Jutta Miller-Waldner

Am Angelfall

Liebe Freundin,

vom Orinoco möchtest du hören, vom Angelfall? Ach. Für die Fahrt zum Orinoco reichte die Zeit leider nicht, auch nicht für Caracas. Denn Manuels Freund Antonio, den ich immer mit auf unsere Reisen nehme, lebt inzwischen in La Paz und musste von dort aus auf die Insel Margarita. Da er seinen Anschlussflug verpasste und zwei Tage in einem einsamen Hotel irgendwo in Bolivien verbrachte, waren wir einmal vergeblich am Flughafen, um ihn abzuholen, einmal mit Erfolg. Jedenfalls blieben uns nur wenige Tage für Ausflüge. Keine Pirañhas gejagt, keine Fahrt mit dem Einbaum. Aber für den Angelfall reichte die Zeit. Tja, der Angelfall … Ich hatte vor dem Ausflug schon von dem Tag an Angst, an dem ich die Reise nach Venezuela gebucht hatte, wollte aber eigentlich nur wegen des Wasserfalls nach Margarita (und weil es dort noch preiswert ist, wenig Tourismus, Hotel all inclusive. Piña Colada schmeckte nicht, dafür aber Cuba libre, gut gegen jede Art von Infektion, Medizin gar, alle Magen- und Bauchschmerzen bekämpft mit Cola mit Rum, um es auf gut Deutsch zu sagen).

Ach, schon wieder ach. Ich war mit drei hübschen jungen Männern unterwegs, der Torsten war auch noch mitgekommen. Das hat Spaß gemacht. Wir haben auch nette Leute kennengelernt, mit ihnen Skat gespielt. Alles Weltenbummler, außer die, die unbedingt Schweinebraten mit Sauerkraut essen wollten. Die fahren nächstes Mal wieder in den Harz oder so. Nichts gegen den Harz, ich mag ihn sehr.

Zurück zum Angelfall. Hatte ich Angst vor dem Flug! Der Flug sollte nämlich mit einer Cessna stattfinden, wo die Dinger doch immer abstürzen. Zuhause hatte ich noch Karten gelegt, da stand nichts drin von Absturz. Ein längerer Marsch durch die Savanne und den Dschungel war geplant, und das ich, unsportlich wie ich bin, aber Tour de France schaue ich im Fernsehen und jedes Abfahrtsrennen und Skispringen und alle Arten von Wintersport. Hinter einem Wasserfall sollten wir entlanggehen, hieß es. Da wird man doch klitschnass.

Kurz vor sechs Uhr morgens an diesem denkwürdigen Tag schmiss ich die Jungs aus dem Bett; es gab keinen Kaffee, nichts zu essen. Zum Flughafen gefahren, eingecheckt bei einem richtigen Abenteurer, einem älterer Herrn, aber gestählt von Wind und Wetter und Sonne. „Wir fliegen mit einer Dakota aus dem Jahr 1936“, verkündigte er fröhlich. Manuel nur: „Da kriege ich Panik, ich schlafe die ganze Zeit“. Auf dem Rollfeld gestanden, die Maschinen angeschaut, die dort rumstanden, war doch nur ein Scherz, dachten wir, die annehmbaren Flugzeuge flogen alle ab, übrig blieb nur ein vorsintflutlicher Kasten.

Wir stiegen ein, machten vorher ein Abschiedsfoto für die Nachwelt von uns. Am Propeller war eine Schraube locker, alle starrten unentwegt auf die lose Schraube, wir stürzten aber nicht ab. Wurden keine Engel. Sahen den Orinoco von oben, nach drei Stunden Flug die Tafelberge. Da sind Turbulenzen, hatte im Reiseführer gestanden, sind da wirklich Turbulenzen, hatte ich die nette Dame gefragt, bei der ich gebucht hatte. Ach was, ist nicht schlimm, hatte sie gemeint.

Um den Angelfall zu sehen, mussten wir zwischen zwei Tafelbergen hindurch fliegen (deshalb auch die kleine Maschine), und rauf ging es und runter und runter und rauf. Herrlich war’s. Dem Torsten wurde schlecht – er war überhaupt das erste Mal im Leben geflogen –, es gab aber keine Toilette in dem Flugzeug. Tüte reichte. Und dann sahen wir den Fall, alles rannte auf die rechte Seite, wenn’s ein Schiff gewesen wäre, wären wir gekentert. Meistens sieht man ihn nämlich nicht, weil er in den Wolken ist oder weil zu wenig Wasser führt. Ein schmales Wässerchen ist es, das einen Kilometer in die Tiefe stürzt. Ergriffen war ich, musste schlucken, ich, ja ich, sah den Angelfall mit meinen eigenen Augen, hatte nicht im letzten Augenblick den Ausflug abgesagt.

Wir landeten auf einer Dschungelpiste, unsere Sachen wurden auf einen Laster geladen. Erst hieß es, Indianer würden sie tragen, taten sie aber nicht, wir mussten sie nicht ausbeuten. Erstmal machten wir eine Einbaumfahrt (also wenigstens dort ein Einbaum) auf einer Lagune, marschierten ein bisschen, standen vor dem schönsten See, den ich je gesehen habe, stürzten uns ins Wasser, ein klares Wasser, du ahnst es nicht, so mitten im tiefsten Venezuela an der Grenze zu Brasilien und Guyana. Meine drei Jungs schwammen auf die andere Seite des Sees, waren nicht mehr gesehen. Unser Führer (dieser Wind-Wasser-Sturm-Sonne-Gestählte in einem entzückenden Badehöschen) scheuchte uns weiter, ich schnappte mir drei Rucksäcke, drei Paar stinkende Turnschuhe, und kraxelte über Stock und Stein entlang des Sees. Da es überall nette Menschen gibt, ein Hesse dieses Mal, nahm mir einer einen Teil der Sachen ab, und weiter ging’s. Schließlich wanderten wir hinter dem besagten Wasserfall entlang, aber ich suchte doch noch immer meine Jungs. Dann sah ich Manuel, der gerade vom See hochgeklettert kam, und prompt ging ich ihm entgegen und stand genau dort, wo der Wasserfall über die Klippe donnerte, und wurde pitschnass. Hatte aber meine Jungs wieder, ach, war ich glücklich.

Eine Landschaft, man kann sie nicht beschreiben, selbst im Reiseführer steht, dass man sie nicht beschreiben kann. Immer wieder Wasserfälle und hin und wieder eine giftige Ameise oder eine fleischfressende Pflanze. Und wir hatten doch die ganze Zeit kaum etwas gegessen und nur eine Cola getrunken. Aber das machte nichts bei der Landschaft .

Schließlich kamen wir zu einer Lodge, und es gab Hühnchen und Kartoffelsalat (muss man sich mal vorstellen, mitten in der Pampa), soviel man wollte, und Cola, soviel man wollte, und glaube mir, selten hat mir etwas so gut geschmeckt. Also Hühnchen satt, Cola satt, Kartoffelsalat satt, ein Tukan, nein, nicht satt. Nun gut, wieder zurück zur Dakota, auf die lockere Schraube gestarrt, kurz vor dem karibischen Meer in Turbulenzen geraten. In die Hotelanlage gefahren, Cuba libre getrunken. Glücklich gewesen. Habe es doch geschafft. Nun schaffe ich alles, habe ich gedacht. Na ja, war vielleicht ein bisschen zu euphorisch.

So, liebe Freundin, du wolltest wissen, wie es am Angelfall war. So war’s.


Nachtrag: Es gab noch eine ältere Dakota. Beide Maschinen sind inzwischen abgestürzt. Beim zweiten Absturz kamen alle Insassen ums Leben.

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Seinen wohlverdienten Urlaub hat sich Kommissar Heinz Kelchbrunner anders vorgestellt: Erst stößt er beim Graben in seinem Garten auf menschliche Gebeine, dann beschäftigt ihn ein weitaus aktuellerer Todesfall in seiner freien Zeit: Anna Einarsdóttír wird beim Spaziergang von einem Ast erschlagen – und das ist, wie sich herausstellt, nicht dem stürmischen Wetter geschuldet. Kelchbrunner und seine Kollegin Katharina Juvanic nehmen die Ermittlungen auf. Die Spur führt schließlich nach Island, die Heimat der Toten, und zum geplanten Bau eines Staudammes, der eine wertvolle Naturfläche akut gefährdet. Dass Kelchbrunner von oberster Stelle dorthin beordert wird, um weitere Nachforschungen anzustellen, kommt dem umweltbewussten Kommissar gerade recht. Vielleicht gelingt es ihm, nicht nur Licht ins Dunkel zu bringen, sondern gleichzeitig seine eigenen Schlafstörungen und einen schmerzhaften Verlust zu überwinden. Kaum in Island angekommen, muss er sich jedoch gleich mit störrischen Behörden und verstockten bis feindseligen Einheimischen auseinandersetzen. Es scheint, als sei niemandem hier an der Auflösung des Falles gelegen …

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