Martin Gruszczyk

Fremde Welten

Fremde Welten  
 
Sanft strich der Wind über ihr Gesicht und das orange Licht der beiden gigantischen Sonnen, die knapp über dem Horizont hingen, setzte die Berggipfel in Flammen und verwandelte den kleinen See vor ihr in flüssiges Gold. Entspannt ließ sie sich zurück sinken und schloss die Augen, so dass die Strahlen ihr Gesicht wärmen konnten. Das kühle Wasser des Sees umspielte ihre Zehen und sie konnte feinen Sand spüren. Ruhe und Frieden. Endlich. Ein sanftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, sie war wunschlos glücklich. Dann roch sie noch einmal, ohne die Augen zu öffnen, an der wunderschönen, seltsam geformten Blume, die sie im fremdartigen Wald unten im Tal gepflückt hatte, der Duft machte sie irgendwie benommen, sie sog ihn auf und konnte alles vergessen. Endlich war sie allein,  vollkommen ungestört, musste sich keine Sorgen um irgendetwas mehr machen. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon hier war, oder wie sie zu diesem Ort gelangen konnte , aber das interessierte sie auch nicht. „Ah, hier bist du, kleine Weltenwanderin.“ Erschrocken fuhr sie herum, ihre Nackenhaare richteten sich auf. „Wer...?“ Nur langsam schälte sich eine Gestalt aus dem Halbschatten zwischen den Bäumen, sie schien wie ein Chamäleon mit ihrer Umwelt zu verschmelzen. Ein Mann, gehüllt in eine weite Robe, die je nachdem, wie das Licht auf sie fiel, eine andere Farbe zu haben schien, das Gesicht war unter der Kapuze kaum zusehen, nur buschige, weiße Augenbrauen und bernsteinfarbene Augen, in denen man versinken konnte. Er stützte sich auf einen langen knorrigen Stab, der vorkurzen noch ein Baum gewesen zu sein schien. Die abgrundtiefen Augen musterten sie eindringlich. Ihr schien es als würde der Mann sie durchschauen, ihr tief in die Seele blicken... -und das durfte er nicht! Die Überraschung und der Schrecken begannen Wut zu weichen. Merkte der Kerl nicht, dass er störte, eine Disharmonie in ihrer Symphonie war? „Hat lange gedauert dich zu finden.“, sagte er, „Deine Welt ist ziemlich weit draußen, überraschend weit! Es gibt nicht viele, die so eine Distanz aufbauen können! Du bist begabt.“ Er lächelte und normalerweise hätte sie dieses Lächeln als gewinnend empfunden, aber nicht unter diesen Umständen. „Sie haben es ja auch geschafft, hier her zu kommen. Wer gibt ihnen eigentlich das Recht, einfach so in meine Privatsphäre zu platzen? Wer sind sie überhaupt?“ Der Mann trat einen Schritt näher und zerriss mit einer beiläufig wirkenden Bewegung seines Stabes die Ranken, die sich angenehm prickelnd um ihr Bein gelegt hatten. Wütend starrte sie ihn an. „Ich bin ein Weltenwanderer, so wie du, allerdings verlasse ich meine Welt auch manchmal.“ Sein Lächeln erreichte auch seine Augen. Roter Nebel wallte durch ihren Geist. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen, warum musste er in ihren Frieden platzen? „Dann verlassen sie jetzt bitte auch meine Welt“ schrie sie. Stattdessen setze er sich neben ihr ins Gras. Sein Blick wanderte umher, schien jedes Detail der Umgebung aufzusaugen, dann wandte er sich wieder ihr zu und sie rutschte demonstrativ ein Stück von ihm weg. Irgendetwas in ihr schien sie vor dem Fremden zu warnen, etwas stimmte nicht mit ihm! „Ziemlich ungewöhnlich, die Welt, die du dir hier ausgedacht hast.“, sagte er, während er seinen Stab vorsichtig neben sich ins Gras legte, „Du hast alle Menschen aus deiner Umgebung verbannt. Normalerweise umgibt man sich doch mit denen, die man verloren hat! “ „Was soll das heißen, ausgedacht?“, fragte sie und ließ feinen, purpurnen Sand durch ihre Finger rinnen, „Das scheint doch sehr real zu sein, oder?“. Sie hatte das dringende Bedürfnis, aufzustehen und den Fremden einfach zu vergessen, doch der Mann schien sie mit seinen abgrundtiefen Blick zu bannen, festzuhalten. Seine Augen schienen auch das einzige zu sein, was an ihm ungewöhnlich war, ein eher durchschnittliche Gesicht eines Menschen, der den Zenit seines Lebens längst überschritten hatte... Seine Anwesendheit war unpassend, das fühlte sie ganz genau, sie wollte wieder allein sein, wieder glücklich sein, wieder vergessen... Der Fremde hatte sich Zeit gelassen, mit seiner Antwort, hatte noch einmal den Horizont betrachtet, als müsse er sich die Worte erst zurecht legen, als würde er bedächtig jedes Wort noch einmal umdrehen. „Nun, beides ist richtig. Diese Welt existiert ganz sicher in unserem gigantischen Universum, es existiert so gut wie jede Welt, doch du hast genau diese Welt unter Myriarden anderer gewählt. Wer kann schon sagen was vorher war, dieser Ort, oder dein Gedanke.“ „Schön,...“ Die Vorstellung vom Ausmaß des Kosmos machte sie müde, sie wollte sich wieder zurück lehnen und an ihrer Blume riechen... „... aber finden sie nicht, dass es an der Zeit wäre zu gehen?“ Sie versuchte den Mann mit ihren Blicken zu durchbohren. Vielleicht löste er sich in Luft auf, wenn sie ihn einfach ignorieren würde. „Es wäre bestimmt an der Zeit heimzukehren, aber nicht für mich.“ Traurig sah er sie an. „Merkst du nicht wie farblos du schon bist, wie ausgesaugt? Diese Welt kostet dich Kraft, du wirst leichte Beute!“ „Ich will aber nicht heimkehren!“ Sie hatte es geahnt, der Fremde war gekommen um sie aus ihrem Frieden zu reißen, ihre Idylle zu zerstören! Ihre Hand ballte sich zur Faust, sie konnte sehen, wie sich die Fingernägel in ihre Haut bohrten, aber der Schmerz schien sie nicht zu erreichen. Müde beugte der Mann sich vor und entfernte eine Blume, die sich gerade sanft um ihr Fußgelenk gelegt hatte, die golden-schimmernde Blüte schien fort zuschweben und sie zu locken, ein kleiner Stern, der einen Weg ins Nirgendwo schuf. „Weißt du überhaupt noch, warum du hier her gekommen bist?“ Verwirrt blinzelte sie, eine bleierne Schwere begann sich auf ihren Geist zu legen, sie wollte fort... fort driften. „Nein, und es interessiert mich auch nicht! Reicht ihnen das?“ Sie hatte wieder ihre Stimme erhoben. Warum war er immer noch da? Ruhe, sie wollte einfach nur Ruhe... „Nein.“ Seine Stimme klang sanft und doch schien sie keinen Widerspruch zu dulden. „Nein, es reicht mir nicht.“ Auf seinen Stab gestützt erhob er sich und schlug seine Kaputze zurück, die Luft um ihn herum schimmerte, wie an heißen Sommertagen über dem Asphalt. „Komm mit!“ Ohne eine Antwort abzuwarten ergriff er ihre Hand und zog sie mit sich. Sie wollte schreien, doch wer sollte sie hören? Gemeinsam tauchten sie in den stillen Wald ein, in ein silbernes Blättermeer. Das Licht der untergehenden Sonnen ließ die ehrwürdigen Bäume leuchten, sternengleich, wie geheimnisvolle Gebilde aus Kristall, Werke eines gigantischen Glasbläsers. Ihre Welt schien erfüllt von einem sanften Rauschen, ein leises Säuseln, es hatte etwas seltsam beruhigendes, es wirkte, als würde der Wald singen und sie spürte, dass er sie beschützen wollte. Ungerührt zerrte der Fremde sie weiter, immer wieder mit seinem Stab ausholend, denn die Bäume rückten näher zusammen, schienen mit Ästen und Wurzeln nach ihm zugreifen, während sie nur sanft gestreichelt wurde. Jede dieser Berührung jagte einen prickelnden Schauer durch ihren Körper. Da öffnete sich plötzlich, fast zum greifen nahe, eine goldene Blüte, an einem der Äste, und der übernatürliche Duft ließ Farben vor ihren Augen bersten. Um sie herum, immer mehr Blüten, der Wald schien ihr zu huldigen, immer mehr Farbexplosionen in ihrem Geist. Die Welt verblasste in Bedeutungslosigkeit, in einem bunten Nebel, sie fühlte sich plötzlich leicht, als könnte sie fortschweben, den festen Griff des Fremden spürte sie kaum noch, die Zeit schien stehen zubleiben. Fortdriften...  Dann, scheinbar eine Ewigkeit später, ein Wirbel, ein Sog, der sie unerbittlich zurück zerrte in die kalte Realität, wie ein Strudel, unaufhaltsam, bernsteinfarbene Augen... nein, nicht der schon wieder! Ernst blickte er sie an, Schweiß rann ihm über die Stirn und die Knöchel der Hand, die sich um den Stab krallte, traten weiß hervor. Langsam, müde, nahm der Fremde die Hand von ihrer Schulter und holte keuchend Atem. „Wir sind da.“,  sagte er nur und wandte sich um. Vor ihnen strebte eine schroffe Felswand dem Himmel entgegen, vereinzelte Bäume klammerten sich in Ritzen fest und blickten zu ihnen herab. Ein schmaler Pfad schlängelte sich an einigen Felsbrocken vorbei und verschwand in einem monströsen Portal, das in den Berg eingegraben war. Die riesige, halbgeöffnete Pforte erschien ihr, wie ein klaffendes Maul, ein Maul, das sie verschlingen wollte, doch bevor sie reagieren konnte, schob der Fremde sie einfach weiter, durch das Tor, in die Dunkelheit. Dahinter öffnete sich eine nahezu kreisrunde Halle, erfüllt von einem seltsamen, diffusen Licht, das die Schatten an den Wänden tanzen ließ, und von den Monolithen stammte, die in der Mitte, in einem Kreis, angeordnet waren. Grünliche Schriftzeichen bedeckten ihre  obsidian-schwarze Haut, die zu pulsieren schienen, und in dem Ring dann, durchscheinend wie eine blasse Erinnerung, ein Bett. Der typische, metallene  Rahmen und die frische, weiße Bettwäsche ließ an Krankenhaus denken, der Monitor direkt daneben, der mit einem regelmäßigen Piepsen verkündete, das er noch etwas registrierte, machte die Vermutung zur Gewissheit. Und in dem Bett, mit starren, teilnahmslosen Augen,... sie selbst. Die Schatten, die an den Wänden gelauert hatten quollen zusammen, ließen Formen entstehen, formten Personen und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da, prügelten auf sie ein. Die Gestalten ihrer Mitschüler, die tuschelten und mit dem Finger auf sie zeigten, der Lehrer, der ihr mit einem höhnischen Grinsen  eine Klausur wieder gab, wissend, dass er ihr so ihre Zukunft verbaute, dann ihre Eltern, die sich anschrieen, der Vater, der das Haus verließ, ohne sich umzudrehen, ihre Mutter mit roten Augen, die ihr trotzdem den Rücken zuwandte, das Fenster, wehende Vorhänge, der Sprung. Sie sackte zusammen, mit den Händen am Kopf, während ihr Geist in einer unerbittlichen Schraubzwinge zerquetscht wurde. Da spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Immer noch dieser Kerl! „Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe, ich will nichts mehr damit zutun haben, gar nichts mehr, verstehen sie, lassen sie mich einfach in Ruhe!“ Verzweifelt gab sie dem Fremden einen Stoß, er keuchte überrascht, taumelte zurück, in die wirbelnden Schatten, die sich um ihn schlossen, ihn einhüllten und verschwanden, mit ihm. Weinend lief sie hinaus und der Wald empfing sie lächelnd, ein Baum öffnete ihr seine Arme, sie lehnte sich an ihn, ließ sich in seinen Schoß sinken und versank. Irgendwann erwachte sie noch einmal. Zum letzen Mal, flüsterte der Wald aufgeregt. Der Baum war um sie herum gewachsen, hatte sie schützend eingehüllt, sie fühlte sich unglaublich warm und geborgen, bald würde es endlich vorbei sein, nun würde sie Teil des Baumes, Teil des Waldes werden... Nie wieder Leid, flüsterten die Bäume, nie wieder Schmerz und Enttäuschung, sie lächelte, nie wieder Streit, nie wieder schmerzhafte Liebe... nie wieder Liebe? Eine Erinnerung regte sich in ihrem Unterbewusstsein und arbeitete sich an Barrieren vorbei, die nicht von ihr errichtet worden waren, das Bild eines Jungen mit traurigen Augen, der sie verliebt anlächelte, trat vor ihr inneres Auge. Wie hatte sie das vergessen können? Wie hatte sie ihn vergessen können? Plötzlich, als würde sie aus einem Alptraum erwachen, fühlte sie sich überhaupt nicht mehr geborgen, sie spürte wie der Baum an ihr zerrte, sie aussaugte. „Nein!“ ihr Schrei zerschnitt die Stille, wütend bewegte sie sich, drückte und brach durch, der Baum kreischte. Ihre Kleidung hing in Fetzen von ihr herab, rote Striemen bedeckten ihren Körper, Blut lief an ihr herab. „Gib auf, du kannst uns nicht mehr entkommen!“ die Schatten strömten heran, ballten sich zusammen, schufen eine Gestalt, einen Wolf, gigantische Reißzähne aus wirbelnder Dunkelheit. Sie rannte. Immer vorwärts, immer weiter, nicht zurück schauen. Wenn sie leben wollte musste sie zur Pforte, doch der Wald griff nach ihr, eine Wurzel schlang sich um ihr Bein, sie stürzte und der Wolf war über ihr, öffnete sein Maul um sie zu verschlingen. Sie schloss die Augen. Dann gleißendes Licht, das sogar durch die Augenlieder schmerzte, eine Gestalt zeichnete sich ab. Nicht gerade groß, gehüllt in eine Robe, ein knorriger Stab. „Weltenwanderer!“ Keuchend stemmte er sich, umgeben von einer Aureole aus fließenden Licht, gegen die Schattenbestie, die jetzt rasend ihre Form veränderte, immer größer wurde. „Lauf!“ schrie er, während er einige Zentimeter über den Boden geschoben wurde. „Aber...“ „Lauf habe ich gesagt!“ Ihre Beine bewegten sich ohne ihr Zutun. Die Pforte, der Steinkreis, das Bett. Sie sprang und die Welt wurde zu einem Strudel aus Bildern, der sie mitriss, sie fortwirbelte. Stille. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, das stetige Piepsen des Überwachungsmonitors begrüßte sie. Irgendwo konnte sie Schritte hören. Müde blickt sie sich um. Neben ihrem Bett schliefen ihre Eltern, aneinander gelehnt, die Hände hatten sich gefunden und hielten sich fest. Und im Raum gegenüber konnte sie, durch die offene Tür, einen anderen Komapatienten sehen. Das einzige auffällige an ihm waren seine abwesenden, starren Augen, bernsteinfarben. Er schien zu lächeln.                
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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