Hartmut Pollack

Besuch von Marlon

 
Besuch von Marlon
 
Renate hatte sich entschieden. Ihr Enkelkind sollte sich kurz vor der Schulpflicht bei ihr in Südniedersachsen erholen. Sie freute sich auf den kleinen Jungen. Lange hatte sie ihn schon nicht gesehen.
Sie war neugierig, wie er sich entwickelt hatte. Vielleicht konnte sie ihm ja auch noch ein klein wenig vor der Schule beibringen. Sicherlich war es gut, wenn er mit einem gewissen Vorsprung in die erste Klasse ging. Im Kindergarten hatten sie nicht genug in dieser Hinsicht gemacht, dachte die Oma.
Vielleicht half ihr ja auch ihr Lebensgefährte. Sie kaufte heimlich einige Bücher für die Zeit vor der Schule. Es sollte ein schöner Besuch werden.
Telefonate mit der Mutter folgten. Die stimmte sehr schnell zu. Es bestand ein gutes Verhältnis zwischen der Mutter und Oma Renate. Die Mutter schien auch froh zu sein, eins von ihren drei Kindern, für eine gewisse Zeit gut aufgehoben bei Oma zu wissen.
Renate hatte sich auch für die Zeit mit Marlon viele Pläne gemacht. In den Harz wollte sie mit ihm wandern gehen. Mit dem Fahrrad die nähere Umgebung mit ihm erkunden. Die besten Spielplätze in der Nähe der Wohnung sollte er kennen lernen. Hoffentlich fand er dort ein paar passende Spielkameraden im gleichen Alter.
In der Stadt wollte sie mit ihm Eis essen und spazieren gehen. Sie war doch so stolz auf ihren Enkel und das sollte auch alle Welt wissen. Voller Vorfreude strahlte sie.
Renate fuhr also in den Norden und holte Marlon ab. Sie verbrachte einen ganzen Tag, die Nacht und den Vormittag im Norden. Gespräche mit Bekannten und Freunden füllten diese Zeit aus. Auch mit Marlons Mutter unterhielt sie sich lange. Renate war gut gelaunt und fuhr entspannt am zweiten Tag wieder in Richtung Südniedersachen.
Auf der Rückfahrt ließ sie sich Zeit und zeigte Marlon die wunderschönen Landschaften im Norden Deutschlands. Dreimal hielt sie auf den knapp dreihundert Kilometern an und machte mit dem kleinen Burschen eine kurze Pause.
Um Ufer der Weser saß sie neben Marlon und beide beobachteten schwere Lastschiffe auf dem langsam dahin fließenden Strom. Sie winkten den Binnenschiffern zu und freuten sich, wenn diese voll guter Laune zurück winkten.
Möwen kreisten über den Lastkähnen und schrien das Lied des Hungers heraus. Im steilen Sturzflug holten sie ihre Beute aus dem Wasser. Es war ihnen egal, ob es Abfälle waren oder Fische. Hauptsache war, sie fanden etwas zum Fressen.
Marlon wurde es mit der Zeit langweilig und die Oma ging mit ihm zum Auto zurück. Die Fahrt ging weiter nach Süden. Die Heide zeigte sich in ihrer Sommerpracht mit Heidekraut und Wildblumen. Auch hier wurde eine kurze Rastpause gemacht. Renate erzählte ihm Heidegeschichten.
Marlon hörte anfangs zu, doch schon nach kurzer Zeit wollte er weiterfahren. Er wollte in Omas Stadt, in ihre Wohnung. Renate fuhr weiter und nach einer weiteren kurzen Pause auf einem Rasthof erreichten sie am frühen Nachmittag die Wohnung der Oma.
Ein kleiner Junge war aus dem Norden zu Besuch gekommen. Blaue Augen schauten verschmitzt unter einem blonden Schopf hervor. Marlon hieß er und war gerade mal sechs Jahre alt.
Renate war erleichtert. Sie begrüßte ihren Lebensgefährten und stellte diesem Marlon vor.
„Den kenn ich schon vom letzten Mal,“ erklang die Jungenstimme. „Können wir reingehen. Es kommt eine tolle Kindersendung im Fernsehen.“ Fast schien es, als wenn er das Fernsehprogramm im Kopf hatte.
„Aber erst musst du noch etwas essen und trinken. Die Hände waschen muss auch noch sein.“
„Ja, mach ich.“
Das klang so wie: „Muss das sein?“
„Hunger hab ich aber nicht. Ich esse erst später.“
Das klang alles so selbstbewusst, so abschließend entschieden, so allein bestimmend.
„Na gut,“ war Renates Antwort.
Oma ging mit ihrem Enkel ins Wohnzimmer und machte das Fernsehen an. Der richtige Sender war schnell gefunden. Es waren noch ein paar Minuten Zeit bis zum Sendebeginn.
Marlons Augen wanderten durch das Zimmer.
„Oh, du hast ja einen Laptop, Oma. Sind da auch Kinderspiele drauf?“
„Das weiß ich nicht, aber du kannst ja mal Phillip fragen.“
„Wer ist Phillip?“
„Ein Junge aus der Nachbarschaft. Er kommt ab und zu hier vorbei.“
„Kannst du ihn mal anrufen, Oma?“
„Jetzt guckst du erst mal deinen Film. Danach wird etwas gegessen.“
„Ja gut, Oma.“ Es fehlte nur noch: „Wenn’s denn sein muss.“
Marlons Interesse am Fernsehen war nicht mehr von Begeisterung geprägt. Er hat eine neue Sache entdeckt und wollte dort sein Können beweisen, den Laptop. Man bemerkte, wie er ab und an dorthin blickte. Dieses Notebook zog ihn an. Unschuldig zugedeckt stand es auf dem Sekretär. Die beiden Erwachsenen hatten es kaum noch benutzt.
„Kann man den Laptop richtig anstellen, Oma ?“
Diese Frage kam, während der Fernsehfilm lief. Das Fernsehen verlor seinen Reiz.
„Natürlich kann man den Laptop anstellen. Ich kann damit sogar ins Internet gehen.“
„Uiiii !“
„Heute ist der Film langweilig, Oma. Kannst du mal Phillip anrufen ?“
„Jaja, ich mach das schon. Aber ich weiß nicht, ob er zu Hause ist.“
„Wo kann er denn sein?“
„Das weiß ich doch nicht.“
„Dann versuche es doch mal.“
Marlons Stimme klang verführerisch schmeichelnd.
„Du wirst das schon schaffen, Oma.“
Oma hatte mittlerweile das Telefon in die Hand genommen und die Telefonnummer von Phillip gewählt. Es klingelte lange. Dann war eine Verbindung da.
„Kannst du mal zu uns rüber kommen, Phillip. Ich habe einen kleinen Quälgeist hier. Wenn du eine Kinderspiel für einen PC hast, bringe das bitte mit.“
Aus dem Hörer klang: „Ich wollte gerade zu Max.“
„Ach tu mir den Gefallen, Phillip.“
„Na gut, ich bin gleich da. Aber lange Zeit habe ich nicht.“
Renate atmete erleichtert auf. Ihr kleiner Quälgeist würde gleich den Superkönner für PC-Spiele kennen lernen.
Marlons Augen begannen zu leuchten.
Plötzlich hatte er auch etwas Hunger und aß eine Brötchenhälfte.
„Er wollte doch gleich kommen.“
„Geduld, junger Mann,“ erklang die Stimme des Mannes im Hause. „Phillip wird schon kommen.“
In diese Worte hinein klingelte es. Der heiß ersehnte Nachbarjunge war angekommen.
Marlon zog ihn fast zum Laptop hin.
Der Elfjährige übernahm aber gelassen das Ruder vor dem Notebook.
„So stellt man das Gerät an. Auf diesen Knopf musst du drücken. Probier es man selbst.“
Marlon tat wie geheißen und in der Tat, das Gerät ging an.
„Hast du ein Spiel gefunden?“
„Ich habe nur noch eins für so kleine Jungs, wie du es bist.“
Die Stimme klang sehr erwachsen, fast ein wenig überheblich.
„Das Spiel heißt Worms, das bedeutet Würmer. In dem Spiel kämpfen Würmer gegen einander. Jeder will gewinnen. Du kannst gegnerische Würmer zu Fischfutter machen. Auch eine eigene Waffenfabrik kannst du dir aufbauen. Das Spiel ist freigegeben ab sechs Jahre. Also darfst du es spielen. Komm her, ich lade es und zeige dir, wie es geht.“
„Du bist mein erster Freund,“ sagte Marlon.
Phillip lachte laut. „Ich bin doch nicht im Laptop.“
„Das macht nichts, aber du bist ab sofort mein Freund.“
Der größere Junge steckte die CD in das Notebook und speicherte das Spiel auf der Festplatte.
Kurze Zeit später waren beide in das PC-Spiel vertieft.
„Das kann ja schön werden,“ sagte Oma zu ihrem Gefährten.
„Ich befürchte das auch.“
Marlon konzentrierte sich auf die Erklärungen von Phillip. Ab und zu jauchzte er vor Freude auf. Phillip allerdings langweilte sich schon nach kurzer Zeit. Er kannte das Spiel schon lange und es war ihm zu kindlich.
„Nun versuche es mal selbst,“ mit diesen Worten erhob er sich und ging nach Hause.
„Ihr wisst ja, wie ihr mich erreichen könnt,“ sagte er noch beim Abschied.
Damit verschwand Phillip und Marlon saß vor seinem ersehnten Spiel. Bald allerdings rief ihn das Bett.
„Du kannst morgen wieder spielen,“ sagte Oma.
Obwohl Marlon Zeit erbetteln wollte, blieb Oma hart und er ging knurrend ins Bad.
Die Nachtwäsche war schnell vorbei und lange noch lag der kleine Junge wach. Endlich fielen ihm die Augen zu und er fiel in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
© pk 07 / 07
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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