bei Graf Dracula.“

Kurt und Elvira tasteten sich näher an das Fenster heran. Gerade, als sie hineinschauen wollten, wurde das Licht gelöscht. „So’ n Mist“, fluchte Kurt. „Die scheinen schlafen zu gehen. Ja, dann nehmen wir den Schuppen unter die Lupe.“ Er leuchtete mit seiner Taschenlampe durch eine der Butzenscheiben. „Schau, Elvira, dort stehen drei Särge bereit, sicher für die Knaben, die wir eben noch lachen hörten. Wir brechen den Schuppen auf. Ich muss sehen, wo der tote Junge ist.“ Die Fenster waren jedoch vergittert, die Eisentür mit einem robusten Sicherheitsschloss versehen. „Es hat keinen Zweck“, knurrte Kurt. „Warten wir, bis es hell wird. Dann sehen wir weiter.“

Sie versteckten sich weiterhin hinter einem Holunderbusch. Seitlich davon entdeckten sie ein Schild mit der Aufschrift: Tischlerei Foss. In klein darunter: Sämtliche Tischlerarbeiten - Särge. Später dann schlummerten Kurt und Elvira in ihrem Fahrzeug ein. Am nächsten Morgen weckte sie fröhliches Kindergeschrei. Drei Knaben rannten vergnügt auf dem Hof umher. Sie flitzten durch die Pforte, den Hügel hinunter. Neben dem kaputten Auto blieben sie stehen und betrachteten es neugierig.

Kurt stutzte: „Elvira, der eine dort mit den Sommersprossen, das ist der Junge aus dem Sarg. Ja, ich erkenne ihn wieder. Das gibt’s doch nicht.“ „Bist du sicher?“ „Ja, es sei denn, er hatte einen Zwillingsbruder.“ Kurt fragte den Jungen: „Wo warst du letzte Nacht um zwölf?“ Der Junge grinste: „Ich lag im Sarg.“ „Was?!“ „Und Sie sind bestimmt der Mann, der entsetzt fortgelaufen ist. Oder?“ „Ja.“ Die Kinder kicherten lauthals. „Wir spielen immer in den Ferien mit Opa und Omchen Geisterstunde. Aber dass wir so überzeugend waren...“

*

Vorgabe: Auto defekt, Mitternacht, verfahren, Haus auf Hügel, Frau beobachtet ihren Mann bis er in der Haustür verschwindet. (Diese Aufgabe zum Weiterspinnen hatte mir eine Bekannte von einem VHS-Schreibkurs mitgebracht.)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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