Stefan Hein

Die Ausreißerin

Selbst ein unerschrockener Mann wie Rudolf Greif wäre normalerweise nicht auf die Idee gekommen, nachts allein durch die Straßen von Falkenhagen zu spazieren. Die Polizei hatte längst die Kontrolle über weite Teile dieses Viertels verloren, und dem überforderten Bürgermeister war nichts Intelligenteres eingefallen, als die anständigen Bürger seiner Stadt kategorisch davor zu warnen, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch dort herumzutreiben.
Rudolf Greif waren derartige Ratschläge im Augenblick vollkommen egal, er hatte eine private Mission zu erfüllen. Viktoria, seine Tochter aus erster Ehe, hatte vor einigen Tagen ihre Koffer gepackt und war mit unbekanntem Ziel von zu Hause fortgegangen. Sicher, sie war mit ihren neunzehn Jahren eigentlich erwachsen genug, eigene Wege zu gehen, doch Greif konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ein Bekannter hatte Viktoria kurz darauf ausgerechnet in Falkenhagen gesehen, in Begleitung von zwei Männern, die kein Vater dieser Welt sich als Umgang für seine einzige Tochter gewünscht hätte. Ein läppischer Streit war der Auslöser für Viktorias Fortgehen gewesen. Greif verfluchte sich selbst für seinen Jähzorn, er hatte einiges wieder gutzumachen.

Vor dem nächtlichen Firmament zeichneten sich nach Norden hin die Silhouetten der Wolkenkratzer ab, die als gewaltiges Ensemble aus Glas und Stahlbeton das Finanzzentrum der Stadt markierten. Wie Riesen mit angelegten Armen streckten sie sich dem violetten Himmel entgegen, versuchten einander an Höhe zu übertreffen und schienen nur darauf zu warten, sich gegenseitig in einem unbeobachteten Augenblick umstoßen zu können. Die allermeisten Bewohner von Falkenhagen würden niemals eines dieser Gebäude von innen sehen. Ihr Leben spielte sich in den Straßen und maroden Bauwerken eines Viertels ab, das mit dem Begriff „sozialer Brennpunkt“ noch sehr zurückhaltend beschrieben war.

Greif war kein ängstlicher Mann. Seine Körpergröße von einssiebenundneunzig verschaffte ihm gehörigen Respekt. Zudem hatte er sich in jungen Jahren recht erfolgreich als Boxer versucht, bis ein Kampf gegen den „hessischen Hünen“ Gerd Kleinekamp seiner Karriere ein vorzeitiges Aus beschert hatte. Er hatte sich eine üble Schädelverletzung zugezogen und fünf Zähne verloren – sowie den Glauben daran, zu höheren sportlichen Weihen berufen zu sein. Doch im Gegensatz zu vielen ehemaligen Athleten hatte er nie mit dem Fitnesstraining aufgehört, und selbst heute noch, mit einundfünfzig, war er in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Durch stundenlanges Hanteltraining wirkte er einer Rückbildung der Muskulatur entgegen. Das Fett, das hartnäckig versuchte, sich an Bauch und Hüfte anzusiedeln, wurde durch tägliche Sit-ups und ausgedehnte Waldläufe fast vollständig verbrannt.

Greif kam sich beinahe vor wie der einsame, zu allem entschlossene Desperado aus einem Hollywoodschinken, als er mit wütenden Schritten über den Asphalt marschierte, während der Saum seines langen hellgrauen Mantels wie ein kleines Segel im Wind flatterte.
Viktoria, wo bist du? Gebt mir meine Tochter zurück!

Ein Obdachloser hockte zusammengekauert unter einer fleckigen Decke vor dem Schaufenster eines Tabakgeschäfts und bat Greif um Kleingeld. Dieser warf einige Münzen in die Pappschachtel zu Füßen des Mannes und präsentierte ihm ein Foto.

„Haben Sie diese Frau schon einmal hier gesehen?“

Der Angesprochene kniff die Augen zusammen, um das Bild im trüben Licht der Straßenlaterne besser erkennen zu können. Dann pfiff er durch die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben waren. „Donnerwetter, heißes Gerät. Bin ihr noch nie begegnet, aber wenn Sie die treffen, schicken Sie sie zu mir. Damit sie mal ’nen richtigen Mann kennenlernt.“ Er lachte heiser, doch schon bald ging das Gelächter in ein keuchendes Husten über.

Greif wandte dem Kerl den Rücken zu. Er traf auf weitere Obdachlose und ziellos herumstreunende Personen, die ihn misstrauisch beäugten. In einigen Nebenstraßen stapelte sich der Müll meterhoch. Vielleicht streikte die städtische Müllabfuhr wieder einmal, vielleicht trauten sich die Müllmänner auch einfach nicht in diese düsteren Gassen, im Ergebnis spielte das keine Rolle. Ein ausgemergelter Hund schnupperte an einem der Müllbeutel, bis er eine fette Ratte entdeckte und dem Nagetier kläffend hinterherjagte. Wenn die City mit ihren Bürotürmen das Herz dieser gewaltigen Metropole war, dann stellte Falkenhagen einen vor langer Zeit abgestorbenen Körperteil dar, der permanent vor sich hinfaulte und dabei einen Übelkeit erregenden Gestank verbreitete. Manchmal kam es Greif so vor, als ob sich diese Fäulnis bis tief in die Kanalisation hinein fortsetzte und die gesamte Stadt langsam von unten aushöhlte.

Insgesamt neunmal holte er das Foto seiner Tochter hervor, bis endlich der entscheidende Hinweis kam. Ein junger Bursche mit mehrfach gepiercter Unterlippe erklärte, die junge Frau sei eine der neuen Tänzerinnen im Blue Zoo.

Greif war einerseits erleichtert, eine Spur gefunden zu haben, doch Viktoria als Tänzerin im Blue Zoo? Das waren schlechte Nachrichten!

Er setzte sich in Bewegung. Von außen machte das Zoo nicht unbedingt einen einladenden Eindruck, aber das tat keine der Kaschemmen in Falkenhagen. Der Name der Lokalität leuchtete in grellem Neonlicht über der schlichten Eingangstür, und das zweite „o“ flackerte von Zeit zu Zeit. Ein bulliger Türsteher blickte Greif ausgesprochen unfreundlich an, dann nickte er knapp, hielt dem Gast die Tür auf und murmelte zwei Worte, die man mit etwas gutem Willen als „viel Spaß“ deuten konnte.

Im Inneren der Bar befanden sich nur wenige Personen – das Nachtleben hatte gerade erst begonnen. Drei einsame Gestalten saßen am Tresen, fünf weitere hockten an den Tischen. Laute Musik dröhnte aus den Boxen. Auf der mit rotem Filzteppich bezogenen Bühne räkelte sich eine junge Frau, die nur noch mit hochhackigen Schuhen bekleidet war. Ihr Auftritt näherte sich dem Ende.

Greif setzte sich auf einen der hinteren Plätze. Eine unmotivierte Serviererin erschien, und er orderte ein Bier. Kurz darauf trat eine schwarzhaarige Frau in einem knappen Bikini aus einem der Nebenräume und machte Anstalten, sich neben Greif zu setzen. „Na, großer Mann, spendierst du mir einen Drink?“

Greif warf ihr einen gelangweilten Blick zu. „Jetzt nicht.“

Das Oberteil der Schwarzhaarigen war kaum größer als ein Schnürsenkel und brachte ihre Rundungen perfekt zur Geltung. Sie zog einen Schmollmund. „Hab dich nicht so, nur ein Gläschen Sekt. Wir könnten uns so nett unterhalten.“

„Ich sagte nein.“

Die Frau verschwand mit ausdruckslosem Gesicht. Auf der Bühne bemühte sich nun eine dralle Blondine etwa zehn Minuten lang, das kleine Publikum mit ihrer gewagten Strip-Show zu begeistern. Weitere Männer betraten nach und nach den Club und verteilten sich an den Tischen. Greif bestellte ein zweites Bier. Eine dunkelhäutige Schönheit löste die Blondine ab. Drei oder vier weitere Darbietungen folgten, bis endlich die Frau auftrat, auf die Rudolf Greif die ganze Zeit gewartet hatte.

Viktoria trug ein Leopardenfellkostüm und lange schwarze Handschuhe. Mit verführerischem Lächeln begann sie, sich zu den Klängen von Nelly Furtados „Maneater“ auszuziehen.

Greif hielt sich die Getränkekarte so vor das Gesicht, dass er von der Bühne aus nicht zu erkennen war. Mit versteinerter Miene folgte er den Bewegungen seiner Tochter. Ein rothaariger Mann aus der ersten Reihe rief etwas Obszönes in Richtung Bühne, und Viktoria präsentierte ihm so elegant und beiläufig ihren Mittelfinger, dass es wie ein Bestandteil ihrer Show wirkte. Am liebsten hätte Greif dem Rothaarigen seine Faust ins Gesicht geschmettert.

Als Viktoria ihren Auftritt beendet hatte und gerade die Bühne verlassen wollte, eilte Greif mit großen Schritten nach vorn und versperrte ihr den Weg. Sie erstarrte in der Bewegung, als sie ihn erkannte.

„Hast du eine Ahnung, wie sehr du mich enttäuschst, Viktoria?“, fragte er traurig.

„Lass mich in Ruhe, das ist mein Leben.“

„Wir müssen reden, bitte. Ich habe einen Fehler gemacht, als …“

„Ja, das hast du. Und jetzt verschwinde.“

„Du glaubst doch nicht, dass ich dich in dieser miesen Spelunke …“

Eine Hand legte sich auf Greifs Unterarm. Ein Mann mit einem kunstvoll gestutzten Bart rückte ganz nahe an ihn heran. Offenbar gehörte er zum Personal. „He, Kumpel, lass die Kleine in Ruhe und setz dich wieder hin.“

Greif holte tief Luft und blickte seinem Gegenüber entschlossen in die Augen. Der Bärtige war kräftig und vielleicht halb so alt wie Greif, aber auch deutlich kleiner.

„Das ist ein Privatgespräch. Schwirr ab“, zischte der ehemalige Boxer.

Der Jüngere dachte nicht daran und griff fester zu. „Du schwirrst ab, Kumpel, oder ich …“

Mit einem schnellen Fausthieb traf Greif den Kehlkopf des Mannes. Dieser fasste sich an den Hals und würgte. Ein zweiter Schlag traf ihn genau auf den Solarplexus, und der Bärtige brach zusammen und blieb in gekrümmter Haltung auf dem Boden liegen. Greif durchsuchte ihn mit geübten Bewegungen nach einer Schusswaffe, wurde aber nicht fündig.

Die übrigen Gäste beobachteten das Geschehen mit neugierigen Blicken. Einige grinsten. Falkenhagen war ein Viertel, in dem man Menschen zusammenschlagen konnte, ohne dass dies für größeres Aufsehen sorgte.

Greif musste sich jetzt beeilen, wahrscheinlich würde bald der bullige Türsteher zu Hilfe geholt. Die Finger seiner rechten Hand umfassten Viktorias Oberarm mit stahlhartem Griff. Vergeblich versuchte sie sich loszureißen.

„Wie viel zahlen sie dir?“

„Fünfundzwanzig pro Auftritt.“

„Ich biete mehr.“

Sie schnaubte verächtlich. „Auf einmal? Woher der Sinneswandel?“

„Das Sexy Savoy ist einer der wenigen unabhängigen Clubs in dieser Stadt, und darauf bin ich stolz. Aber ich brauche gute Leute! Ich zahle dir ab sofort dreißig pro Auftritt. Und einen höheren Anteil an den Getränkeeinnahmen.“

Sie zögerte. Der Zorn wich allmählich aus ihrem Blick.

Greif legte seine Hände auf ihre Schultern und zwinkerte ihr zu. „Du bist die beste Tänzerin, die je für mich gearbeitet hat. Habe ich das nicht immer gesagt? Komm schon, Vicky, lass deinen Vater nicht hängen. Ich brauche dich, komm zurück.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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