Andreas Müller
Licht in der Dunkelheit
"Unser Leben lang halten wir uns bedeckt und wagen es nicht, Fragen zu stellen, weil wir glauben, sie wären nicht gut genug.
Ich glaube nicht länger."
Ignatius Visendus, Philosoph
Es war einmal vor langer Zeit im Königreich Metaphoras. Prinzessin Harmonia betrachtete ihr Ebenbild im Spiegel. Rubine schmückten ihr seidenes Kleid, goldene Ringe ihre Ohren. Sie dachte über ihr Leben nach: Jeden Tag gab es einige der köstlichsten Gerichte der bekannten Welt für sie und ihre Familie zu essen, sie hatte Zugriff auf die königliche Bibliothek, die schönsten und mächtigsten Prinzen hielten um ihre Hand an und ein weiches Bett erwartete sie am Abend.
Harmonia fühlte sich miserabel.
Jemand klopfte an die Tür. Die Prinzessin bat ihren Vater herein und König Ares erblickte sich im Spiegel. Er drehte seinen Kopf in Richtung Bücherregal. "Was willst du nur mit all diesen Büchern, mein Kind? Ich habe noch nie von einer Prinzessin gehört, die sich für etwas anderes interessiert, als für ihre Schönheit und dafür, ihrem Vater einen Jungen zu schenken. Traditionen sollte man nicht brechen." Harmonia drehte sich zu ihrem Vater um und seufzte. "Ach, Vater! Die Welt bietet so viel - kann es denn einen Grund geben, sich nicht an ihr zu erfreuen?" Ares lachte. "Du erinnerst dich hoffentlich an das dritte Gebot des Propheten Eris? Ich glaube, Kardinal Hypnos sollte einen größeren Wert auf deine Bildung legen." Harmonia zischte empört und verschränkte die Arme. "Wenn der Pöbel solche Gebote braucht, dann soll er sie haben! Aber lass mich damit zufrieden!" Ares lachte noch herzlicher als zuvor. "Meine geliebte Harmonia, das jugendliche Aufbegehren wird an dir vorüberziehen und du wirst deinen Platz finden. Ich vermisse es jetzt schon, diesen Charakterzug von dir fand ich immer sehr amüsant." "Warum bist du hier, Vater?" "Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass soeben ein neuer Gast eingetroffen ist, Prinz Ödipuss. Er wird heute Abend..." "...um meine Hand anhalten? Schick ihn bitte fort, ich kann auf diese dummen und eingebildeten Prinzen verzichten!" Ares amüsierte sich königlich über den Einwand seiner Tochter. "Ach, es ist beinahe eine Schande, aber deinem baldigen Gemahl wird gelingen, was mir nicht gelang: Er wird dir deine Rolle in unserer Gesellschaft klar machen! Ja, diesen Bewerber wirst du nicht abweisen! Und nun folge mir, das Mittagessen ist angerichtet." Die Größe des Speisesaals forderte jene des Kontinents Giganticus ernsthaft heraus. Die Ausstattung des Raumes brauchte sich vor seinem Umfang nicht zu verstecken: War ein Einrichtungsgegenstand nicht aus Gold gefertigt, so bestand er aus etwas noch Wertvollerem. Die beiden Enden des eichenen Esstisches lagen so weit voneinander entfernt, dass sich die Anwesenden nur mit Hilfe eines Boten verständigen konnten. Wie es die geschlechtliche Hierarchie erforderte, saß Harmonia neben ihrer Mutter Hestia an der einen Seite des Tisches, während König Ares seine üppige Mahlzeit in nördlichen Gefielden einnahm. "Ach, mein Kind...", sprach Königin Hestia, "...es ist nicht gut um die Moral des Volkes bestellt. Kardinal Hypnos erzählte mir unlängst, es bestehe in gewissen Kreisen der Wunsch auf Gesundheitsfürsorge. Andere kritisieren sogar, dass wir ihnen keine Magie zur Verfügung stellen, obwohl sie ihre Arbeit erleichtern könnte. Was kommt denn als Nächstes, frage ich mich? Öffentliche Toiletten?" Harmonia ließ erstaunt die Gabel fallen. "So?", fragte sie. "Das Volk beginnt zu denken? Das ist ja fantastisch! Außerdem: Warum gewährt ihr den Bauern und Händlern keinen Zugriff auf Magie? Ja, nicht einmal ich darf in die magische Bibliothek! Ich glaube allmählich, ihr wollt das Volk mit unnützer Arbeit vom Denken abhalten! Und mich wollt ihr von der Macht der Magie fernhalten, bis ihr meinen Geist unter Kontrolle habt!" Die Königin verschluckte sich an einem Löffel Fischeier und schüttelte sich vor Lachen. "Hach, wie ich deine zynischen Bemerkungen vermissen werde, meine Kleine!" Der Bote tauchte aus dem Nichts auf, was zu den Grundfertigkeiten in seinem Beruf gehörte, und sagte: "Der König wünscht zu erfahren, wie das Thema der aktuellen Diskussion lautet." "Ach, sag ihm, es ginge um die Bauern", sprach die Königin. Der Bote verschwand kurz und erschien plötzlich wieder. "Der König brachte den Wunsch zum Ausdruck, es möge doch bald einen neuen Krieg geben." Hestia seufzte. "Das sagt er immer."
Harmonia ging auf ihr Zimmer. Sie nahm ihr Lieblingsbuch aus dem Regal. Der Titel: "Warum Kardinal Hypnos sich irrt, dieser Trottel!" von Ignatius Visendus. Es handelte sich um das bedeutenste philosophische Werk des Jahrhunderts. Eigentlich ging es nur am Rande um Kardinal Hypnos. Es beantwortete vielmehr die größten Fragen der Menschheit: Wo kommen wir her, was sollen wir tun und wo kriegen wir es billiger? Der König hatte dem Volk die Lektüre aller Bücher verboten, "Warum Kardinal Hypnos sich irrt, dieser Trottel!" verbot er noch ein wenig mehr. Im Prinzip hätte er sich Beides ersparen können, denn er hatte dem Volk außerdem untersagt, Lesen zu lernen.
Harmonia traf eine Entscheidung: Sie würde das Volk befreien, ihm Zugriff auf Bildung verschaffen, sanitäre Anlagen errichten! Aber vorher würde sie sich noch eine Praline genehmigen.
Als Harmonia die Schokolade gegessen hatte, zog sie sich schwarze Bauernklamotten an und sprang aus dem Fenster. In weiser Voraussicht hatte sie am Tag zuvor angeordnet, Strohballen unter ihrem Fenster zu lagern, mit der Begründung, es erweitere ihren agrarischen Horizont. Sie landete sanft, kullerte auf die Wiese und raffte sich auf. Im Eiltempo durchquerte sie den Schlossgarten, bis sie am goldenen Tor zum Vorgarten ankam, hinter dem sich der Weg zum Dorf befand, ihrem Ziel. Das Problem: Ein Gott bewachte das Tor. "Halt! Ich bin Ianus, der - und ich hasse es wirklich, das zu sagen - Gott der öffentlichen Tordurchgänge sowie der Ein- und Ausgänge!" Harmonia schlug gegen das Tor. "Lass mich durch, Ianus!" Das Tor wirkte erstaunt. "Harmonia! Du bist das! Aber was trägst du heute für komische Klamotten?" "Das geht dich nichts an!" "Also, Harmonia, ich bin gekränkt! Wir kennen uns schon seit deiner Kindheit und du traust mir noch immer nicht!" Das Tor quietschte traurig. "Tut mir Leid, Ianus, aber ich habe es eilig!" "Du weißt, wie die Sache läuft: Zuerst musst du das Rätsel lösen." "Ich höre..." "Wenn du es kaufst, ist es schwarz. Wenn du es gebrauchst, ist es rot. Wenn du es wegwirfst, ist es grau. Was ist das?" Harmonia überlegte, wobei sie ihr Kinn auf einem Zeigefinger balancierte. "Kohle", sagte sie. "Hey, das war gut! Vielleicht erzählst du mir ja, wo du warst, wenn du zurückkehrst. Viel Glück da draußen, Harmonia!" Das goldene Tor öffnete sich und quietschte dabei leise eine pathetische Melodie. Harmonia rannte hinaus in die finstere Nacht.
Bei Tagesanbruch erreichte sie das Dorf. Handwerker, Bauern und andere Vertreter der Unterschicht liefen durch die Gassen. An den Straßenrändern saßen schon die Bettler, die sozusagen zur Tiefgarage der Unterschicht zählten. Gelegentlich sah Harmonia auch einen Kaufmann oder ein Gildenoberhaupt, welche im Obergeschoss der Unterschicht wohnten. Harmonia wurde auf den Dorfschmied aufmerksam: Er war glatzköpfig und muskulös, trug braune Lederkleidung und kam Harmonia bekannt vor. Sie vermutete, dass sie ihn aus einem der Bilderbücher kannte, welche ihr ein Diener im Kindesalter gezeigt hatte. Der Schmied bearbeitete seinen Amboss mit dem Hammer, als sich Harmonia ihm näherte.
"Guten Morgen, Herr, ähm - Schmied!", sagte sie. Der Schmied unterbrach verdutzt seine Arbeit. "Woher kennst du meinen Namen, oh geschminkte und mit Goldohrringen versehene Bäurin?" Harmonia ließ schnell ihre Ohrringe in der Innentasche ihrer Kleidung verschwinden. "Ach, das war nur weibliche Intuition. Ich habe eine Frage: Sind hier alle Leute so arm?" Schmied legte seinen Hammer beiseite und lächelte. "Wir haben es hier mit einer feudalen Gesellschaftsordung zu tun. Die Besonderheit der hiesigen Version ist die geringe Anzahl an Lehensherren, genau genommen gibt es nur einen: Den König. Desweiteren sind die Menschen hier in eine Klasse, neuerdings "Schicht" genannt, unterteilt. Es gibt arme Arme, mittelständische Arme und reiche Arme, zu letztgenannten gehöre ich selbst. Abgesehen von dieser Schicht gibt es noch den Adel, bestehend aus dem König und seiner Familie, und den Klerus. Und Joe, aber seine Schichtenzugehörigkeit ist unter den Geisteswissenschaftlern in dieser Gemeinde, mir und dem Bäcker, umstritten. Der Bäcker meint, er gehöre einer dritten Schicht an, der Mittelschicht. Ich jedoch zähle ihn zu den reichen Armen der Unterschicht." "Was macht ihn denn so besonders?" Schmied lächelte. "Es zirkuliert das indiziengestützte Gerücht, er habe eines Tages einen frischen Fisch gegessen. Damit unterschiede er sich deutlich von der Unterschicht. Ich zweifle jedoch die Beweislast der Indizien an." "Das ist ja furchtbar!" "In der Tat sind alle ziemlich eifersüchtig auf Joe." "Warum lasst ihr es euch gefallen, dass euch der König so schlecht behandelt?" Schmied lachte. "Ach, das ist einfach: Wir sind hier alle viel zu ungebildet, als dass wir überhaupt von der Unterdrückung und Ausbeutung durch den König wissen könnten. Dazu kommt die Beeinflussung des Volkes durch den Klerus. Die Hypothese der Existenz eines höheren Wesens wird von ihm dazu verwendet, uns durch Zuckerbrot und Peitsche gefügig zu machen. Er behauptet, unsere fiktive postmortale Existenz könne ein paradiesisches Leben im Konstrukt "Himmel" führen, sollten wir uns an die vom Klerus erdachten und auf das höhere Wesen übertragenen Gesetze halten. Diese zielen darauf ab, uns den ganzen Tag arbeiten zu lassen und uns somit vom Denken abzuhalten. Gelegentlich werden wir außerdem vom König zum Wehrdienst gezwungen, damit er seinen Machtbereich ausweiten kann." Harmonia ließ den Kopf hängen und seufzte. "Gab es noch niemals jemanden, der die Arbeit für einen Moment niederlegte, um zu denken?" "Oh doch: Es gibt den Bäcker und es gibt mich! Die restlichen Angehörigen der oberen Unterschicht legen mehr Wert auf Sex mit den schönen Mädchen, die sich von ihrem Reichtum angezogen fühlen. Denken ist jedoch auch für uns nur sehr kurze Zeit möglich, da wir ohne die Einnahmen aus unserer Berufstätigkeit verhungern müssten. Ich empfehle dir übrigens auch die schnellstmögliche Suche nach einem Arbeitsplatz." "Danke, Schmied. Aber zunächst einmal möchte ich gerne wissen, ob es hier einen Ort gibt, an dem sich die Leute von ihrer langen Arbeit erholen können?" Schmied zog eine Augenbraue hoch. "Aber gewiss doch: Es gibt ihr Bett, oder einen Haufen Stroh, oder den Boden, in den meisten Fällen." "Nein, ich rede von einem gesellschaftlichen Treffpunkt, so eine Art Rathaus oder Gemeindezentrum." Harmonia hatte von diesen Orten in ihren Büchern gelesen. "Nun, da wir uns nicht selbst regieren dürfen, verfügen wir auch nicht über ein Rathaus. Ich kann dich jedoch auf unsere Kneipe verweisen, Zum erschöpften Sklaven, gleich die Straße runter. Den Namen habe ich mir ausgedacht, außer mir könnte ihn sowieso niemand aufschreiben. Immerhin bezahlt der König unseren Alkohol. Wir können so viel trinken, wie wir möchten." "Warum ist er in dieser Hinsicht so großzügig?" "Alkohol in großen Mengen zerstört den Verstand." "Nett... Du und der Bäcker: Seid ihr niemals auf die Idee gekommen, das Volk zur Rebellion zu führen?" "Du vergisst des Königs Leibgarde. Sie erhalten existenzielle Vorteile für ihre Treue dem König gegenüber, so wie auch wir in Kriegszeiten. Außerdem sind sie die Einzigen, die über Waffen verfügen, sie herstellen und besitzen dürfen." "Das sieht ja düster aus... Danke auf jeden Fall für deine Hilfe! Ich werde mich sodann zu jener Kneipe begeben. Wir werden einander gewiss erneut treffen. Auf Wiedersehen, lieber Schmied!" "Auf Wiedersehen..." Als Harmonia aus Schmieds Blickfeld verschwunden war, fügte er hinzu: "...Prinzessin Harmonia. Und danke für die Bücher."
Harmonia hatte dem Schmied als Kind einige Bücher geschenkt, als sie sich vor ihrer heiligen Kommunion im Dorf versteckte. Sie hatte ein paar Wochen bei ihm gewohnt und ihm Lesen beigebracht. Die königliche Leibgarde fand sie eines Tages bei einem Botengang im Dorf und brachte sie zurück in den Palast. Der königliche Geheimdienst unterzog sie einer Gehirnwäsche, die ihre Erinnerung an ihr Leben beim gemeinen Volk aus ihrem Gedächtnis verbannte, so wie der König es verlangte.
Beim erschöpften Sklaven handelte es sich um eine reich ausgestattete Kneipe. Von außen ähnelte sie einem alten Fachwerkhaus. Sogar das Schild hing krumm und schien aus Schlamm zu bestehen. Als Harmonia die Tür öffnete, glänzten sie goldene Kronleuchter an, welche auf die nächste Kneipenschlägerei warteten. An den Wänden hingen Teppiche mit dem königlichen Wappen. Der Barmann trug sogar einen Anzug mit Krawatte, den er sich aus einem anderen Jahrhundert geborgt hatte. Der König legte wahrlich viel Wert auf den Alkoholgenuss seines Volkes. So früh am Morgen waren noch nicht viele Gäste anwesend. Nur ein Barde hatte sich eingefunden und unterhielt eine Frau, die offenbar als Schankwirtin hier arbeitete. Er unterlegte seinen Gesang mit schnellen Akkorden auf seiner Leier:
Ausgelassen tanzen wir,
gröhlen nur und trinken.
Singen über Vögelein,
Amseln, Drosseln, Finken.
Früh am Morgen stehen wir auf,
schreien nur und zanken.
Verprügeln unsere Kinder,
und verteufelnd unsere Kranken.
An die Arbeit gehen wir flugs,
hämmern nur und backen.
Schuften uns zu Tode,
mahlen, werkeln, hacken.
Doch es kommt einmal der Tag,
an dem jeder das tut, was er mag!
Dann gibt es keine Arbeit mehr,
und das Leben fällt nicht schwer!
Wir schicken Pfaffen auf die Felder,
Generäle in den Krieg,
den Adel in die Wälder,
das wird unser großer Sieg!
Die Schankwirtin applaudierte und küsste den Barden auf die Wange. "Großartig! Dafür kriegst du ein gutes Bier und einen Ruheplatz für die Nacht!" Sie lächelte ihn an und verschwand hinter dem Tresen. "Die guten, alten Arbeiterlieder verfehlen nie ihre Wirkung. Na ja, wie man's nimmt." Harmonia näherte sich verdutzt dem Barden. Als sie sein Gesicht sah, stockte ihr der Atem. "Oh, hallo schönes Fräulein, welches erstaunlich sauber und gepflegt aussieht und mit ihrem Aussehen sofort meine Liebe gewinnt." "Ha... Hallo. Dieses Lied..." "Ja, merkwürdig. Es scheint nicht einmal die Leibgarde zu stören. Offenbar achtet kein Mensch auf den Text. Die Leute gehen wohl davon aus, dass es ohnehin keine kritische Aussage haben kann. Das würde der König schließlich niemals zulassen." Harmiona seufzte. "Ich weiß, das geht ein wenig schnell, aber hast du vielleicht Lust..." "...das System zu stürzen? Die Monarchie durch eine Demokratie zu ersetzen?" "Das können wir später machen. Zunächst dachte ich an Sex." "Umso besser!"
Nach einer turbulenten Stunde in dem kleinen Zimmer, das der Barde in der Kneipe bewohnte, fragten sich die beiden Verliebten nach ihren Namen. Appolon hieß der Musiker. Er verdiente sein Geld damit, die Dorfbewohner nach einem harten Arbeitstag zu unterhalten und zu ihrer Entspannung beizutragen, außerdem übte er Gesellschaftskritik aus, die niemand verstand, wofür ihm dennoch Anerkennung zuteil wurde. Leider musste er sich jeden Tag darum kümmern, an Nahrung und einen Schlafplatz zu gelangen. Meistens kam ihm eine Schankwirtin entgegen, doch es kam auch vor, dass er die Nacht hungernd im Straßengraben verbringen musste. Harmonia erzählte wahrheitsgetreu ihre Geschichte, welche den Barden nicht sehr erstaunte. "Ich wusste gleich, dass du es bist", sagte er. "Kein Dorfmädchen kann so gut aussehen. Die nagen alle am Hungertuch." Harmonia und Appolon gelangten schnell zur Erkenntnis, dass sich ihre politischen Ziele glichen und sie sich von anderen Menschen dadurch unterschieden, dass sie überhaupt Ziele hatten, die über das tägliche Überleben hinaus gingen. Dies wiederum stellte ein großes Problem dar, denn wie sollten sie das Volk zum Aufstand bewegen, wenn es gar nicht wusste, wofür es aufstehen sollte und was das eigentlich bedeutet?
"Brot", sagte Harmonia. "Wie meinst du das?" Sie saßen nebeneinander auf dem Bett, während Appolon seine Freundin in den Armen hielt. "Dafür würde das Volk kämpfen", erklärte die Prinzessin. "Freiheit, Vernunft, Humanität - all diese Dinge kann man weder essen, noch sich mit ihnen paaren. Das verstehen die Leute nicht. Brot ist unmittelbar einleuchtend." "Ja...", meinte Appolon, "...aber was werden sie tun, wenn sie erfahren, dass sie kein Brot bekommen?" Harmonia seufzte und zögerte einen Moment. "Das ist nicht so schlimm", meinte sie. "Sie werden die Früchte vom Baum der Erkenntnis essen dürfen, das wird sie besänftigen." Appolon schreckte auf. "Der existiert wirklich?" "Gewiss. Er steht im Vorgarten des Schlosses, bewacht von einem Gott." "Von einem Gott?" "Ja, aber das sollte kein Problem darstellen, wir sind alte Freunde." "Du bist die Freundin von einem Gott!?" "Ach, das ist nur ein kleiner Gott, nicht sonderlich bedeutend. Er ist sehr nett." „Schön... Wann können wir zu den Leuten sprechen?“ „Am Sonntag, also morgen. Der Gottesdienst ist die perfekte Gelegenheit.“
Königin Hestia ließ alle Hochzeitskleider für Harmonia vorführen, welche die königliche Näherei zu bieten hatte. Eine Dienstmagd stand Modell und fühlte sich erhaben in ihrer Rolle, während ihr ein goldenes Korsett das Atmen fast unmöglich machte. Die Tür des Kleiderschranks öffnete sich und der Bote kam heraus. „Der Kammerdiener lässt vermelden, dass Prinzessin Harmonia nirgends zu finden ist.“ „Ach, sie wird nervös sein, wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit mit Prinz Ödipuss. Das legt sich mit der Zeit.“ „Wie Sie wünschen, Ihre königliche Hoheit“, sagte der Bote leicht verwirrt und verschwand im Kamin. „Krieg, Krieg, Krieg...“, sang König Ares, als er die Näherei betrat. „Reimt sich sogar.“ „Ah, Schatz: Harmonia ist offenbar verschwunden. Welches Kleid findest du schöner: Das blaue oder das rote?“ “Verschwunden, wie? Die Jugend heutzutage, bleibt einfach nicht an Ort und Stelle. Das Rote ist schöner, erinnert mich an Blut und Krieg.“
Glockengeläut erklang durch das Dorf. Die Leute zogen ihre besten Sachen an, also die einzigen Sachen, die sie besaßen, und machten sich auf zur Kirche. Währenddessen irrte der Dorfpriester durch den nahen Wald. Er suchte einen brennenden Dornbusch, der sich laut Harmonia hier irgendwo befand. Jene durchwühlte mit Appolon das Zimmer seiner Geistlichkeit, bis sie auf passende Priesterkutten stießen. Sie wurden desweiteren auf einen Chemiebaukasten aufmerksam, den sie näher begutachteten.
Das Volk saß versammelt auf den Kirchenbänken, aufgeteilt nach Rang und Namen. Die Glocken verstummten. Appolon stieß Harmonia auf die Kanzel und sie trat ihm gegen das Schienbein. "Au! Lass das!" Aus den Reihen der Gläubigen ertönte ein gelangweiltes "Amen". "Nein, ich meine nicht euch! Nun...", stotterte Appollon. "Ich habe heute einen Gastprediger bei mir." "Und in deinem Geiste", erklang es von den Kirchenbänken. "Ihr hört mir ja gar nicht zu!" "Lieber Gott, erbarme dich." "Lass mich das übernehmen", sagte Harmonia. "Liebe Gemeinde... Ein Wunder!" Harmonia warf einen Säckel in die Luft, in dem eine brennende Lunte steckte. Er explodierte mit einem lauten Knall inmitten der Kuppel. "Oh!", rief das Volk. "Es gibt ihn ja doch! Das heißt... Natürlich gibt es ihn und das ist der Beweis, noch ein Beweis!" "Ja, und wisst ihr, was euch Gott befiehlt?", schrie Harmonia von der Kanzel. "Nein, was befiehlt er uns denn?" "Ihr sollt in den königlichen Garten gehen!" "Das machen wir nicht, sonst bekommen wir großen Ärger." "Was fällt euch ein, es ist Gottes Befehl!" "Gott hat keine Streckbänke. Der König schon." "Zeit für die Geheimwaffe", murmelte Appolon. "Im Garten gibt es Brot!" "Juhu!"
Das Volk - zumindest der örtliche Teil davon - stürmte auf das Königsschloss zu, während Appollon und Harmonia versuchten, das Tor vor ihm zu erreichen. "Ianus, schnell, geh auf!" "Erst müsst ihr..." "Öffne dich jetzt, oder du wirst dich nie wieder öffnen können!" Als Ianus das hungrige Volk erblickte, erkannte er "Das ist die richtige Antwort!" und ermöglichte den Zugang zum Schlossgarten. Harmonia rannte geradewegs auf den Baum der Erkenntnis zu, der sich erschrocken entwurzelte und aus der Erde stieg. "Bleib hier! Ich habe keine Lust, dich schon wieder einzufangen! Wir wollen nur deine Früchte!" Der Baum jedoch glaubte das nicht und rannte quer durch den Vorgarten. Harmonia wandte sich an das Volk: "Das Brot wächst auf diesem Baum!" Obwohl der Bäcker Zweifel anmeldete, kreisten die Leute blitzschnell den Baum der Erkenntnis ein. "Wir wollen nur deine Frü... dein Brot!", sagte Harmonia und zwinkerte. Der Baum schüttelte ängstlich seine Früchte ab und die Leute verschlangen so viele davon, wie sie in die Hände bekommen konnten, gänzlich uninteressiert daran, dass die Früchte eher wie Bananen schmeckten und aussahen, nicht wie Brot.
Die königliche Leibgarde strömte aus dem Schlossgarten auf die Dorfbewohner zu und kreiste sie ein. Der König und seine Gemahlin folgten in gemächlichem Tempo.
"Was ist das hier für ein Aufstand?", gähnte Königin Hestia. "Oh, Harmonia, du bist zurück." "Ja, das bin ich! Und ich habe das Volk mitgebracht!" "Dieses Häufchen Bauern!", lachte König Ares. "Kommunale Gemeinschaften sind das Fundament jedes Königreiches", stellte Schmied fest. "Außerdem haben sie spitze Mistgabeln." Die Dorfbewohner holten Fackeln, Harken und ähnliche Aufstandsutensilien aus ihren Lumpen hervor und blickten grimmig drein. Ares lachte noch immer. "Tötet sie!", befahl er. "Lasst nur meine Tochter am Leben, sie heiratet heute." "Nein!", schrie Harmonia. "Du kannst das Volk nicht ewig unterdrücken! Es hat nun vom Baum der Erkenntnis gegessen und wird deine Tyrannei nicht länger hinnehmen!" "Exakt", bestätigte ein stolzer Mistgabelträger. "Aber Kindchen! Was sollte mich davon abhalten, sie alle töten zu lassen?" "Das Schwert in deinem Rücken!", stellte Appolon fest. Er hatte sich von hinten an einen Leibwächter angeschlichen, ihm das Schwert abgenommen und Ares Brust damit durchbohrt. "Du hinterlistiger Mistkerl! Egal, diese Fleischwunde wird mich nicht aufha..." Mit diesen Worten brach der König tot zusammen. "Also, das finde ich jetzt aber gar nicht gut!", stellte Hestia fest. "Hätte man das nicht ohne Gewalt lösen können?" "Vielleicht", meinte der Schmied. "Aber das hier geht schneller. Es würde nicht funktionieren, wenn ich nicht schon einen konkreten Plan für unsere neue Gesellschaft ausgearbeitet hätte. Das habe ich aber. Hiermit erkläre ich das Schloss zu unserem Rathaus. Auf zum Diskurs!" Die Leibgarde legte die Waffen nieder und schloss sich dem Volk an, da sie nun niemand mehr bezahlte. Harmonia umarmte ihre Mutter. "Na ja", meinte sie. "Eigentlich war er ein rasender Irrer. Mal sehen, was ihr euch ausgedacht habt. Ich darf doch hoffentlich weiterhin im Schloss wohnen?" "Natürlich, Mutter!", weinte Harmonia. "Es ist trotzdem schade. Ich hatte mich so auf deine Hochzeit gefreut." Appolon näherte sich und ergriff die Hand seiner Partnerin. "Harmonia: Willst du mich..." "Nein. Eine Ehe würde uns die Freiheit nehmen. Aber ich möchte weiter mit dir zusammen sein. Wie wäre es mit einer offenen Beziehung?" "Was ist das?" "Das heißt, wir dürfen beide auch mit anderen Leuten Sex haben. Ansonsten ist es wie eine Ehe." "Klingt gut. Lasst uns Kardinal Hypnos festnehmen. Er soll für uns Kartoffeln ernten."
So geschah es, dass ein neues, goldenes Zeitalter in Metaphoras anbrach. Alle Dörfer wurden befreit und eine Mischung aus parlamentarischer Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung ersetzte das alte Ständesystem. Das Volk bekam Zugriff auf Magie und die schwere Arbeit erledigte sich dadurch fast wie von selbst.
"Da bist du ja!" Der Priester hatte den brennenden Dornbusch gefunden. "Ja, da bin ich. Dein Gott. Hast du eine Frage?" "Oh ja!", sprach der Priester. "Was verlangst du von deinen Gläubigen?" "Ach nichts", meinte Gott. "Ich bin hier eigentlich recht zufrieden, ich brenne so vor mich her. Die anderen Leute haben sowieso nie wirklich an mich geglaubt." "Na super... Und was soll ich jetzt tun?" "Ich weiß nicht. Tu was du willst. Warum holst du uns nicht ein bisschen Weihrauch?" "Ok."
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2007.
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