Ich will euch eine Geschichte erzählen, weil – nun ja, eigentlich ist gar nichts passiert – nur in den Nächten, in denen ich nicht schlafen kann – ach, ich will mich nicht lange mit der Vorgeschichte aufhalten.
Alles begann damit, dass das Telefon klingelte. Es war an einem dieser Novembertage, an denen nur viele Kerzen das Leben etwas freundlicher machen können, aber ich hatte vergessen, welche zu kaufen. Dementsprechend war meine Laune. Und außerdem war ich mal wieder zu spät dran. Mein Kater wollte unbedingt noch sein Kitekat haben, saß auf meiner Handtasche, den Schwanz um seine Pfötchen geringelt. Wer kann da widerstehen? Mein Kater ist das einzige männliche Wesen in unserem Haushalt. Es lebt sich einfacher so. Aber über ihn will ich ja gar nicht berichten. Zurück zum Klingeln des Telefons.
Ich riss den Hörer von der Gabel, bellte ein „Hallo“.
„Hi, Renate, hier ist Angelika. Du, äh, willst du …“
„Du, Renate, entschuldige, aber ich habe überhaupt keine Zeit.“
„Ja, ja, wie immer, ich weiß, aber ich wollte dich fragen, ob du im Dezember für einen Tag mit nach Lappland kommen willst. Mit finnischem Weihnachtsbufett, Polarkreistaufe, Rentierführerschein und Motorschlittenfahrt. ‘Happen Pappen bei den Lappen‘, heißt das ganze. Ist das nicht niedlich? Ich lade dich ein.“
Eingeladen zu werden, ist immer gut. „Okay“, rief ich, „ich komm mit“. Ich knallte den Hörer auf die Gabel, eilte aus dem Haus, rannte zur Bushaltestelle, stieg in den Bus, ließ mich auf meinen Lieblingssitz, dem in der ersten Reihe links am Fenster, fallen.
Was hat Angelika gesagt, ein Tagesausflug nach Lappland? Die spinnt. Was soll ich denn da? Na ja, Weihnachtsbufett ist immer gut. Ich schmeckte schon den Räucherlachs, das Matjesfilet, obwohl mir die Filets auf russische Art, mit vielen Zwiebeln und tagelang in Öl eingelegt, viel besser schmecken, dachte an meine Leberwurststulle, die ich zum Frühstück runtergeschlungen hatte.
Rentierführerschein ist auch gut. Ich mag Rentiere. Besonders Rudolf.
Polarkreistaufe, na ja. Motorschlittenfahrt. Ich fahre nicht Auto, nicht mal Fahrrad, geschweige denn einen Motorschlitten. Aber Angelika hat ja den Führerschein. Und außerdem werden wir wohl gemächlich auf breiten, gepflegten Wegen fahren und nicht mit achtzig durch die Tundra brettern.
Lappland, finnisches Lappland. Wer fährt denn für einen Tag dorthin? Na, die muss ja Geld haben.
Wir stiegen früh um sechs ins Flugzeug, tausend Streichhölzer hätten es kaum geschafft, meine Augen offenzuhalten. Um neun Uhr stiegen wir aus.
Was für Leute sind das eigentlich, die so was Verrücktes machen? Ich hörte, wie der eine von seinem Urlaub auf Hawaii erzählte und die andere von ihrem Trip zum Angelfall in Venezuela. Oh je, Weltenbummler.
„Fährst du den Motorschlitten?“, fragte ich Angelika.
„Nee, mache ich nicht.“
„Ja, wozu sind wir denn hierher geflogen, wenn wir solch einen Ausflug dann nicht mitmachen?
„Na gut, ich überlege es mir noch.“
Wir fuhren ins Hotel, dachten an die Motorschlittenfahrt, gingen durch den Ort spazieren, dachten an die Schlittenfahrt, kauften uns Sweatshirts mit einem Elch vorne drauf, dachten an die Fahrt. Häuften unsere Teller voll mit Räucherlachs und Matjesfilets auf nordische Art, ließen fast alles stehen. Schlüpften in Thermoanzug, Fellstiefel, Fellhandschuhe.
„Fährst du nun?“, fragte ich Angelika.
„Nee.“
„Na gut, dann fahre ich“, erklärte ich heldenmütig, streifte entschlossen die Hasskappe über mein Gesicht.
Zusammen mit den anderen vermummten Touristen stiefelten wir zur Abfahrtsstelle. Ich musterte die Schlitten, bekam weiche Knie, wollte mich setzen, ging aber nicht, zuviel Schnee und Menschen und Schlitten. Hatte einen Geistesblitz: „Du Angelika, da sitzen doch so viele Männer alleine auf den Schlitten! Weißt du was, du nimmst den da hinten und ich den dort drüben.“ Achtete nicht auf ihren Protestschrei, schwang mich auf den Sitz hinter dem von mir Auserkorenen, sagte höflich „Hallo!“, suchte den Griff zum Festhalten, fand ihn nicht. Hielt mich vorsichtig an meinem Fahrer fest.
Nichts mit befestigten Wegen. Wir bretterten mit achtzig über Stock und Stein, rauf und runter sozusagen, es war einer der Winter, an dem selbst am Eismeer nicht viel Schnee liegt. Ich klammerte mich fest an dem Mann vor mir. Wir schlitterten fast gegen eine Birke, ich klammerte mich noch fester, und so fuhren wir beide durch die Wälder, er und ich auf dem Motorschlitten. Ich passte mich seinen Bewegungen an, genoss das Auf und Ab – er und ich. Lehnte meinen Kopf an seinen Rücken, um mich vor den Flocken zu schützen, die mir entgegen trieben.
Nach einer Stunde endete die Fahrt an einer Blockhütte, wir stiegen ab, nickten uns zu, ich suchte im Fackellicht Angelika, was nicht so einfach war unter all den Vermummten, wir stiefelten in die Hütte, nahmen die Kapuzen ab, die Hasskappen, ich musterte die Männer: Wer war es eigentlich, mit dem ich eine Stunde lang auf dem Motorschlitten durch die Wälder gebraust war, auf und ab, nur er und ich?
Ich habe es nicht erfahren. Ist auch nicht wichtig. Nur manchmal, so nachts, in schlaflosen Nächten …
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.08.2007.
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