für Julia - die Frau, die
mein Herz
erobert hat. Danke für alles!
1
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich beginnen soll. Die Ereignisse der vergangenen Monate wirbeln wie ein Orkan durch meinen Kopf und es fällt mir schwer, sie zu ordnen. Obwohl ich mir jedes Tages bewußt bin, den ich seit dem Frühjahr erlebt habe, scheinen mir manche Dinge verschleiert. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht möchte ich diese Erlebnisse verdrängen; vielleicht wollen diese Erinnerungen aber auch nicht näher von mir erforscht werden. Und möglicherweise ist dies besser so.
Es schmerzt mich immer noch, an die Tage zurückzudenken, an
denen ich einer der glücklichsten Menschen auf der Welt war. Nicht, daß ich
jetzt unglücklich wäre; diese Vorfälle haben mir wertvolle Erfahrungen gegeben.
Aber ich fühle mich in gewisser Weise leer. So wie jeder Tag mir neue
Erkenntnisse brachte, mich mit Erlebnissen anreicherte, so nimmt mir nun jeder
Tag etwas von dem, was ich glaubte nie wieder zu verlieren: die Liebe.
Nun glauben Sie aber nicht, liebe Leser, daß ich ein ständig
deprimiertes Individuum bin, welches sich in der Einsamkeit seiner kleinen
Zwei-Zimmer-Wohnung zu verstecken versucht. Ich bin nicht diese Art von Person.
Ich lache gerne, unterhalte mich viel und feiere mit meinen Freunden bei jeder
sich bietenden Gelegenheit.
Einer davon ist Mario, mein bester Freund. Wir kennen uns bereits seit unserer Schulzeit; das sind mittlerweile sechzehn Jahre. Mario ist ein wenig verrückt. Nicht so verrückt, wie Sie nun vielleicht denken mögen. Nein, Mario ist ein absolut lieber Mensch und ich bin froh, ihn zum Freund zu haben. Das Verrückte an ihm ist, daß er ständig mit neuen Erfindungen ankommt. Nicht, daß es wirklich Erfindungen wären. Mario bastelt und experimentiert sehr gerne und aus diesem „Forscherdrang“ sind schon die merkwürdigsten Erfindungen entstanden. Einmal baute er eine Kaffeemaschine mit einer Zeitschaltuhr. Ich weiß nicht, ob es so etwas schon gibt; ich trinke keinen Kaffee und deshalb interessieren mich die Geräte zur Zubereitung herzlich wenig. Aber immerhin hatte er etwas entwickelt - und das ganz alleine.
Schon während
unserer gemeinsamen Schulzeit hatte Mario besonders starkes Interesse an
elektronischen Dingen. Eines Tages kam er während der Pause auf mich zu und
hielt mir einen kleinen schwarzen Gegenstand vor die Nase. Es war ein
Haifischabwehrgerät, welches er in den letzten Wochen zusammengebaut hatte. Ein
Gerät, welches mit einer kleinen 1,5 Volt-Baterie betrieben wurde, einem Hai
(oder auch Menschen) einen gehörigen Schock verpaßte, wenn man die beiden
metallenen Scheiben an der Vorderseite berührte.
Dieses kleine
schwarze Gerät war erst der Anfang. Später, während seines Physikstudiums (er
ist im sechsten Semester) versuchte Mario sich an kleinen Robotern. Die ersten
Versuche waren recht kläglich. Zunächst schaffte er es nur, fahrende, mit
Reifen bestückte Wagen zu bauen, die durch eine intelligente Elektronik in der
Lage waren, Hindernisse zu umfahren. Doch Mario wurde immer besser im
Konstruieren dieser künstlichen Lebensformen. Schließlich schaffte er es,
Geräte mit sechs Beinen zu entwickeln, die Insekten sehr ähnlich waren. Diese
Dinger schafften es über Steine zu spazieren, Treppen zu steigen oder sogar -
dank Haftfüßen - eine Wand senkrecht emporzuklettern.
Ich war immer fasziniert von den Dingen, die Mario entwickelte
und fragte mich oft, woher er die Zeit nahm, all dies zu bauen; und vor allem
das Geld. Mario hatte nur einen kleinen Nebenjob als Lagerist in einem
Computerversand übernommen, doch den großen Reihbach machte er damit nicht. Er
schrieb auch ein oder zwei Abhandlungen über die Entwicklung von Künstlichen
Intelligenzen, wie Mario sie nannte. Diese Texte wurden auch in
Fachzeitschriften veröffentlicht, aber daher konnte Mario nicht das gesamte
Geld haben, das er für die elektronischen und mechanischen Teile seiner Roboter
ausgab.
Wie dem auch sei. Eines Tages überraschte mich Mario mit einer
neuen Erfindung. Er sagte mir, er hätte etwas besonderes erschaffen. Etwas, das
die Welt noch nicht in dieser Art gesehen hätte. Etwas, was die Menschheit
möglicherweise beunruhigen könnte; oder aber auch völlig verändern konnte.
Als ich Marios Erfindung zum ersten Mal sah, blieb mir die Luft
weg.
2
Ich hätte nie geglaubt, daß
ich eine neue Liebe finden würde. Doch an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal
sah, war mir bewußt, daß es nicht nur meine Ex geben würde.
Fast vier Monate bin ich ihr hinterhergelaufen, nachdem sie mit mir Schluß gemacht hatte. Vier Monate, in denen mein Leben völlig aus den Fugen geriet. In dieser Zeit vernachlässigte ich mein Studium - ich studiere Medienwissenschaften - total. Mein einziges Interesse galt ihr: Lea Martins. Die Frau, von der ich vor einem halben Jahr noch behauptet hätte, ich würde bereit sein, mein ganzes Leben mit ihr zu verbringen. Ja, sogar an Heirat dachte ich. Und das, obwohl ich sie in dem halben Jahr, in dem wir zusammen waren - falls man es wirklich so nennen konnte - sie nicht mehr als zwei Wochen gesehen habe. Die Entfernung zwischen ihr und mir war einfach zu groß. Manchmal denke ich, daß es nicht nur die Entfernung in Kilometern war, die uns einfach nie richtig zusammengebracht hat.
An dem Tag, an dem ich meine neue Liebe zum ersten Mal sah, kam
Mario auf mich zugelaufen. Ich ging gerade die Stufen der Universität herunter
und schlenderte an den unzähligen Fahrrädern und Studenten vorbei, die sich vor
dem Gebäude aufhielten, da hörte ich ihn.
„Hey, Frank“, rief er, während er hinter mir herlief und
versuchte an meine Seite zu gelangen. Zunächst hörte ich ihn gar nicht. Das
Wetter war zu schön und ich war mit meinen Gedanken weit weg. Nicht in dieser
Stadt und nicht bei der Uni oder bei Mario. Weit weg, an einem anderen Ort, an
dem Lea gerade mit einem anderen Mann schlief.
„Frank, was ist los?“, fragte Mario, als er schließlich neben
mir ging. Sein Klaps auf meine Schulter hatte mich aus meinem Tagtraum in die
Realität zurückgeholt. „Du siehst aus, als ob du gar nicht hier wärst“, sagte
er.
„Vielleicht hast du damit gar nicht so unrecht“, antwortete ich
und versuchte ein kleines Lächeln hervorzubringen. Doch es wollte mir nicht
gelingen. Ich war innerlich zu aufgewühlt - die Gedanken an Lea waren einfach
zu schmerzvoll - als daß ich ein Lächeln zustande gebracht hätte.
Mario sah mich an und schüttelte den Kopf. „Es ist doch nicht
wieder wegen Lea“, wollte er wissen. Ich überlegte und kam zu dem Entschluß,
daß ich ihm diesmal nicht die Wahrheit sagen würde. Nicht an diesem schönen
Frühlingstag, an dem der Himmel so blau war, wie die Augen in die ich bald
blicken würde. Ich schaute Mario an. Er war ein stämmiger junger Mann,
siebenundzwanzig Jahre alt mit kurzem Haar. Den meisten Teil seines Gesichts
bedeckte ein Dreitagebart, doch darüber waren seine kleinen, liebenswerten
Augen zu erkennen, hinter denen irgend etwas funkelte.
‚Vielleicht hat er wieder etwas neues erfunden‘, dachte ich. Wenn dem so war, dann konnte ich ihn wirklich nicht mit meinen Gefühlen für Lea belästigen. Das hatte ich schon zu oft getan und er hatte mir immer zugehört. Wenn ich auch nicht sicher war, daß es ihm jedes Mal gefiel. Jetzt war es Zeit, Mario, meinem besten Freund, zuzuhören. Egal, was er mir erzählen würde. Egal, ob er mir damit auf die Nerven ging oder nicht.
„Nein“, sagte ich kurz. „Es ist nicht wegen Lea. Ich mache mir
nur Gedanken wegen meiner Prüfung in der nächsten Woche. Ich habe so gut wie
noch gar nichts gelernt“.
Das war selbstverständlich eine Lüge. Natürlich hatte ich gelernt.
Die letzten vier Wochen saß ich jeden Tag vor meinem Schreibtisch und büffelte
ununterbrochen. Auch wenn es mir sehr schwer fiel, denn meine Gedanken
drifteten ständig in eine andere Richtung ab.
„Dann ist ja gut“, sagte Mario. „Ich dachte schon, du würdest
wieder von ihr anfangen. Jetzt, wo du doch über sie hinweg bist.“
Über sie hinweg sein? Das war stark übertrieben. Ich glaubte in
dem Moment, wo Mario dies sagte, ich würde nie über sie hinweg kommen. Wie
sollte man auch über eine Frau hinwegkommen, die man mit seinem ganzen Herzen
geliebt hatte und immer noch liebte? Die für einen die wunderbarste Person auf
der ganzen Welt war. Für die man auch jetzt - nach all den Dingen die sie einem
angetan hatte - alles tun würde. Für die es sich sogar lohnte zu sterben.
Aber nein, das ist völliger Unfug, liebe Leser. Wenn ich nun
darüber nachdenke, frage ich mich, warum ich überhaupt soviel für Lea empfunden
habe. Für eine Frau, die im Grunde nur mit einem gespielt hat, die einen
ausgenutzt hat; die einen schließlich eiskalt abserviert hat. Eine Antwort
finde ich darauf nie. Vielleicht gibt es auch keine Antwort, vielleicht kann
man nicht begreifen, warum ich sie so sehr geliebt hab. Und vielleicht muß man
erst einmal in meine Situation kommen um zu verstehen, wie so etwas überhaupt
möglich ist.
„Nein, Mario. Sie ist für mich gestorben“, sagte ich und
versuchte, den Schmerz, der in meiner Kehle aufstieg zu unterdrücken. „Ein für
alle Mal gestorben.“
Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Wir erreichten einen
kleinen Park, in dem bei diesem Wetter allerhand los war. Pärchen gingen Hand
in Hand (was tief in meinem Inneren wieder einen Schmerz auslöste), Kinder
spielten auf dem Rasen und zwei junge Frauen unterhielten sich über ihre
Männerbekanntschaften.
„Weißt du, ich habe etwas neues entwickelt“, sagte Mario ganz
plötzlich. Er sagte es, als ob es die natürlichste Sache auf der Welt wäre;
einfach so, ohne irgendwelche Anzeichen von Freude oder Nervosität zu zeigen.
Aber ich wußte, in seinem Inneren, recht nah unter der Oberfläche, brodelte ein
Vulkan, der kurz vor der Eruption stand.
„Na, das ist ja toll“, sagte ich ein wenig resignierend. Es war
nicht gut, wenn man Mario zeigte, daß man nur darauf brannte zu wissen, was er
diesmal ausgetüftelt hatte. Mario zeigte seine wahren Gefühle nicht, warum
sollte ich es tun. Außerdem kannten wir uns gut genug um zu wissen, was der
andere fühlte. Schließlich fügte ich noch hinzu: „Was ist es denn?“
Da konnte Mario nicht mehr anders. Es sprudelte regelrecht aus
ihm heraus. Er wollte alles für sich behalten, bis wir bei ihm in seinem Zimmer
standen und er es mir zeigen konnte. Aber er konnte einfach nicht alles
zurückhalten. „Es ist das größte, was ich jemals erfunden habe“, rief er und
fuchtelte mit seinen Händen nervös vor meinem Gesicht herum. „Du wirst sehen,
so etwas hat die Menschheit noch nie gesehen.“
„Sag schon, was ist es?“ Jetzt konnte ich meine Neugierde nicht
mehr verbergen. Die Gedanken an Lea waren weit entfernt. Ich wollte nur noch
wissen, was für ein Ding Mario diesmal gebaut hatte. Wahrscheinlich nur wieder
ein Mixer, der auf Spracheingabe reagierte, aber wenn es das sein sollte, dann
sollte es so sein. Wenn Mario sich glücklich mit seiner Erfindung fühlte, dann
war ich es auch. Hauptsache ich fühlte mich glücklich und konnte manche Sachen
für ein paar Stunden verdrängen.
„Kann ich dir noch nicht verraten“, spannte Mario mich auf die
Folter. „Wir gehen jetzt in mein Labor, dann siehst du es.“ Mario machte eine
kleine Pause und sah mich mit leuchtenden Augen an. „Ich sage dir nur eins: es
wird dir gefallen.“
Und wie es mir gefiel.
3
Sie hatte die strahlendsten
Augen, in die ich je in meinem Leben geblickt hatte. Das frische Blau ihrer
Iris umspielte ihre tiefschwarzen Pupillen. Kaum ein Mann hätte es verhindern
können darin zu versinken. Ich versank auch. Es war, als ob ich ins kalte
Wasser gestoßen worden wäre und nun langsam und dann immer schneller auf den
Grund hinabsinken würde. Ich mußte die Luft anhalten, traute mich nicht zu
atmen. Mein Herz schlug derart heftig in meiner Brust, daß ich befürchtete, sie
könnte es unter meinem Hemd pulsieren sehen. Von dem Moment war ich gefangen;
gefangen in ihren Augen. Ein Gefängnis, aus dem man nur schwer ausbrechen
konnte. Falls man dies überhaupt wollte.
Wir betraten das Labor kurz
nach Drei. Mario legte seine Bücher, die er den Weg von der Uni unter den Arm
geklemmt hatte, auf einen kleinen Tisch neben der Tür. Die beiden Neonröhren
flackerten, als sich Mario vor seinen Computer setzte und diesen zu starten
begann. Langsam wurde es hell in dem kleinen Raum. Hell ist allerdings der
falsche Ausdruck. Zwar gaben die Leuchtstoffröhren Licht ab, es gelang ihnen
jedoch nicht, den Raum in all seinen Ecken zu erhellen.
„Setz dich“, sagte Mario und deutete auf eine Kiste in der Ecke
neben der Tür. Abgesehen von Marios Drehstuhl gab es nur diese spärliche
Sitzgelegenheit in dem Labor. Mario hatte den kleinen Kellerraum „Labor“
getauft; in Wirklichkeit war es eine kühle, kalt wirkende Kammer, in der eine
Menge elektronisches Zeugs untergebracht war. Ich verstehe zwar einiges von
Elektronik und Computern, was Mario jedoch im Laufe der Jahre hier
zusammengebaut hatte, blieb mir immer ein Rätsel. Mehrere Computer waren zu einem Großrechengehirn vernetzt,
Platinen lagen - für den Laien - wahllos herum, meterweise Kabel schmückte die
dunklen Wände. Es sah aus, als wäre dies ein Geheimlabor der Stasi.
Als ich mich auf der Kiste niedergelassen hatte, fiel mir eine
Tür in der linken Ecke des Raumes auf. Beim näheren Betrachten merkte ich, daß
dies nicht direkt eine Tür war. Es war eine große, längliche Kiste, die an der
Vorderseite eine Tür besaß. Die Kiste war schwarz und reichte bis unter die
Decke. Sie hätte einer Person genügend Platz gegeben.
„Was ist denn das?“, fragt ich Mario und nickte mit dem Kopf in
Richtung der Kiste.
Mario drehte sich zu mir um. Der Computer war inzwischen
betriebsbereit und mein Freund begann, Kommandos in die Tastatur einzugeben.
Mario hackte mit unglaublicher Geschwindigkeit die Befehle in den Rechner, daß
man noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehen konnte, was er gerade tat.
„Warte noch einen Moment“, antwortete Mario und drehte sich
wieder dem Computer zu. „Gleich wirst du sehen, was das ist.“
„Ist das deine neue Erfindung?“, wollte ich wissen. „Eine Kiste
mit einer Tür?“
„Nein, du Dummkopf“, antwortete Mario. „Das ist nur einfaches
Holz mit ein paar Elektromotoren zum Öffnen der Tür.“
„Und wozu ist die gut? Kann man sich damit
beamen, oder ähnliches?“
„Nein, beamen ist unmöglich. Denke nur einmal an die
Heisenbergsche Unschärferelation“, sagte Mario und kümmerte sich weiter um den
Computer. Möglicherweise hätte er mir jetzt einen Vortrag über die
Unmöglichkeit des Beamens gehalten; daß es unmöglich war, die Atome eines
Menschen genau zu erfassen, in Energie zu verwandeln und an anderer Stelle
wieder zusammenzusetzen. Aber Mario war zu beschäftigt, einige Konfigurationen
in den Programmen einzustellen.
„Es ist eher ein Brutkasten“, sagte er und drehte sich zu mir
um. „Die Einstellungen sind fertig, die Parameter gesetzt. Wenn du möchtest,
zeige ich dir, was es mit dem Kasten auf sich hat.“
„Ein Brutkasten?“, wollte ich wissen. Mir war bekannt, daß Mario
ein Genie war, besonders im Roboterbau. Aber daß er nun etwas Lebendiges erschaffen
hatte; etwas, daß einen Brutkasten benötigte? Etwas aus Fleisch und Blut?
„Keine Angst“, sagte Mario. „Ich nenne ihn nur so. Mir fiel
einfach nichts besseres für den Kasten ein.“ Und nach einer kurzen Pause fügte
er hinzu: „Willst du’s nun sehen?“
Ich nickte nur und schaute gebannt auf den Kasten mit der Tür.
Mario drückte einen Knopf an seinem Computer, ein Piepen war zu hören und dann
begannen die kleinen Elektromotoren die Tür von der schwarzen Kiste zu öffnen.
4
Was aus Marios Brutkasten
kam, war kaum zu glauben. Zunächst wollte ich meinen Augen nicht trauen, als
ich es sah. Zwei Füße kamen am unteren Rand der sich langsam öffnenden Tür zum
Vorschein. Kleine, zierliche Füße, die einer Frau zu gehören schienen. Als die
Tür weiter offen war und mehr Licht ins Innere dringen konnte, konnte ich auch
zwei Beine an den Füßen sehen. Dann folgten zwei Hände, zwei Arme und
schließlich ein ganzer Körper. In Marios Brutkasten stand eine junge Frau.
„Was ist das“, fragte ich Mario und sah die junge Frau
überrascht an.
„Was soll das heißen, was ist das? Hast du noch nie eine Frau
gesehen?“ Mario kam auf mich zu und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Doch, das habe ich. Aber... was ist... wie hast du das...“ Ich
wußte einfach nicht, was ich frage sollte. In dem Kasten, den Mario
„Brutkasten“ nannte, stand die wunderbarste Frau, die ich je in meinem Leben
gesehen hatte. Sie war etwa ein Meter und siebzig groß, hatte schulterlanges,
blondes Haar und die schönsten blauen Augen, in die ich jemals geblickt hatte.
„Das ist meine neueste Erfindung“, sagte Mario triumphierend.
„Ist sie nicht umwerfend?“
Ja, das war sie. Sie ließ mein Herz höher schlagen. Sie stand
reglos da, aber irgend etwas sagte mir, daß ich sie begehrte.
„Aber du kannst doch keinen Menschen erschaffen“, sagte ich. Es
klang fast wie eine Frage.
„Das habe ich auch nicht“, entgegnete Mario. Als er sah, daß ich
nicht ganz begriff, worauf er hinaus wollte, fügte er hinzu: „Sie ist eine
Androidin. Ein Roboter.“
Das war zu viel für mich. Ich ging langsam auf die Kiste zu, die
als Sitzgelegenheit diente, und ließ mich darauf nieder. Meine Beine waren zu
weich geworden, als daß ich hätte weiterhin stehen können. Eine Androidin?
Verdammt, wie war so etwas möglich? Diese Sachen gab es doch nur in Science-fiction
Geschichten. Und außerdem, wie sollte Mario es geschafft haben, so etwas zu
erschaffen? Dazu brauchte man doch Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß mein bester Freund dies vollbringen
konnte, auch wenn er noch so begabt war.
„Du glaubst mir nicht, was“, fragte er.
„Nun, es ist nur so...“ Ich stockte einen Moment, dann fuhr ich
fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß so etwas möglich ist.“
„Sie steht doch vor dir, oder? Du kannst sie sehen und berühren.
Also, was brauchst du für Beweise, daß sie echt ist?“
„Ich weiß nicht“, entgegnete ich. Ich wußte es wirklich nicht.
Was für Beweise brauchte man, damit man glauben konnte, was man sah. Ist der
Tisch wirklich ein Tisch oder denkt man nur, es sei ein Tisch? „Vielleicht,
wenn sie sich bewegt...“
„Okay, nichts leichter als das“, sagte er und ging zu seinem
Computer. Er tippte ein paar Befehle ein und die Androidin kam aus dem
„Brutkasten“ hervor. Sie ging anmutig und schien fast zu schweben. Mir blieb vor
Verwunderung fast Das Herz stehen, ich mußte mich überwinden regelmäßig zu
atmen. Verdammt, wie konnte er das geschafft haben?
Die Androidin kam auf mich zu. Ich spürte ihre Wärme (‚Ein
künstliches Wesen strahle doch keine Wärme aus‘, dachte ich) und konnte schwach
den Geruch ihrer Haare wahrnehmen. Als sie nur noch wenige Zentimeter von mir
entfernt war, streckte sie ihre Hand aus.
„Hallo, ich bin Maya“, sagte sie und lächelte.
Total verwirrt schaute ich sie an. Dann gab mir Mario einen
Stups als wollte er sagen: ‚Begrüße sie schon. Na los.‘ Ich gab ihr meine Hand.
Ich spürte ihre seidige Haut und den leichten Druck ihrer Finger als wir und
die Hände schüttelten.
„Hallo“, stammelte ich. „Ich bin Frank.“
Die Androidin lächelte immer noch sah sich dann in dem kleinen
Kellerraum um. Sie schaute zurück zu dem Kasten aus dem sie gekommen war. Ich
sah Mario immer noch ungläubig an. Er
konnte es nicht gewesen sein. Es war einfach unmöglich, daß er diese Frau erschaffen hatte.
„Ich sehe, du bist immer noch verwirrt und willst es nicht
glauben“, sagte er.
„Es ist nur so, daß ich einfach nicht kapiere, wie du das
hinbekommen hast. Ich meine, ich traue dir viel zu, aber einen Androiden zu
erschaffen geht weit über deine Begabung hinaus.“
„Ja, das dachte ich auch einmal“, sagte er und packte mich an
der Schulter. „Komm mit, wenn du willst, erkläre ich dir alles.“
Wir gingen zusammen zu seinem Computer und Mario erklärte mir,
wie er Maya erschaffen hatte. Und zum ersten Mal, wenn es um seine Erfindungen
ging, hörte ich ihm ganz genau zu.
5
Ich erlebte den schönsten
Frühling meines Lebens. Nie zuvor hatte ich mich so glücklich und zufrieden
gefühlt, wie zu der Zeit, als ich mit Maya zusammen war. Wir verbrachten jede
freie Minute miteinander, lachten, weinten und waren einfach nur glücklich und
zufrieden, daß wir uns getroffen hatten.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir uns das
erste Mal küßten. Wir waren mit ein paar Freunden abends ausgegangen. Zuerst
hatten wir ein wenig Billard gespielt, dann hatten wir bei „Luigi’s“ eine Pizza
gegessen. Es war eine kleine Pizzeria, das Untergeschoß war gerade einmal so
groß, daß eine Theke und ein große Backofen darin Platz fand. Eine steile
Wendeltreppe führte in die erste Etage, in der sich ein paar Tische und Stühle
befanden. Dort hatten wir gesessen und unsere Pizzen gegessen. Ich teilte mir
eine Salami-Pizza mit Maya. Wir scherzten und neckten uns und als wir etwa eine
halbe Stunde später die Pizzeria verlassen hatten, nahmen wir uns in den Arm um
uns zu wärmen. Es war zwar schon März, aber die Nächte waren dennoch recht kühl
gewesen.
Wir hatten einen kleinen Platz in der Stadt überquert. Zu dieser
Zeit hatten sich keine weiteren Personen außer uns dort aufgehalten. Meine
Freunde waren einige Meter vor uns hergegangen; anscheinend wußten sie, daß es
bald zwischen uns so richtig funken würde. Ich betrachtete die Sterne mit Maya;
sie zeigte mit den Großen Wagen und ich konnte nicht anders, als sie noch näher
an mich zu drücken. Eng umschlungen waren wir den Platz entlang geschlendert.
Plötzlich berührten sich unsere Wangen, dann küßten wir uns. Ich weiß auch
nicht genau, wie dies passierte. Plötzlich waren ihre Lippen auf meinen, es
waren die wärmsten und weichsten Lippen, die ich je in meinem Leben gespürt
hatte. Wir küßten uns eine halbe Ewigkeit und meine Freund machten sich schon
ein wenig Sorgen, als wir nicht am Platz, wo wir unsere Wagen geparkt hatten,
erschienen. Aber das kümmerte uns nicht. Für uns gab es in diesem Moment nur
uns beide – und unsere Zungen, die wild und entschlossen in unseren Mündern
umher wühlten.
„Wovon träumen Androiden?“, fragte Maya mich eines Tages. Ich
sah sie verwirrt an, so eine Frage hätte ich nicht von ihr erwartet. Woher
sollte ich auch wissen, was Androiden während des Schlafs tun. Ich wußte ja
noch nicht einmal, ob sie überhaupt schlafen und träumen können. Und wenn
jemand die Antwort wissen sollte, dann doch sicher Maya.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete ich. „Vielleicht von
Schaltkreisen und Prozessoren oder irgend so einem Zeugs.“ Ich wollte witzig
sein, fand aber, daß es mehr als lächerlich klang. In so einer Situation sollte
man nicht witzig sein. Das war wahrscheinlich mein größter Fehler, ich wollte
immer lustig sein, auch wenn es nicht angebracht war.
„Nein“, sagte sie. „Wir träumen vom Meer und einer einsamen
Insel. Ich habe das Meer noch nie gesehen, aber ich weiß wie es aussieht. Ich
habe alles hier drin.“ Sie tippte mit ihrem Finger an ihre Schläfe. „Ich habe
so viele Aufzeichnungen, aber ich habe so vieles noch nicht in der Wirklichkeit
gesehen. Ich möchte noch so viele Dinge sehen, so viel erleben. Ich möchte ans
Meer fahren und den Duft von Algen und Salz einatmen. Davon träume ich nachts.“
Sie machte eine kurze Pause. Dann fügte sie hinzu: „Und ich träume von dir. Und
davon, wie wir unser Leben zusammen verbringen.“
Ich sah sie an und mußte lächeln. Ich konnte nicht anders. Maya
war zwar nur eine Maschine, auch wenn mir das nie so bewußt war, aber sie war
dennoch menschlicher als viele Leute, die ich kannte. Sie war einfach
wunderbar. Ich nahm sie in den Arm und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange.
„Ich liebe dich“, sagte ich.
Wir gingen sehr viel
spazieren. In der Gegend, in der Mario wohnte, gab es einen kleinen Park mit
einem Weiher. Ringsherum um das Wohnviertel erstreckte sich ein ausgedehnter
Wald. Dort schlenderte ich mit Maya durch die warme Frühlingssonne. Zugegeben,
ich hielt früher nicht sehr viel vom Spazierengehen. Dies war für mich ein
überflüssiger Zeitvertreib, aber dank Maya fand ich Gefallen daran. Ich weiß
noch, wie sie mir einmal sagte, daß unsere Spaziergänge mit das schönste in
unserer Beziehung seien. Ich lächelte sie an und gab ihr einen kleinen Kuß. In
ihren Augen sah ich, daß sie es wirklich so meinte. Wie konnte sie es auch
anders meinen? Sie war eine Androidin, ein Roboter, eine künstliche
Intelligenz, und diese konnte kaum nicht die Wahrheit sagen. Aber die Tatsache,
daß sie so war, verdrängte ich schnell. Ich hatte sie lieben gelernt, mit all
ihren Fehlern. Aber vielleicht waren es auch die Fehler, die kleinen
Unvollkommenheiten, die sie für mich so liebenswert machten. Es gibt nun mal
nicht den Menschen, der frei von Fehlern und Mängeln ist. Und das macht es ja
gerade erst so interessant.
„Die sieht aus wie ein Vogel, findest du nicht“, fragte Maya und
zeigte auf eine kleine Wolke am sonst strahlend blauen Himmel. Wir gingen eng
umschlungen einen kleinen Weg entlang, der um einen kleinen See führte.
„Für mich sieht das eher nach einem Reh aus“, entgegnete ich.
Sie sagte, das könne nicht stimmen, es sei definitiv ein Vogel. Dann lachten
wir beide und schauten uns noch weitere Wolken an, bis wir endlich wieder zu
Hause waren. Es waren so viele Wolken am Himmel und Maya sah in jeder eine
andere Figur. Mal eine Katze, einen Hund oder eine Blume. In einer besonders
schönen Wolke, die in einem strahlenden Weiß über uns hinweg zog, erkannte sie
ein Herz. Dann sah sie mich an, wir schauten uns lange in die Augen und küßten
uns. Ein paar Wanderer gingen an uns vorüber, doch wir beachteten sie nicht.
Wir waren in einem nicht enden wollenden Kuß gefangen, einem Kuß, der mich dort
oben bei den Wolken schweben ließ und den ich auch heute noch auf meinen Lippen
spüre.
An diesem Tag schliefen wir das erste Mal miteinander. Ich wußte
nicht, wie Mario es geschafft hatte, aber er hatte Maya einen wunderbaren
Körper gegeben, mit allen Attributen, die eine Frau besitzt. Wir küßten uns
leidenschaftlich, dann ließen wir uns langsam auf mein Bett gleiten. Maya
stöhnte leise unter meinen Liebkosungen, sie genoß es, wie ich ihre kleinen,
festen Brüste streichelte, sanft an ihren Brustwarzen sog. Als ich in sie
eindrang, schrie sie kurz auf. Damals dachte ich nicht darüber nach, aber heute
scheint es mir so, als ob ich ihr erster Mann gewesen war. Sie war eine Androidin,
ein künstliches Wesen, aber Mario hatte ihr all das gegeben, was eine richtige
Frau ausmachte.
Wir liebten uns langsam und sehr zärtlich. Immer wieder küßte
ich sie, atmete ihren lieblichen Duft ein und streichelte sanft durch ihr
offenes Haar. Sie sah mich mit ihren großen Augen an und fast schien es so, als
könnte ich darin Sterne erkennen. Als sie kam, krallte sie ihre Finger in
meinen Rücken und bäumte sich leicht auf. Immer wieder flüsterte sie mir ins
Ohr, wie sehr sie mich liebte.
Dann lagen wir eng umschlungen nebeneinander. Wir redeten nicht,
wir lagen einfach nur da und genossen, was so eben geschehen war. Ich hörte sie
leise atmen und spürte ihre Luftzüge auf meiner Haut. Ich dachte, daß ich wohl
einer der glücklichsten Menschen auf der Erde, ja vielleicht sogar im ganzen
Universum, sei. Von diesem Augenblick an wußte ich, daß ich mein Leben mit Maya
verbringen wollte. Ich würde sie heiraten, eine Familie mir ihr gründen und mit
ihr alt werden – und zusammen mit ihr sterben.
Ich dachte, daß das Leben mir nichts Schlimmes mehr anhaben
konnte. Aber wie öfters in meinem Leben lag ich falsch.
6
Es geschah ohne Vorwarnung.
Ich ging zu Mario um Maya zu besuchen. Wir wollten einen langen Spaziergang am
See entlang machen. An dem selben See, an dem wir die Wolken beobachtet hatten.
Der See, den Maya so sehr mochte, der einer ihrer Lieblingsorte war.
Ich holte Maya ab und wir gingen den kleinen Weg durch den Wald
zum See hinunter. Maya betrachtete die Vögel, die Wolken, die Kühe auf der Wiese.
Sie war neugierig auf alles. Und obwohl sie schon eine Zeit auf dieser Welt war
(oder besser gesagt, einige Zeit funktionierte), entdeckte sie immer wieder
neue Dinge, die ihr ein Lächeln auf die Lippen drückten.
Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, als es passierte. Maya
zuckte plötzlich zusammen und griff sich an den Kopf. Zunächst begriff ich
nicht, was los war. Doch als sie schließlich auf die Knie fiel und vor
Schmerzen schrie, wußte ich, daß etwas absolut nicht stimmen konnte. Maya
hämmerte sich immer wieder mit der Faust gegen ihre recht Schläfe.
Maya rief meinen Namen und sagte, ich solle ihr helfen. Doch wie
konnte ich? Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Schaltkreisen. Die Neuronen in
ihren Leitungen schienen verrückt zu spielen. Ich hielt ihre Hand und versuchte
sie zu beruhigen. Schweiß trat auf ihre Stirn, sie atmete heftig.
„Hilf mir, Frank“, sagte sie und schaute mich verzweifelt an.
„Bitte hilf mir.“
Ich versuchte zu lächeln, doch es gelang mir nur schlecht. Die
Frau, die ich so sehr liebte, lag auf dem Boden und war auf dem besten Weg zu
sterben. Sie mußte eine Fehlfunktion erlitten haben, aber ich war sicher nicht
der richtige, der den Fehler beheben konnte.
Ich holte mein
Handy aus der Tasche und rief Mario an. Er war der einzige, der mir in dieser
Situation helfen konnte. Der einzige, der Maya helfen konnte. Er hatte sie
erschaffen, er wußte, was zu tun war.
Als Mario zwanzig Minuten später eintraf, war Maya still
geworden. Ich hatte sie auf die Holzbank geschleppt und dort hingelegt. Immer
noch hielt ich ihre Hand und fühlte ihren schwachen Puls, als Mario mit seinem
Fahrrad den Waldweg entlang gefahren kam. Er war völlig außer Atem, so schnell
war er den Weg von seiner Wohnung zu der Stelle, wo Maya und ich waren,
gefahren.
„Was ist passiert?“, fragte er. Mario schaute Maya an,
fassungslos, daß so etwas jemals passieren konnte. Sie war seine Kreation, er
hatte sie geschaffen. Jahre hatte er an ihr gearbeitet und nun lag sie im
Sterben. Er konnte es nicht begreifen.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete ich und sah ihn hilflos an. „Sie
brach plötzlich zusammen, murmelte etwas unverständliches und dann wurde sie
still.“
Mario sah sich Maya genauer an. Er hob ihren Kopf und öffnete
eine kleine Klappe in ihren Schädel. Winzige Drähte, Lämpchen und Schaltkreise
kamen zum Vorschein. Ich schaute weg, es tat mir weh, sie so zu sehen. In den
Tagen, die wir miteinander verbracht hatten, war mir nur selten bewußt gewesen,
daß sie eine Androidin war. Für mich war sie immer Maya, die Frau, die ich
liebte. Eine Person wie jede andere auf der Welt. Kein Roboter, der sein Leben
nur der Arbeit eines Menschen verdankt.
„Der Fehler scheint bei den neurosynaptischen
Kopplungsprozessoren zu liegen“, erklärte mir Mario, doch ich wollte es nicht
hören. Was machte es für einen Unterschied, ob sie nun aufgrund von dem
Versagen der Prozessoren starb oder an einem Herzstillstand. Für mich war es
ein und dasselbe. Sie lag im Sterben und das war einfach zu viel für mich. Ich
setzte mich auf den Boden und fing an zu weinen. Aus den Augenwinkeln sah ich,
wie Mario krampfhaft versuchte, Maya zu retten. Doch ich wußte, daß es zu spät
sein, daß ich Maya nie wieder lächeln sehen würde.
Mario hob Maya auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Er lehnte
sie vorne über und legte ihren Kopf behutsam auf den Lenker. „Wenn wir uns
beeilen, können wir möglicherweise noch etwas tun“, sagte er und forderte mich
auf, ihn zu seinem Labor zu begleiten. Doch ich hatte keine Lust, in Marios
Labor zu gehen. An diesem Ort hatte ich sie zum ersten Mal gesehen, dort wurde
Maya geboren und dort würde sie sterben. Ich wollte nicht zusehen, wie sie nur
still da lag und langsam dem Tode entgegen glitt. Ich wußte, Mario würde alles
für sie tun, was er konnte, aber mir war klar, daß er es nicht schaffen würde.
Ich wollte einfach nicht mit ansehen, wie sie auf einem kalten Steinboden im
Keller starb. Ich wollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.
Ich sagte Mario, daß ich nicht mitkommen würde. Nach einigem
Zögern ging er fort. Er schob sein Fahrrad, auf dem Maya lag, den kleinen
Waldweg entlang und nach kurzer Zeit war er aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich stand auf, ging ein paar Schritte weiter und setzte mich auf einen
umgefallenen Baum. Die Tränen liefen mir immer noch die Wangen herunter und ich
hatte Angst, daß sie niemals aufhören würden.
„Warum mußte das passieren“, murmelte ich leise. In der Ferne
zwitscherten fröhlich die Vögel, so als ob es der schönste Tag auf der Welt
sei. Irgendwo lachten Kinder und ein paar Meter entfernt konnte ich ein junges
Paar eng umschlungen spazieren gehen sehen. Vielleicht war es der wunderbarste
Tag – nur nicht in meinem Leben. Für mich war die Sonne untergegangen und
dunkle Wolken zogen über mich her aus denen Sturzbäche auf mich herunter prasselten.
‚Warum?‘, dachte ich. Doch ich fand keine Antwort auf diese
Frage. Vielleicht lag es einfach in der Natur, daß alles einmal enden mußte.
Aber wieso so schnell? Wieso waren ihr nicht noch ein paar Tage mehr vergönnt?
Irgend jemand hatte einmal gesagt: „Das Leben ist wie eine
Windel. Beschissen und kurz.“ Und wenn ich auch nicht glauben mag, daß es
beschissen ist (schwierig, schmerzhaft oder ungerecht vielleicht – aber nicht
beschissen), so ist es doch kurz. Zu kurz um all das zu erleben, was man möchte.
Zu kurz um seiner Liebe all das zu sagen, was man möchte. Man denkt, man hat
alle Zeit der Welt ihr zu sagen, wie sehr man sie liebt, ihr zu zeigen, was man
für sie fühlt. Doch wenn man es nicht sofort macht, dann ist es meistens zu
spät.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch auf dem Baumstamm gesessen
habe, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Am Horizont ging langsam die Sonne
unter und entzog dem Tag das Licht. Bald würde es dunkel sein, die Nacht würde
hereinbrechen. Eine Nacht, die für viele Menschen auf der Welt wie immer sein,
die morgen schon vorbei sein würde. Aber für mich wurde es die längste Nacht
meines Lebens.
7
Wir begruben Maya auf einem
kleinen Hügel, irgendwo auf einer Lichtung im Wald. Mario und ich hatten ein
einfaches Loch geschaufelt, in das wir Mayas Körper hinabließen. Kein Sarg,
keine großartige Begräbnisrede. An das Kopfende des Grabes stellten wir eine
kleine Holzplatte als Grabstein auf. Wir wußten nicht so recht, was wir darauf
schreiben sollten; schließlich überließ Mario mir die Entscheidung. Im Grunde
benötigte ich nicht lange, um zu wissen, wie die Inschrift lauten sollte. Doch
Zweifel kamen mir auf, ob auch jeder diese verstehen würde. Ob jemand überhaupt
verstehen konnte, daß man einen Androiden, einen künstlich geschaffenen Menschen,
genauso lieben kann, wie einen aus Fleisch und Blut. Mittlerweile denke ich,
daß es sicherlich einige Personen auf der Welt gibt, die mich verstehen – und
die in meiner Situation sicher genau die selbe Entscheidung treffen würden: der
Liebe ihres Lebens treu zu bleiben, egal was kommen mag.
Als ich mir darüber klar wurde, sah die Welt ein wenig
fröhlicher für mich aus. Zwar schmerzte mein Herz immer noch und Maya fehlte
mir sehr (sie fehlt mir heute immer noch). Aber ich war nicht ganz allein auf
der Welt mit meinem Schmerz und das gab mir ein wenig Hoffnung. Ich die
Holzplatte und schrieb folgende Widmung unter Mayas Namen:
Die wahre Liebe meines
Lebens.
Als ich den Satz geschrieben hatte, gefiel er mir plötzlich nicht mehr. Der ganze Grabstein, wenn man von einem Stein sprechen konnte, gefiel mir nicht mehr. Es sah irgendwie zu förmlich, zu alltäglich aus. Zuerst Mayas Name, dann ihr Geburts- und Todestag und schließlich meine persönliche Widmung.
Ich ging in den Keller und holte eine neue Sperrholzplatte, die
ich so ähnlich wie die erste zurechtmachte. Ich setzte mich hin und dachte noch
einmal nach. Nach einigen Minuten nahm ich den Pinsel mit der schwarzen Farbe
zur Hand und fing an zu schreiben. Es war nur ein Satz, aber der bedeutete mir
mehr als alles andere:
Hier ruht Maya - die einzige
Liebe, die ich je hatte. Ich vermisse Dich!
Es waren bereits zwei Tage
vergangen, nach dem wir Maya beerdigt hatten. Es regnete in Strömen als ich
mich auf dem Weg zu ihrem Grab machte. Niemand ging durch den Wald, keine
verliebten Pärchen kamen mir entgegen, so wie damals, als ich einer der
glücklichsten Menschen auf der Welt war. Aber vielleicht war das auch gut so.
So konnte ich mit meinem Schmerz allein sein, und das war alles, was ich
wollte.
Ich ging auf die Lichtung und kniete mich vor den Grabstein. Die
Schrift war durch den Regen leicht verwischt, aber man konnte den Satz noch gut
lesen. „Ich vermisse Dich“, sagte ich leise und fing an zu weinen. Nur wenige
Zentimeter unter der Erde lag die Frau, auf die ich mein Leben lang gewartet
hatte. Die Frau, mit der ich mein ganzes Leben verbringen wollte, mit der ich
glücklich war.
Es war nur eine
geringfügige Entfernung, die unsere beiden Körper voneinander trennte. Aber bis
ihr Körper wieder zum Leben erweckt werden konnte, bis dahin konnte noch eine
lange Zeit vergehen. Mario war zwar dabei ein Programm zu entwickeln, welches
die fatalen Fehler in Mayas Matrix wieder korrigieren sollte, aber dies steckte
noch in den Kinderschuhen. Laut Mario könnte es noch zwei oder drei Jahre
dauern. Vielleicht auch mehr.
Ich dachte daran
und an die Tage, die vergehen würden. Die vielen Tage, an denen ich nicht Mayas
Lächeln sehen würde, an denen ich sie nicht liebevoll in den Arm nehmen könnte
um ihr zu sagen, wie lieb ich sie habe. Tränen liefen mir über die Wange, mein
Herz pochte, meine Kehle schien wie zugeschnürt zu sein. Regen prasselte auf
meinen Kopf und durchnäßte meine Kleidung. So saß ich vor Mayas Grab, mein
Gesicht in den Händen vergraben, und weinte vor mich hin.
„Ich werde auf
dich warten“, sagte ich und beugte mich über Mayas Grab. „Mario wird einen Weg
finden, dich wieder ins Leben zurückzuholen und so lange werde ich warten.“
„Vielleicht mußt du ewig warten“, sagte ein Stimme hinter mir.
Ich erkannte Mario nicht sofort. Zu sehr war ich mit meinen Gedanken an Maya
und die vergangenen Ereignisse beschäftigt. Als ich Mario schließlich
registrierte drehte ich mich zu ihm um. Er stand einige Schritte neben mir. In
der Hand hielt er einen geöffneten Regenschirm. Mario wollte mich zu Hause
besuchen. Aber als er mich dort nicht angetroffen hatte, gab es für ihn nur
eine Stelle, wo ich sein konnte.
„Was?“, fragte ich. „Was meinst du?“
„Ich denke, daß du eine ganze Zeit darauf warten mußt, bis du
sie wiedersiehst.“ Er ging auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter.
„Ich denke, es ist besser, du vergißt sie.“
Ich schüttelte nur heftig den Kopf. Maya vergessen? Nein, das
war unmöglich. Ich konnte die Frau, die ich so sehr liebte und auch heute noch
liebe nicht einfach aus meinem Gedächtnis streichen. Zu viele Erinnerungen –
sehr schöne Erinnerungen – hängen an ihr. Und ich möchte auch heute noch keine
davon missen.
„Nein, ich werde sie nicht vergessen, Mario“, sagte ich und
schaute ihn an. Ich muß für ihn furchtbar ausgesehen haben. Mein Gesicht war
vollkommen mit Tränen verwischt, meine nassen Haare klebten in meiner Stirn.
„Ich kann es einfach nicht, verstehst du? Ich kann es nicht und werde es nicht.
Nicht so lange ich lebe.“
Dann folgte eine lange Stille, in der wir beide uns nur stumm
ansahen. Ich wußte, Mario verstand mich, auch wenn er es niemals völlig
zugegeben hätte. Er wußte wie mir zumute war und innerlich fühlte er mit mir.
„Ich werde auf sie warten“, sagte ich schließlich als ich mich
von Grab abwand und mit Mario den kleinen Pfad hinunterging.
„Das kann aber noch einige Zeit dauern“, antwortete er und
machte mir klar, daß sein Programm, welches Maya wiederbeleben könnte, noch in
der Entwicklungsphase war und es noch Jahre dauern könnte, bis es einsatzbereit
war. „Vielleicht mußt du ewig warten.“
„Dann warte ich ewig“, sagte ich und drehte mich noch einmal zu
dem kleinen Grab auf dem Hügel zurück. Dort ruhte meine Liebe, die einzig
wahre, die ich jemals hatte. Und mit viel Glück werde ich sie wiedersehen –
eines Tages. Ich weiß, die Chancen stehen schlecht. Aber ich werde die Hoffnung
nicht aufgeben. Nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft, egal was kommen mag.
Die Hoffnung ist das, was einen am Leben hält, sagen die Menschen. Und wenn
Hoffnung einen Menschen leben lassen kann, dann wird sie auch sicher einem
Androiden Leben schenken können; einer Androidin, die in einem kleinen Grab
liegt, auf das der Regen fällt. Und die von der Sonne und kleinen Wolken
träumt, in denen sie immer wieder neue Figuren entdeckt.
23.4. –
10.7.2000
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Stephan Römer).
Der Beitrag wurde von Stephan Römer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2001.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Stephan Römer als Lieblingsautor markieren
Lebens... Spuren
von Eleonore Görges
Hier wird gekonnt in poetische Worte gefasst, was das Leben uns schenkt. Sehr einfühlsam kommen Gefühle und Empfindungen, Beobachtungen und Erlebnisse, Gedanken und Meinungen, sowie auch die Fantasie zu Wort.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: