Stephan Römer

Wovon träumen Androiden?

 

für Julia - die Frau, die mein Herz

erobert hat. Danke für alles!

 

1

 

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich beginnen soll. Die Ereignisse der vergangenen Monate wirbeln wie ein Orkan durch meinen Kopf und es fällt mir schwer, sie zu ordnen. Obwohl ich mir jedes Tages bewußt bin, den ich seit dem Frühjahr erlebt habe, scheinen mir manche Dinge verschleiert. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht möchte ich diese Erlebnisse verdrängen; vielleicht wollen diese Erinnerungen aber auch nicht näher von mir erforscht werden. Und möglicherweise ist dies besser so.

     Es schmerzt mich immer noch, an die Tage zurückzudenken, an denen ich einer der glücklichsten Menschen auf der Welt war. Nicht, daß ich jetzt unglücklich wäre; diese Vorfälle haben mir wertvolle Erfahrungen gegeben. Aber ich fühle mich in gewisser Weise leer. So wie jeder Tag mir neue Erkenntnisse brachte, mich mit Erlebnissen anreicherte, so nimmt mir nun jeder Tag etwas von dem, was ich glaubte nie wieder zu verlieren: die Liebe.

     Nun glauben Sie aber nicht, liebe Leser, daß ich ein ständig deprimiertes Individuum bin, welches sich in der Einsamkeit seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung zu verstecken versucht. Ich bin nicht diese Art von Person. Ich lache gerne, unterhalte mich viel und feiere mit meinen Freunden bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Einer davon ist Mario, mein bester Freund. Wir kennen uns bereits seit unserer Schulzeit; das sind mittlerweile sechzehn Jahre. Mario ist ein wenig verrückt. Nicht so verrückt, wie Sie nun vielleicht denken mögen. Nein, Mario ist ein absolut lieber Mensch und ich bin froh, ihn zum Freund zu haben. Das Verrückte an ihm ist, daß er ständig mit neuen Erfindungen ankommt. Nicht, daß es wirklich Erfindungen wären. Mario bastelt und experimentiert sehr gerne und aus diesem „Forscherdrang“ sind schon die merkwürdigsten Erfindungen entstanden. Einmal baute er eine Kaffeemaschine mit einer Zeitschaltuhr. Ich weiß nicht, ob es so etwas schon gibt; ich trinke keinen Kaffee und deshalb interessieren mich die Geräte zur Zubereitung herzlich wenig. Aber immerhin hatte er etwas entwickelt - und das ganz alleine.

Schon während unserer gemeinsamen Schulzeit hatte Mario besonders starkes Interesse an elektronischen Dingen. Eines Tages kam er während der Pause auf mich zu und hielt mir einen kleinen schwarzen Gegenstand vor die Nase. Es war ein Haifischabwehrgerät, welches er in den letzten Wochen zusammengebaut hatte. Ein Gerät, welches mit einer kleinen 1,5 Volt-Baterie betrieben wurde, einem Hai (oder auch Menschen) einen gehörigen Schock verpaßte, wenn man die beiden metallenen Scheiben an der Vorderseite berührte.

Dieses kleine schwarze Gerät war erst der Anfang. Später, während seines Physikstudiums (er ist im sechsten Semester) versuchte Mario sich an kleinen Robotern. Die ersten Versuche waren recht kläglich. Zunächst schaffte er es nur, fahrende, mit Reifen bestückte Wagen zu bauen, die durch eine intelligente Elektronik in der Lage waren, Hindernisse zu umfahren. Doch Mario wurde immer besser im Konstruieren dieser künstlichen Lebensformen. Schließlich schaffte er es, Geräte mit sechs Beinen zu entwickeln, die Insekten sehr ähnlich waren. Diese Dinger schafften es über Steine zu spazieren, Treppen zu steigen oder sogar - dank Haftfüßen - eine Wand senkrecht emporzuklettern.

     Ich war immer fasziniert von den Dingen, die Mario entwickelte und fragte mich oft, woher er die Zeit nahm, all dies zu bauen; und vor allem das Geld. Mario hatte nur einen kleinen Nebenjob als Lagerist in einem Computerversand übernommen, doch den großen Reihbach machte er damit nicht. Er schrieb auch ein oder zwei Abhandlungen über die Entwicklung von Künstlichen Intelligenzen, wie Mario sie nannte. Diese Texte wurden auch in Fachzeitschriften veröffentlicht, aber daher konnte Mario nicht das gesamte Geld haben, das er für die elektronischen und mechanischen Teile seiner Roboter ausgab.

     Wie dem auch sei. Eines Tages überraschte mich Mario mit einer neuen Erfindung. Er sagte mir, er hätte etwas besonderes erschaffen. Etwas, das die Welt noch nicht in dieser Art gesehen hätte. Etwas, was die Menschheit möglicherweise beunruhigen könnte; oder aber auch völlig verändern konnte.

     Als ich Marios Erfindung zum ersten Mal sah, blieb mir die Luft weg.

 

 

2

 

Ich hätte nie geglaubt, daß ich eine neue Liebe finden würde. Doch an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah, war mir bewußt, daß es nicht nur meine Ex geben würde.

     Fast vier Monate bin ich ihr hinterhergelaufen, nachdem sie mit mir Schluß gemacht hatte. Vier Monate, in denen mein Leben völlig aus den Fugen geriet. In dieser Zeit vernachlässigte ich mein Studium - ich studiere Medienwissenschaften - total. Mein einziges Interesse galt ihr: Lea Martins. Die Frau, von der ich vor einem halben Jahr noch behauptet hätte, ich würde bereit sein, mein ganzes Leben mit ihr zu verbringen. Ja, sogar an Heirat dachte ich. Und das, obwohl ich sie in dem halben Jahr, in dem wir zusammen waren - falls man es wirklich so nennen konnte - sie nicht mehr als zwei Wochen gesehen habe. Die Entfernung zwischen ihr und mir war einfach zu groß. Manchmal denke ich, daß es nicht nur die Entfernung in Kilometern war, die uns einfach nie richtig zusammengebracht hat.

     An dem Tag, an dem ich meine neue Liebe zum ersten Mal sah, kam Mario auf mich zugelaufen. Ich ging gerade die Stufen der Universität herunter und schlenderte an den unzähligen Fahrrädern und Studenten vorbei, die sich vor dem Gebäude aufhielten, da hörte ich ihn.

     „Hey, Frank“, rief er, während er hinter mir herlief und versuchte an meine Seite zu gelangen. Zunächst hörte ich ihn gar nicht. Das Wetter war zu schön und ich war mit meinen Gedanken weit weg. Nicht in dieser Stadt und nicht bei der Uni oder bei Mario. Weit weg, an einem anderen Ort, an dem Lea gerade mit einem anderen Mann schlief.

     „Frank, was ist los?“, fragte Mario, als er schließlich neben mir ging. Sein Klaps auf meine Schulter hatte mich aus meinem Tagtraum in die Realität zurückgeholt. „Du siehst aus, als ob du gar nicht hier wärst“, sagte er.

     „Vielleicht hast du damit gar nicht so unrecht“, antwortete ich und versuchte ein kleines Lächeln hervorzubringen. Doch es wollte mir nicht gelingen. Ich war innerlich zu aufgewühlt - die Gedanken an Lea waren einfach zu schmerzvoll - als daß ich ein Lächeln zustande gebracht hätte.

     Mario sah mich an und schüttelte den Kopf. „Es ist doch nicht wieder wegen Lea“, wollte er wissen. Ich überlegte und kam zu dem Entschluß, daß ich ihm diesmal nicht die Wahrheit sagen würde. Nicht an diesem schönen Frühlingstag, an dem der Himmel so blau war, wie die Augen in die ich bald blicken würde. Ich schaute Mario an. Er war ein stämmiger junger Mann, siebenundzwanzig Jahre alt mit kurzem Haar. Den meisten Teil seines Gesichts bedeckte ein Dreitagebart, doch darüber waren seine kleinen, liebenswerten Augen zu erkennen, hinter denen irgend etwas funkelte.

     ‚Vielleicht hat er wieder etwas neues erfunden‘, dachte ich. Wenn dem so war, dann konnte ich ihn wirklich nicht mit meinen Gefühlen für Lea belästigen. Das hatte ich schon zu oft getan und er hatte mir immer zugehört. Wenn ich auch nicht sicher war, daß es ihm jedes Mal gefiel. Jetzt war es Zeit, Mario, meinem besten Freund, zuzuhören. Egal, was er mir erzählen würde. Egal, ob er mir damit auf die Nerven ging oder nicht.

     „Nein“, sagte ich kurz. „Es ist nicht wegen Lea. Ich mache mir nur Gedanken wegen meiner Prüfung in der nächsten Woche. Ich habe so gut wie noch gar nichts gelernt“.

     Das war selbstverständlich eine Lüge. Natürlich hatte ich gelernt. Die letzten vier Wochen saß ich jeden Tag vor meinem Schreibtisch und büffelte ununterbrochen. Auch wenn es mir sehr schwer fiel, denn meine Gedanken drifteten ständig in eine andere Richtung ab.

     „Dann ist ja gut“, sagte Mario. „Ich dachte schon, du würdest wieder von ihr anfangen. Jetzt, wo du doch über sie hinweg bist.“

     Über sie hinweg sein? Das war stark übertrieben. Ich glaubte in dem Moment, wo Mario dies sagte, ich würde nie über sie hinweg kommen. Wie sollte man auch über eine Frau hinwegkommen, die man mit seinem ganzen Herzen geliebt hatte und immer noch liebte? Die für einen die wunderbarste Person auf der ganzen Welt war. Für die man auch jetzt - nach all den Dingen die sie einem angetan hatte - alles tun würde. Für die es sich sogar lohnte zu sterben.

     Aber nein, das ist völliger Unfug, liebe Leser. Wenn ich nun darüber nachdenke, frage ich mich, warum ich überhaupt soviel für Lea empfunden habe. Für eine Frau, die im Grunde nur mit einem gespielt hat, die einen ausgenutzt hat; die einen schließlich eiskalt abserviert hat. Eine Antwort finde ich darauf nie. Vielleicht gibt es auch keine Antwort, vielleicht kann man nicht begreifen, warum ich sie so sehr geliebt hab. Und vielleicht muß man erst einmal in meine Situation kommen um zu verstehen, wie so etwas überhaupt möglich ist.

     „Nein, Mario. Sie ist für mich gestorben“, sagte ich und versuchte, den Schmerz, der in meiner Kehle aufstieg zu unterdrücken. „Ein für alle Mal gestorben.“

     Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Wir erreichten einen kleinen Park, in dem bei diesem Wetter allerhand los war. Pärchen gingen Hand in Hand (was tief in meinem Inneren wieder einen Schmerz auslöste), Kinder spielten auf dem Rasen und zwei junge Frauen unterhielten sich über ihre Männerbekanntschaften.

     „Weißt du, ich habe etwas neues entwickelt“, sagte Mario ganz plötzlich. Er sagte es, als ob es die natürlichste Sache auf der Welt wäre; einfach so, ohne irgendwelche Anzeichen von Freude oder Nervosität zu zeigen. Aber ich wußte, in seinem Inneren, recht nah unter der Oberfläche, brodelte ein Vulkan, der kurz vor der Eruption stand.

     „Na, das ist ja toll“, sagte ich ein wenig resignierend. Es war nicht gut, wenn man Mario zeigte, daß man nur darauf brannte zu wissen, was er diesmal ausgetüftelt hatte. Mario zeigte seine wahren Gefühle nicht, warum sollte ich es tun. Außerdem kannten wir uns gut genug um zu wissen, was der andere fühlte. Schließlich fügte ich noch hinzu: „Was ist es denn?“

     Da konnte Mario nicht mehr anders. Es sprudelte regelrecht aus ihm heraus. Er wollte alles für sich behalten, bis wir bei ihm in seinem Zimmer standen und er es mir zeigen konnte. Aber er konnte einfach nicht alles zurückhalten. „Es ist das größte, was ich jemals erfunden habe“, rief er und fuchtelte mit seinen Händen nervös vor meinem Gesicht herum. „Du wirst sehen, so etwas hat die Menschheit noch nie gesehen.“

     „Sag schon, was ist es?“ Jetzt konnte ich meine Neugierde nicht mehr verbergen. Die Gedanken an Lea waren weit entfernt. Ich wollte nur noch wissen, was für ein Ding Mario diesmal gebaut hatte. Wahrscheinlich nur wieder ein Mixer, der auf Spracheingabe reagierte, aber wenn es das sein sollte, dann sollte es so sein. Wenn Mario sich glücklich mit seiner Erfindung fühlte, dann war ich es auch. Hauptsache ich fühlte mich glücklich und konnte manche Sachen für ein paar Stunden verdrängen.

     „Kann ich dir noch nicht verraten“, spannte Mario mich auf die Folter. „Wir gehen jetzt in mein Labor, dann siehst du es.“ Mario machte eine kleine Pause und sah mich mit leuchtenden Augen an. „Ich sage dir nur eins: es wird dir gefallen.“

     Und wie es mir gefiel.

 

 

 

 

3

 

Sie hatte die strahlendsten Augen, in die ich je in meinem Leben geblickt hatte. Das frische Blau ihrer Iris umspielte ihre tiefschwarzen Pupillen. Kaum ein Mann hätte es verhindern können darin zu versinken. Ich versank auch. Es war, als ob ich ins kalte Wasser gestoßen worden wäre und nun langsam und dann immer schneller auf den Grund hinabsinken würde. Ich mußte die Luft anhalten, traute mich nicht zu atmen. Mein Herz schlug derart heftig in meiner Brust, daß ich befürchtete, sie könnte es unter meinem Hemd pulsieren sehen. Von dem Moment war ich gefangen; gefangen in ihren Augen. Ein Gefängnis, aus dem man nur schwer ausbrechen konnte. Falls man dies überhaupt wollte.

 

Wir betraten das Labor kurz nach Drei. Mario legte seine Bücher, die er den Weg von der Uni unter den Arm geklemmt hatte, auf einen kleinen Tisch neben der Tür. Die beiden Neonröhren flackerten, als sich Mario vor seinen Computer setzte und diesen zu starten begann. Langsam wurde es hell in dem kleinen Raum. Hell ist allerdings der falsche Ausdruck. Zwar gaben die Leuchtstoffröhren Licht ab, es gelang ihnen jedoch nicht, den Raum in all seinen Ecken zu erhellen.

     „Setz dich“, sagte Mario und deutete auf eine Kiste in der Ecke neben der Tür. Abgesehen von Marios Drehstuhl gab es nur diese spärliche Sitzgelegenheit in dem Labor. Mario hatte den kleinen Kellerraum „Labor“ getauft; in Wirklichkeit war es eine kühle, kalt wirkende Kammer, in der eine Menge elektronisches Zeugs untergebracht war. Ich verstehe zwar einiges von Elektronik und Computern, was Mario jedoch im Laufe der Jahre hier zusammengebaut hatte, blieb mir immer ein Rätsel.     Mehrere Computer waren zu einem Großrechengehirn vernetzt, Platinen lagen - für den Laien - wahllos herum, meterweise Kabel schmückte die dunklen Wände. Es sah aus, als wäre dies ein Geheimlabor der Stasi.

     Als ich mich auf der Kiste niedergelassen hatte, fiel mir eine Tür in der linken Ecke des Raumes auf. Beim näheren Betrachten merkte ich, daß dies nicht direkt eine Tür war. Es war eine große, längliche Kiste, die an der Vorderseite eine Tür besaß. Die Kiste war schwarz und reichte bis unter die Decke. Sie hätte einer Person genügend Platz gegeben.

     „Was ist denn das?“, fragt ich Mario und nickte mit dem Kopf in Richtung der Kiste.

     Mario drehte sich zu mir um. Der Computer war inzwischen betriebsbereit und mein Freund begann, Kommandos in die Tastatur einzugeben. Mario hackte mit unglaublicher Geschwindigkeit die Befehle in den Rechner, daß man noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehen konnte, was er gerade tat.

     „Warte noch einen Moment“, antwortete Mario und drehte sich wieder dem Computer zu. „Gleich wirst du sehen, was das ist.“

     „Ist das deine neue Erfindung?“, wollte ich wissen. „Eine Kiste mit einer Tür?“

     „Nein, du Dummkopf“, antwortete Mario. „Das ist nur einfaches Holz mit ein paar Elektromotoren zum Öffnen der Tür.“

     „Und wozu ist die gut? Kann man sich damit beamen, oder ähnliches?“

     „Nein, beamen ist unmöglich. Denke nur einmal an die Heisenbergsche Unschärferelation“, sagte Mario und kümmerte sich weiter um den Computer. Möglicherweise hätte er mir jetzt einen Vortrag über die Unmöglichkeit des Beamens gehalten; daß es unmöglich war, die Atome eines Menschen genau zu erfassen, in Energie zu verwandeln und an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen. Aber Mario war zu beschäftigt, einige Konfigurationen in den Programmen einzustellen.

     „Es ist eher ein Brutkasten“, sagte er und drehte sich zu mir um. „Die Einstellungen sind fertig, die Parameter gesetzt. Wenn du möchtest, zeige ich dir, was es mit dem Kasten auf sich hat.“

     „Ein Brutkasten?“, wollte ich wissen. Mir war bekannt, daß Mario ein Genie war, besonders im Roboterbau. Aber daß er nun etwas Lebendiges erschaffen hatte; etwas, daß einen Brutkasten benötigte? Etwas aus Fleisch und Blut?

     „Keine Angst“, sagte Mario. „Ich nenne ihn nur so. Mir fiel einfach nichts besseres für den Kasten ein.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Willst du’s nun sehen?“

     Ich nickte nur und schaute gebannt auf den Kasten mit der Tür. Mario drückte einen Knopf an seinem Computer, ein Piepen war zu hören und dann begannen die kleinen Elektromotoren die Tür von der schwarzen Kiste zu öffnen.

 

 

 

 

 

 

4

 

Was aus Marios Brutkasten kam, war kaum zu glauben. Zunächst wollte ich meinen Augen nicht trauen, als ich es sah. Zwei Füße kamen am unteren Rand der sich langsam öffnenden Tür zum Vorschein. Kleine, zierliche Füße, die einer Frau zu gehören schienen. Als die Tür weiter offen war und mehr Licht ins Innere dringen konnte, konnte ich auch zwei Beine an den Füßen sehen. Dann folgten zwei Hände, zwei Arme und schließlich ein ganzer Körper. In Marios Brutkasten stand eine junge Frau.

     „Was ist das“, fragte ich Mario und sah die junge Frau überrascht an.

     „Was soll das heißen, was ist das? Hast du noch nie eine Frau gesehen?“ Mario kam auf mich zu und schüttelte ungläubig den Kopf.

     „Doch, das habe ich. Aber... was ist... wie hast du das...“ Ich wußte einfach nicht, was ich frage sollte. In dem Kasten, den Mario „Brutkasten“ nannte, stand die wunderbarste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Sie war etwa ein Meter und siebzig groß, hatte schulterlanges, blondes Haar und die schönsten blauen Augen, in die ich jemals geblickt hatte.

     „Das ist meine neueste Erfindung“, sagte Mario triumphierend. „Ist sie nicht umwerfend?“

     Ja, das war sie. Sie ließ mein Herz höher schlagen. Sie stand reglos da, aber irgend etwas sagte mir, daß ich sie begehrte.

     „Aber du kannst doch keinen Menschen erschaffen“, sagte ich. Es klang fast wie eine Frage.

     „Das habe ich auch nicht“, entgegnete Mario. Als er sah, daß ich nicht ganz begriff, worauf er hinaus wollte, fügte er hinzu: „Sie ist eine Androidin. Ein Roboter.“

     Das war zu viel für mich. Ich ging langsam auf die Kiste zu, die als Sitzgelegenheit diente, und ließ mich darauf nieder. Meine Beine waren zu weich geworden, als daß ich hätte weiterhin stehen können. Eine Androidin? Verdammt, wie war so etwas möglich? Diese Sachen gab es doch nur in Science-fiction Geschichten. Und außerdem, wie sollte Mario es geschafft haben, so etwas zu erschaffen? Dazu brauchte man doch Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß mein bester Freund dies vollbringen konnte, auch wenn er noch so begabt war.

     „Du glaubst mir nicht, was“, fragte er.

     „Nun, es ist nur so...“ Ich stockte einen Moment, dann fuhr ich fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß so etwas möglich ist.“

     „Sie steht doch vor dir, oder? Du kannst sie sehen und berühren. Also, was brauchst du für Beweise, daß sie echt ist?“

     „Ich weiß nicht“, entgegnete ich. Ich wußte es wirklich nicht. Was für Beweise brauchte man, damit man glauben konnte, was man sah. Ist der Tisch wirklich ein Tisch oder denkt man nur, es sei ein Tisch? „Vielleicht, wenn sie sich bewegt...“

     „Okay, nichts leichter als das“, sagte er und ging zu seinem Computer. Er tippte ein paar Befehle ein und die Androidin kam aus dem „Brutkasten“ hervor. Sie ging anmutig und schien fast zu schweben. Mir blieb vor Verwunderung fast Das Herz stehen, ich mußte mich überwinden regelmäßig zu atmen. Verdammt, wie konnte er das geschafft haben?

     Die Androidin kam auf mich zu. Ich spürte ihre Wärme (‚Ein künstliches Wesen strahle doch keine Wärme aus‘, dachte ich) und konnte schwach den Geruch ihrer Haare wahrnehmen. Als sie nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war, streckte sie ihre Hand aus.

     „Hallo, ich bin Maya“, sagte sie und lächelte.

     Total verwirrt schaute ich sie an. Dann gab mir Mario einen Stups als wollte er sagen: ‚Begrüße sie schon. Na los.‘ Ich gab ihr meine Hand. Ich spürte ihre seidige Haut und den leichten Druck ihrer Finger als wir und die Hände schüttelten.

     „Hallo“, stammelte ich. „Ich bin Frank.“

     Die Androidin lächelte immer noch sah sich dann in dem kleinen Kellerraum um. Sie schaute zurück zu dem Kasten aus dem sie gekommen war. Ich sah Mario immer noch ungläubig an. Er konnte es nicht gewesen sein. Es war einfach unmöglich, daß er diese Frau erschaffen hatte.

     „Ich sehe, du bist immer noch verwirrt und willst es nicht glauben“, sagte er.

     „Es ist nur so, daß ich einfach nicht kapiere, wie du das hinbekommen hast. Ich meine, ich traue dir viel zu, aber einen Androiden zu erschaffen geht weit über deine Begabung hinaus.“

     „Ja, das dachte ich auch einmal“, sagte er und packte mich an der Schulter. „Komm mit, wenn du willst, erkläre ich dir alles.“

     Wir gingen zusammen zu seinem Computer und Mario erklärte mir, wie er Maya erschaffen hatte. Und zum ersten Mal, wenn es um seine Erfindungen ging, hörte ich ihm ganz genau zu.

 

5

 

Ich erlebte den schönsten Frühling meines Lebens. Nie zuvor hatte ich mich so glücklich und zufrieden gefühlt, wie zu der Zeit, als ich mit Maya zusammen war. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, lachten, weinten und waren einfach nur glücklich und zufrieden, daß wir uns getroffen hatten.

     Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir uns das erste Mal küßten. Wir waren mit ein paar Freunden abends ausgegangen. Zuerst hatten wir ein wenig Billard gespielt, dann hatten wir bei „Luigi’s“ eine Pizza gegessen. Es war eine kleine Pizzeria, das Untergeschoß war gerade einmal so groß, daß eine Theke und ein große Backofen darin Platz fand. Eine steile Wendeltreppe führte in die erste Etage, in der sich ein paar Tische und Stühle befanden. Dort hatten wir gesessen und unsere Pizzen gegessen. Ich teilte mir eine Salami-Pizza mit Maya. Wir scherzten und neckten uns und als wir etwa eine halbe Stunde später die Pizzeria verlassen hatten, nahmen wir uns in den Arm um uns zu wärmen. Es war zwar schon März, aber die Nächte waren dennoch recht kühl gewesen.

     Wir hatten einen kleinen Platz in der Stadt überquert. Zu dieser Zeit hatten sich keine weiteren Personen außer uns dort aufgehalten. Meine Freunde waren einige Meter vor uns hergegangen; anscheinend wußten sie, daß es bald zwischen uns so richtig funken würde. Ich betrachtete die Sterne mit Maya; sie zeigte mit den Großen Wagen und ich konnte nicht anders, als sie noch näher an mich zu drücken. Eng umschlungen waren wir den Platz entlang geschlendert. Plötzlich berührten sich unsere Wangen, dann küßten wir uns. Ich weiß auch nicht genau, wie dies passierte. Plötzlich waren ihre Lippen auf meinen, es waren die wärmsten und weichsten Lippen, die ich je in meinem Leben gespürt hatte. Wir küßten uns eine halbe Ewigkeit und meine Freund machten sich schon ein wenig Sorgen, als wir nicht am Platz, wo wir unsere Wagen geparkt hatten, erschienen. Aber das kümmerte uns nicht. Für uns gab es in diesem Moment nur uns beide – und unsere Zungen, die wild und entschlossen in unseren Mündern umher wühlten.

     „Wovon träumen Androiden?“, fragte Maya mich eines Tages. Ich sah sie verwirrt an, so eine Frage hätte ich nicht von ihr erwartet. Woher sollte ich auch wissen, was Androiden während des Schlafs tun. Ich wußte ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt schlafen und träumen können. Und wenn jemand die Antwort wissen sollte, dann doch sicher Maya.

     „Ich weiß es nicht“, entgegnete ich. „Vielleicht von Schaltkreisen und Prozessoren oder irgend so einem Zeugs.“ Ich wollte witzig sein, fand aber, daß es mehr als lächerlich klang. In so einer Situation sollte man nicht witzig sein. Das war wahrscheinlich mein größter Fehler, ich wollte immer lustig sein, auch wenn es nicht angebracht war.

     „Nein“, sagte sie. „Wir träumen vom Meer und einer einsamen Insel. Ich habe das Meer noch nie gesehen, aber ich weiß wie es aussieht. Ich habe alles hier drin.“ Sie tippte mit ihrem Finger an ihre Schläfe. „Ich habe so viele Aufzeichnungen, aber ich habe so vieles noch nicht in der Wirklichkeit gesehen. Ich möchte noch so viele Dinge sehen, so viel erleben. Ich möchte ans Meer fahren und den Duft von Algen und Salz einatmen. Davon träume ich nachts.“ Sie machte eine kurze Pause. Dann fügte sie hinzu: „Und ich träume von dir. Und davon, wie wir unser Leben zusammen verbringen.“

     Ich sah sie an und mußte lächeln. Ich konnte nicht anders. Maya war zwar nur eine Maschine, auch wenn mir das nie so bewußt war, aber sie war dennoch menschlicher als viele Leute, die ich kannte. Sie war einfach wunderbar. Ich nahm sie in den Arm und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange. „Ich liebe dich“, sagte ich.

 

Wir gingen sehr viel spazieren. In der Gegend, in der Mario wohnte, gab es einen kleinen Park mit einem Weiher. Ringsherum um das Wohnviertel erstreckte sich ein ausgedehnter Wald. Dort schlenderte ich mit Maya durch die warme Frühlingssonne. Zugegeben, ich hielt früher nicht sehr viel vom Spazierengehen. Dies war für mich ein überflüssiger Zeitvertreib, aber dank Maya fand ich Gefallen daran. Ich weiß noch, wie sie mir einmal sagte, daß unsere Spaziergänge mit das schönste in unserer Beziehung seien. Ich lächelte sie an und gab ihr einen kleinen Kuß. In ihren Augen sah ich, daß sie es wirklich so meinte. Wie konnte sie es auch anders meinen? Sie war eine Androidin, ein Roboter, eine künstliche Intelligenz, und diese konnte kaum nicht die Wahrheit sagen. Aber die Tatsache, daß sie so war, verdrängte ich schnell. Ich hatte sie lieben gelernt, mit all ihren Fehlern. Aber vielleicht waren es auch die Fehler, die kleinen Unvollkommenheiten, die sie für mich so liebenswert machten. Es gibt nun mal nicht den Menschen, der frei von Fehlern und Mängeln ist. Und das macht es ja gerade erst so interessant.

     „Die sieht aus wie ein Vogel, findest du nicht“, fragte Maya und zeigte auf eine kleine Wolke am sonst strahlend blauen Himmel. Wir gingen eng umschlungen einen kleinen Weg entlang, der um einen kleinen See führte.

     „Für mich sieht das eher nach einem Reh aus“, entgegnete ich. Sie sagte, das könne nicht stimmen, es sei definitiv ein Vogel. Dann lachten wir beide und schauten uns noch weitere Wolken an, bis wir endlich wieder zu Hause waren. Es waren so viele Wolken am Himmel und Maya sah in jeder eine andere Figur. Mal eine Katze, einen Hund oder eine Blume. In einer besonders schönen Wolke, die in einem strahlenden Weiß über uns hinweg zog, erkannte sie ein Herz. Dann sah sie mich an, wir schauten uns lange in die Augen und küßten uns. Ein paar Wanderer gingen an uns vorüber, doch wir beachteten sie nicht. Wir waren in einem nicht enden wollenden Kuß gefangen, einem Kuß, der mich dort oben bei den Wolken schweben ließ und den ich auch heute noch auf meinen Lippen spüre.

     An diesem Tag schliefen wir das erste Mal miteinander. Ich wußte nicht, wie Mario es geschafft hatte, aber er hatte Maya einen wunderbaren Körper gegeben, mit allen Attributen, die eine Frau besitzt. Wir küßten uns leidenschaftlich, dann ließen wir uns langsam auf mein Bett gleiten. Maya stöhnte leise unter meinen Liebkosungen, sie genoß es, wie ich ihre kleinen, festen Brüste streichelte, sanft an ihren Brustwarzen sog. Als ich in sie eindrang, schrie sie kurz auf. Damals dachte ich nicht darüber nach, aber heute scheint es mir so, als ob ich ihr erster Mann gewesen war. Sie war eine Androidin, ein künstliches Wesen, aber Mario hatte ihr all das gegeben, was eine richtige Frau ausmachte.

     Wir liebten uns langsam und sehr zärtlich. Immer wieder küßte ich sie, atmete ihren lieblichen Duft ein und streichelte sanft durch ihr offenes Haar. Sie sah mich mit ihren großen Augen an und fast schien es so, als könnte ich darin Sterne erkennen. Als sie kam, krallte sie ihre Finger in meinen Rücken und bäumte sich leicht auf. Immer wieder flüsterte sie mir ins Ohr, wie sehr sie mich liebte.

     Dann lagen wir eng umschlungen nebeneinander. Wir redeten nicht, wir lagen einfach nur da und genossen, was so eben geschehen war. Ich hörte sie leise atmen und spürte ihre Luftzüge auf meiner Haut. Ich dachte, daß ich wohl einer der glücklichsten Menschen auf der Erde, ja vielleicht sogar im ganzen Universum, sei. Von diesem Augenblick an wußte ich, daß ich mein Leben mit Maya verbringen wollte. Ich würde sie heiraten, eine Familie mir ihr gründen und mit ihr alt werden – und zusammen mit ihr sterben.

     Ich dachte, daß das Leben mir nichts Schlimmes mehr anhaben konnte. Aber wie öfters in meinem Leben lag ich falsch.

 

 

6

 

Es geschah ohne Vorwarnung. Ich ging zu Mario um Maya zu besuchen. Wir wollten einen langen Spaziergang am See entlang machen. An dem selben See, an dem wir die Wolken beobachtet hatten. Der See, den Maya so sehr mochte, der einer ihrer Lieblingsorte war.

     Ich holte Maya ab und wir gingen den kleinen Weg durch den Wald zum See hinunter. Maya betrachtete die Vögel, die Wolken, die Kühe auf der Wiese. Sie war neugierig auf alles. Und obwohl sie schon eine Zeit auf dieser Welt war (oder besser gesagt, einige Zeit funktionierte), entdeckte sie immer wieder neue Dinge, die ihr ein Lächeln auf die Lippen drückten.

     Wir kamen an einer alten Holzbank vorbei, als es passierte. Maya zuckte plötzlich zusammen und griff sich an den Kopf. Zunächst begriff ich nicht, was los war. Doch als sie schließlich auf die Knie fiel und vor Schmerzen schrie, wußte ich, daß etwas absolut nicht stimmen konnte. Maya hämmerte sich immer wieder mit der Faust gegen ihre recht Schläfe.

     Maya rief meinen Namen und sagte, ich solle ihr helfen. Doch wie konnte ich? Irgendetwas stimmte nicht mit ihren Schaltkreisen. Die Neuronen in ihren Leitungen schienen verrückt zu spielen. Ich hielt ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen. Schweiß trat auf ihre Stirn, sie atmete heftig.

     „Hilf mir, Frank“, sagte sie und schaute mich verzweifelt an. „Bitte hilf mir.“

     Ich versuchte zu lächeln, doch es gelang mir nur schlecht. Die Frau, die ich so sehr liebte, lag auf dem Boden und war auf dem besten Weg zu sterben. Sie mußte eine Fehlfunktion erlitten haben, aber ich war sicher nicht der richtige, der den Fehler beheben konnte.

Ich holte mein Handy aus der Tasche und rief Mario an. Er war der einzige, der mir in dieser Situation helfen konnte. Der einzige, der Maya helfen konnte. Er hatte sie erschaffen, er wußte, was zu tun war.

     Als Mario zwanzig Minuten später eintraf, war Maya still geworden. Ich hatte sie auf die Holzbank geschleppt und dort hingelegt. Immer noch hielt ich ihre Hand und fühlte ihren schwachen Puls, als Mario mit seinem Fahrrad den Waldweg entlang gefahren kam. Er war völlig außer Atem, so schnell war er den Weg von seiner Wohnung zu der Stelle, wo Maya und ich waren, gefahren.

     „Was ist passiert?“, fragte er. Mario schaute Maya an, fassungslos, daß so etwas jemals passieren konnte. Sie war seine Kreation, er hatte sie geschaffen. Jahre hatte er an ihr gearbeitet und nun lag sie im Sterben. Er konnte es nicht begreifen.

     „Ich weiß es nicht“, entgegnete ich und sah ihn hilflos an. „Sie brach plötzlich zusammen, murmelte etwas unverständliches und dann wurde sie still.“

     Mario sah sich Maya genauer an. Er hob ihren Kopf und öffnete eine kleine Klappe in ihren Schädel. Winzige Drähte, Lämpchen und Schaltkreise kamen zum Vorschein. Ich schaute weg, es tat mir weh, sie so zu sehen. In den Tagen, die wir miteinander verbracht hatten, war mir nur selten bewußt gewesen, daß sie eine Androidin war. Für mich war sie immer Maya, die Frau, die ich liebte. Eine Person wie jede andere auf der Welt. Kein Roboter, der sein Leben nur der Arbeit eines Menschen verdankt.

     „Der Fehler scheint bei den neurosynaptischen Kopplungsprozessoren zu liegen“, erklärte mir Mario, doch ich wollte es nicht hören. Was machte es für einen Unterschied, ob sie nun aufgrund von dem Versagen der Prozessoren starb oder an einem Herzstillstand. Für mich war es ein und dasselbe. Sie lag im Sterben und das war einfach zu viel für mich. Ich setzte mich auf den Boden und fing an zu weinen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mario krampfhaft versuchte, Maya zu retten. Doch ich wußte, daß es zu spät sein, daß ich Maya nie wieder lächeln sehen würde.

     Mario hob Maya auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Er lehnte sie vorne über und legte ihren Kopf behutsam auf den Lenker. „Wenn wir uns beeilen, können wir möglicherweise noch etwas tun“, sagte er und forderte mich auf, ihn zu seinem Labor zu begleiten. Doch ich hatte keine Lust, in Marios Labor zu gehen. An diesem Ort hatte ich sie zum ersten Mal gesehen, dort wurde Maya geboren und dort würde sie sterben. Ich wollte nicht zusehen, wie sie nur still da lag und langsam dem Tode entgegen glitt. Ich wußte, Mario würde alles für sie tun, was er konnte, aber mir war klar, daß er es nicht schaffen würde. Ich wollte einfach nicht mit ansehen, wie sie auf einem kalten Steinboden im Keller starb. Ich wollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.

     Ich sagte Mario, daß ich nicht mitkommen würde. Nach einigem Zögern ging er fort. Er schob sein Fahrrad, auf dem Maya lag, den kleinen Waldweg entlang und nach kurzer Zeit war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich stand auf, ging ein paar Schritte weiter und setzte mich auf einen umgefallenen Baum. Die Tränen liefen mir immer noch die Wangen herunter und ich hatte Angst, daß sie niemals aufhören würden.

     „Warum mußte das passieren“, murmelte ich leise. In der Ferne zwitscherten fröhlich die Vögel, so als ob es der schönste Tag auf der Welt sei. Irgendwo lachten Kinder und ein paar Meter entfernt konnte ich ein junges Paar eng umschlungen spazieren gehen sehen. Vielleicht war es der wunderbarste Tag – nur nicht in meinem Leben. Für mich war die Sonne untergegangen und dunkle Wolken zogen über mich her aus denen Sturzbäche auf mich herunter prasselten.

     ‚Warum?‘, dachte ich. Doch ich fand keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht lag es einfach in der Natur, daß alles einmal enden mußte. Aber wieso so schnell? Wieso waren ihr nicht noch ein paar Tage mehr vergönnt?

     Irgend jemand hatte einmal gesagt: „Das Leben ist wie eine Windel. Beschissen und kurz.“ Und wenn ich auch nicht glauben mag, daß es beschissen ist (schwierig, schmerzhaft oder ungerecht vielleicht – aber nicht beschissen), so ist es doch kurz. Zu kurz um all das zu erleben, was man möchte. Zu kurz um seiner Liebe all das zu sagen, was man möchte. Man denkt, man hat alle Zeit der Welt ihr zu sagen, wie sehr man sie liebt, ihr zu zeigen, was man für sie fühlt. Doch wenn man es nicht sofort macht, dann ist es meistens zu spät.

     Ich weiß nicht, wie lange ich noch auf dem Baumstamm gesessen habe, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Am Horizont ging langsam die Sonne unter und entzog dem Tag das Licht. Bald würde es dunkel sein, die Nacht würde hereinbrechen. Eine Nacht, die für viele Menschen auf der Welt wie immer sein, die morgen schon vorbei sein würde. Aber für mich wurde es die längste Nacht meines Lebens.

 

 

7

 

Wir begruben Maya auf einem kleinen Hügel, irgendwo auf einer Lichtung im Wald. Mario und ich hatten ein einfaches Loch geschaufelt, in das wir Mayas Körper hinabließen. Kein Sarg, keine großartige Begräbnisrede. An das Kopfende des Grabes stellten wir eine kleine Holzplatte als Grabstein auf. Wir wußten nicht so recht, was wir darauf schreiben sollten; schließlich überließ Mario mir die Entscheidung. Im Grunde benötigte ich nicht lange, um zu wissen, wie die Inschrift lauten sollte. Doch Zweifel kamen mir auf, ob auch jeder diese verstehen würde. Ob jemand überhaupt verstehen konnte, daß man einen Androiden, einen künstlich geschaffenen Menschen, genauso lieben kann, wie einen aus Fleisch und Blut. Mittlerweile denke ich, daß es sicherlich einige Personen auf der Welt gibt, die mich verstehen – und die in meiner Situation sicher genau die selbe Entscheidung treffen würden: der Liebe ihres Lebens treu zu bleiben, egal was kommen mag.

     Als ich mir darüber klar wurde, sah die Welt ein wenig fröhlicher für mich aus. Zwar schmerzte mein Herz immer noch und Maya fehlte mir sehr (sie fehlt mir heute immer noch). Aber ich war nicht ganz allein auf der Welt mit meinem Schmerz und das gab mir ein wenig Hoffnung. Ich die Holzplatte und schrieb folgende Widmung unter Mayas Namen:

 

Die wahre Liebe meines Lebens.

 

Als ich den Satz geschrieben hatte, gefiel er mir plötzlich nicht mehr. Der ganze Grabstein, wenn man von einem Stein sprechen konnte, gefiel mir nicht mehr. Es sah irgendwie zu förmlich, zu alltäglich aus. Zuerst Mayas Name, dann ihr Geburts- und Todestag und schließlich meine persönliche Widmung.

     Ich ging in den Keller und holte eine neue Sperrholzplatte, die ich so ähnlich wie die erste zurechtmachte. Ich setzte mich hin und dachte noch einmal nach. Nach einigen Minuten nahm ich den Pinsel mit der schwarzen Farbe zur Hand und fing an zu schreiben. Es war nur ein Satz, aber der bedeutete mir mehr als alles andere:

 

Hier ruht Maya - die einzige Liebe, die ich je hatte. Ich vermisse Dich!

 

Es waren bereits zwei Tage vergangen, nach dem wir Maya beerdigt hatten. Es regnete in Strömen als ich mich auf dem Weg zu ihrem Grab machte. Niemand ging durch den Wald, keine verliebten Pärchen kamen mir entgegen, so wie damals, als ich einer der glücklichsten Menschen auf der Welt war. Aber vielleicht war das auch gut so. So konnte ich mit meinem Schmerz allein sein, und das war alles, was ich wollte.

     Ich ging auf die Lichtung und kniete mich vor den Grabstein. Die Schrift war durch den Regen leicht verwischt, aber man konnte den Satz noch gut lesen. „Ich vermisse Dich“, sagte ich leise und fing an zu weinen. Nur wenige Zentimeter unter der Erde lag die Frau, auf die ich mein Leben lang gewartet hatte. Die Frau, mit der ich mein ganzes Leben verbringen wollte, mit der ich glücklich war.

Es war nur eine geringfügige Entfernung, die unsere beiden Körper voneinander trennte. Aber bis ihr Körper wieder zum Leben erweckt werden konnte, bis dahin konnte noch eine lange Zeit vergehen. Mario war zwar dabei ein Programm zu entwickeln, welches die fatalen Fehler in Mayas Matrix wieder korrigieren sollte, aber dies steckte noch in den Kinderschuhen. Laut Mario könnte es noch zwei oder drei Jahre dauern. Vielleicht auch mehr.

Ich dachte daran und an die Tage, die vergehen würden. Die vielen Tage, an denen ich nicht Mayas Lächeln sehen würde, an denen ich sie nicht liebevoll in den Arm nehmen könnte um ihr zu sagen, wie lieb ich sie habe. Tränen liefen mir über die Wange, mein Herz pochte, meine Kehle schien wie zugeschnürt zu sein. Regen prasselte auf meinen Kopf und durchnäßte meine Kleidung. So saß ich vor Mayas Grab, mein Gesicht in den Händen vergraben, und weinte vor mich hin.

„Ich werde auf dich warten“, sagte ich und beugte mich über Mayas Grab. „Mario wird einen Weg finden, dich wieder ins Leben zurückzuholen und so lange werde ich warten.“

     „Vielleicht mußt du ewig warten“, sagte ein Stimme hinter mir. Ich erkannte Mario nicht sofort. Zu sehr war ich mit meinen Gedanken an Maya und die vergangenen Ereignisse beschäftigt. Als ich Mario schließlich registrierte drehte ich mich zu ihm um. Er stand einige Schritte neben mir. In der Hand hielt er einen geöffneten Regenschirm. Mario wollte mich zu Hause besuchen. Aber als er mich dort nicht angetroffen hatte, gab es für ihn nur eine Stelle, wo ich sein konnte.

     „Was?“, fragte ich. „Was meinst du?“

     „Ich denke, daß du eine ganze Zeit darauf warten mußt, bis du sie wiedersiehst.“ Er ging auf mich zu und legte seine Hand auf meine Schulter. „Ich denke, es ist besser, du vergißt sie.“

     Ich schüttelte nur heftig den Kopf. Maya vergessen? Nein, das war unmöglich. Ich konnte die Frau, die ich so sehr liebte und auch heute noch liebe nicht einfach aus meinem Gedächtnis streichen. Zu viele Erinnerungen – sehr schöne Erinnerungen – hängen an ihr. Und ich möchte auch heute noch keine davon missen.

     „Nein, ich werde sie nicht vergessen, Mario“, sagte ich und schaute ihn an. Ich muß für ihn furchtbar ausgesehen haben. Mein Gesicht war vollkommen mit Tränen verwischt, meine nassen Haare klebten in meiner Stirn. „Ich kann es einfach nicht, verstehst du? Ich kann es nicht und werde es nicht. Nicht so lange ich lebe.“

     Dann folgte eine lange Stille, in der wir beide uns nur stumm ansahen. Ich wußte, Mario verstand mich, auch wenn er es niemals völlig zugegeben hätte. Er wußte wie mir zumute war und innerlich fühlte er mit mir.

     „Ich werde auf sie warten“, sagte ich schließlich als ich mich von Grab abwand und mit Mario den kleinen Pfad hinunterging.

     „Das kann aber noch einige Zeit dauern“, antwortete er und machte mir klar, daß sein Programm, welches Maya wiederbeleben könnte, noch in der Entwicklungsphase war und es noch Jahre dauern könnte, bis es einsatzbereit war. „Vielleicht mußt du ewig warten.“

     „Dann warte ich ewig“, sagte ich und drehte mich noch einmal zu dem kleinen Grab auf dem Hügel zurück. Dort ruhte meine Liebe, die einzig wahre, die ich jemals hatte. Und mit viel Glück werde ich sie wiedersehen – eines Tages. Ich weiß, die Chancen stehen schlecht. Aber ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft, egal was kommen mag. Die Hoffnung ist das, was einen am Leben hält, sagen die Menschen. Und wenn Hoffnung einen Menschen leben lassen kann, dann wird sie auch sicher einem Androiden Leben schenken können; einer Androidin, die in einem kleinen Grab liegt, auf das der Regen fällt. Und die von der Sonne und kleinen Wolken träumt, in denen sie immer wieder neue Figuren entdeckt.

 

    

 

 

 

23.4. – 10.7.2000

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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