Marina Juric

Der alte grüne Koffer

Der alte grüne Koffer

 

Sie ist so zerbrechlich und wirkt so klein und hilflos in dem Krankenhausbett, das viel zu wuchtig scheint für ihren zierlichen Körper. Ein schwaches Lächeln, das sie viel Kraft kostet, zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, und zum ersten Mal wird mir bewusst, wirklich bewusst, wie alt sie ist. Es sind nicht die vielen Falten in ihrem Gesicht oder die Altersflecken auf ihren Händen, die es verraten, sondern die unendliche Müdigkeit in ihren Augen.

Sie sagt so etwas wie, dass sie nie mehr aufwachen möchte, wenn sie erst einmal eingeschlafen ist, und nie wieder einschlafen will, wenn sie erst einmal wach geworden ist… und ich schlucke und schlucke, aber der Kloß in meinem Hals will einfach nicht verschwinden. Ich greife nach ihrer runzligen Hand und drückte sie, nicht zu fest, um ihr nicht wehzutun, aber kein Wort kommt über meine Lippen. Ich will sie trösten, aber in Wahrheit bin ich diejenige, die sich durch die Berührung Trost erhofft.

 

Der Schatten auf ihrer Lunge breitet sich symbolisch über uns alle aus, drückt uns nieder und nimmt uns die Luft zum Atmen, und ich frage mich dauernd, warum ich sie nicht öfter angerufen habe, ihr nicht öfter gesagt habe, wie lieb ich sie habe und wichtig sie mir ist.

 

Ich muss daran denken, wie ich meine ersten sechs Jahre bei ihr und Opa verbrachte und in meinen Erinnerungen sehe ich, wie sie mir die Welt erklärt, meine aufgeschürften Knie verarztet und meine langen Haare zu Zöpfen flechtet. Ich sehe ein Paar rote Lackschuhe- in meinen vierjährigen Augen die schönsten die Welt- und wie sie mir sie kauft, glücklich über mein strahlendes Lächeln und den stolzen Blick. Ich sehe, wie sie meine Hand ganz fest hält, als ich zum ersten Mal auf einem Zahnarztstuhl sitze, und eine Welle von Dankbarkeit überflutet mich.

Ich erinnere mich, wie ich verzweifelt versuche, die wenigen Buchstaben, die ich schon kann,  zu Wörtern zusammenzufügen und immer wieder scheitere. Tränen kullern über meine Wange als ich sage: „Ich möchte auch Geschichten lesen können, so wie du, Oma!“ Sie streichelt über meine Wange, hebt mich auf ihren Schoß und beginnt erneut, mir die Buchstaben beizubringen. Mit unendlicher Geduld und ihrer ruhigen Stimme erklärt sie sie mir, und ganz allmählich lerne ich es, und eine ganz neue Welt erstreckt sich vor mir.

„Eines Tages werde ich auch Bücher schreiben!“, flüstere ich ihr zu. Es ist unser Geheimnis, niemand darf es erfahren, aber ich weiß, dass es bei Oma gut aufgehoben ist. „Natürlich wirst du das“, sagt sie ernst. „Davon bin ich überzeugt!“

 

Ich weiß nicht, ob sie sich jetzt noch gut an diese Zeit erinnert, die ich mit ihr damals verbrachte. Manchmal verwechselt sie mich mit meiner Schwester, und oft hat sie Schwierigkeiten, die Namen von Freunden und Nachbarn zuzuordnen. Oft vergisst sie auch, was sie zu Mittag gegessen hat oder welchen Tag wir gerade haben, dann muss sie eine ganze Weile überlegen, bis es ihr wieder einfällt. „Das Alter…“ erklärt sie dann peinlich berührt, so als müsste sie sich dafür entschuldigen, dass sie so vergesslich geworden ist.

 

Eines Tages bringe ich ihr den alten grünen Metallkoffer, den sie schon aus der Zeit hat, als sie Opa kennen gelernt hat. Er ist ganz zerkratzt und an vielen Stellen blättert die Farbe ab, ein hässliches, matschiges Grün, aber ich weiß, dass ihr dieser Koffer unendlich wichtig ist.

Früher hat sie mir erzählt, dass er zwei Kriege und unzählige Umzüge überlebt hat, und ich habe mich immer gefragt, was sie wohl wichtiges darin aufbewahrt. Als ich noch jünger war, dachte ich immer, dass eine riesige Menge Geld darin versteckt sein müsste, weil immer, wenn ich Oma danach fragte, sie mit einem geheimnisvollen Lächeln antwortete: „Hier drin, mein Liebes, ist ein kostbarer Schatz, der kostbarste von allen!“

 

Heute jedoch weiß ich, dass es sich dabei weder um Geld noch um Schmuck handelt.

 

In dem alten Koffer hat Oma Bilder von meiner Mutter, meinem Vater und all meinen Geschwistern bewahrt, neben alten Briefen, unseren Schulzeugnissen und den Bildern, die wir für sie gemalt haben. Es liegen auch einige Gegenstände drin, die alle mit einer persönlichen Geschichte verbunden sind und deren Wert nur sie kennt… und obwohl ich nicht mit allen Sachen etwas anfangen kann, erkenne ich doch ein hellblaues Blatt, auf dem meine allererste selbst verfasste Geschichte ist, und mir wird dabei gleichzeitig schwer und leicht ums Herz, so absurd das auch klingt.

Ganz oben auf dem Stapel liegt das Hochzeitsfoto von ihr und Opa, der vor sieben Jahren gestorben ist. Es sind Erinnerungen eines ganzen Lebens, liebevoll gesammelt und oft in die Hände genommen. In meiner Vorstellung sehe ich sie, wie sie manchmal darin kramt und dabei lächelt, und irgendwie hat dieser Gedanke etwas Tröstliches.

 

Als sie den Koffer in meinen Händen sieht, leuchten ihre Augen auf.

Sie streckt ihre Hände danach aus und ich lege ihn vorsichtig auf ihren Schoss. Sie betrachtet eine ganze Weile das Bild von ihr und Opa, und als ein sanftes Lächeln ihre Lippen umspielt, sehe ich für einen winzigen Moment den Ausdruck der jungen Frau, die sie einmal gewesen war. Sie spricht leise, aber deutlich meinen Namen aus, und als ich mich zu ihr auf das Bett setze, sagt sie: „Ich könnte nie vergessen, mit welcher Liebe ich all diese Erinnerungen gesammelt habe.“

 

Wenn Oma gegangen ist, werde ich nicht daran denken, wie sich ihr Gesicht manchmal schmerzhaft verzog oder wie sie mühsam versuchte, ein vertrautes Gesicht mit einem Namen in Einklang zu bringen.

 

Ich werde immer daran denken, wie sie dort saß und diesen alten grünen Koffer festhielt.

Wen interessiert schon, dass sie sich nicht immer an einen Namen erinnern konnte, wenn sie sich dafür immer an die Liebe zu ihrer Familie erinnerte?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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