Sabrina Kreisle

Der rote Teppich

Sie standen mit ihren Panzern zehn Kilometer vor der Stadt, die Russen. Man hörte den Geschützdonner der Artillerie und das schrille Heulen der ‚Stalinorgeln’ bis tief in die unterirdischen Bunker. Und vereinzelt brummten Flugzeuge, mit einem roten Stern auf dem Rumpf und den Tragflächen, über die Stadt. Sie beschossen einzelne deutsche Stellungen am Stadtrand mit ihren Bordkanonen. Eigentlich beschossen sie alles, was sich bewegte. Auch Menschen, oder Flüchtlingstrecks, die auch schon durch die Stadt gezogen waren oder es noch immer taten. Viele waren schon aus der Stadt geflohen, seit gemunkelt wurde, dass der Russe es bis hierher schaffen würden, ohne das die Deutschen ihn aufhalten konnten.

Viele waren geblieben. Diejenigen, die ihr Zuhause nicht aufgeben wollten.

Ein Mädchen, mit dunkelblonden halblangen Haaren, stand am Ausgang des Bunkers und beobachtete, wie einige junge Soldaten ein Artilleriegeschütz über die staubige, mit Mauerbrocken übersäte Straße schoben. Auf eine große Kreuzung zu, auf der eine Panzersperre, aus Holzbalken, Steinen und in den Asphalt gerammten Metallstangen, aufgebaut war. Wenn die Russen durchbrachen, sollten sie hier auf Widerstand stoßen. Die Panzersperre verteidigte eine Gruppe Hitlerjungen. Alle zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt, in zerschlissenen Uniformen und mit staubigen Gesichtern.

Die älteren Soldaten bemerkten das kleine Mädchen und riefen ihr zu, sie solle hineingehen, hier würde es gleich laut werden. Sie nickte schnell und sah sie bittend an. Sie wolle nur noch kurz bleiben, im Bunker sei drunten es so langweilig.

Ein Soldat nickte ihr gedankenverloren zu und hantierte weiter an dem Geschütz herum. Sie stellten das lange Rohr nach oben, dass es knapp über die Panzersperre hinwegzeigte. Die Hitlerjungen postierten sich mit Panzerfäusten hinter der Sperre, in der Hoffnung einen russischen Panzer zu erledigen.

Das Mädchen seufzte und beobachtete nachdenklich den Himmel. Er war hellblau, mit vereinzelten weißen Wolkenfetzen, die wie einzelne Wattebausche anmuteten. Für Anfang April war es schon ziemlich warm. Ein lauer Wind blies durch die Stadt und ließ die Blätter der Bäume sanft rascheln.

Sie stellte sich vor, wie sie an einem See lag, mit ihren Eltern und Geschwistern. Im tiefsten Frieden. Sie würden grillen, Spaß haben und baden. Sie würde mit ihren Brüdern spielen, im Wasser planschen und einfach die Freude genießen. Doch ihr Bruder und ihr Vater waren nicht da. Vater war in Nordfrankreich, in Gefangenschaft. Ihr älterer Bruder war gefallen. Abgeschossen in einem Messerschmitt-Jagdflugzeug über Stalingrad.

Es würde nie mehr so sein, wie sie es sich eben vorgestellte hatte. Nie wieder würde ihr Bruder sie auf seinem Rücken herumtragen und dabei schallend lachen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie musste schlucken, weil die Tränen kommen wollten.

Mutter hatte wütend ihre Hakenkreuzfahne im Ofen verbrannt, als die Nachricht von seinem Tod kam. Heimlich natürlich, damit niemand es merkte und sie bei der Gestapo anschwärzen konnte. Nur ihre Wut musste sie irgendwie herauslassen, und die Fahne kam ihre gerade recht, die hing sowieso nie aus dem Fenster.

Die Wehrmacht hatte einen Stapel Briefe, die ihren Bruder nie erreicht hatten, mit dem Vermerk ‚Gefallen für Großdeutschland’ zurückgeschickt. Nur ein mickriger Satz, der das Leben aller verändert hatte.

 Da war Vater gerade da gewesen. Auf seinem letzten Heimaturlaub. Und war seitdem nicht mehr derselbe gewesen. Er hatte nicht einmal etwas gesagt, als Mutter die Fahne in den Ofen gestopft hatte. Er hatte nachdenklich zugesehen und wortlos genickt, den zurückgeschickten Stapel Briefe anstarrend.

Und nun standen die Russen vor der Stadt. Mit Panzern, Artillerie und Infanterie. Haufenweise deutsche Soldaten kamen auf ihrem Rückzug durch die Stadt. Fragten in den Bunkern nach Essen und ließen dann ihre Uniformstücke irgendwo herumliegen, damit sie als Zivilisten fliehen konnten. Das makabre war, dass immer noch ‚Kettenhunde’ der Feldgendarmerie, nach Deserteuren suchte und sie kurzum einfach erschossen. Sie hatte am Stadtrand einen gesehen, der an einem Baum hing, mit einem Schild um den Hals, auf dem stand: ‚Ich habe mein Vaterland verraten’. Sie hatte den Blick nicht von ihm abwenden können, wie er da so baumelte und im Wind schwankte. Der Kopf hing ihm auf der Brust und man hatte ihm offenbar auch noch in den Kopf geschossen. Mutter hatte sie sofort weggezogen, von dem Ort, damit sie es nicht sah, doch da war es schon zu spät. Das Bild hatte sich in ihr eingebrannt, und sie wusste, dass sie es nicht mehr vergessen würde.

In den Bunkern wurde schon lang nicht mehr über den Endsieg geredet. Nur noch darüber, wann denn alles ein Ende hatte. Nur mit gesenkter Stimme oder im Flüsterton, immerhin konnten fanatische Nationalsozialisten unter ihnen sein, die nicht einmal jetzt ihren Glauben verloren hatten oder es nicht wahrhaben wollten, dass es zu Ende ging. Keiner wollte so kurz vor Ende noch an einem Baum oder einer Wand enden.

Die Alten beteten, die kleinen Kinder weinten, wenn es krachte. Ihr kleiner Bruder Max war seit zwei Tagen verschwunden. Er hatte Essen suchen wollen, weil die Vorräte zuneige gingen. Er trug ebenfalls HJ-Uniform und Mutter hatte Angst, dass die Russen ihn geschnappt und erschossen hatten.

Die Kleine atmete tief ein und aus. Die warme, frische Luft tat ihr gut. Die Luft im Bunker dagegen war abgestanden, stank und war zum schneiden dick. Draußen stank es auch, nach dem Rauch der brennenden Häuser. Sie lehnte sich an eine der der Säulen, die den Ausgang des Bunkers säumten. Wenn ihre Mutter wüsste, dass sie hier war, würde sie wütend werden. Durch ihr angespanntes Nachdenken, hörte sie das Rauschen erst, als es beinahe schon zu spät war. Sie warf erschrocken einen Blick nach oben. Kein Flugzeug. Ein Blick nach vorne. Auch kein Panzer, dessen Geschützturm über der Sperre in Sicht kam. Trotzdem zischte und heulte es ohrenbetäubend. Ihr Herz rutschte in die Hose und die Angst ließ ihren Magen flattern. Ihre Beine waren wie gelähmt und sie rührte sich keinen Schritt zurück oder vor. Sie presste ihre Hände zu Fäusten, sodass die Fingerknöchel weiß heraustraten.

Die Köpfe der Soldaten ruckten nach oben. Einer blickte erschrocken zu ihr und rannte auf sie zu. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, denn plötzlich sprang er auf sie zu, wohl um sie zu beschützen. Er warf sie zu Boden und sie fielen die Treppe zum Bunkereingang hinunter. Der Soldat hielt sie umklammert und an sich gepresst, damit ihr nichts geschah.

Dann gab es einen Volltreffer ins Nachbarhaus, das direkt nebenan lag, ohne einen Zentimeter Zwischenraum zwischen den Häusern. Es gab einen lauten Knall, der die Wände erbeben und Staub von der Decke rieseln ließ. Feuer schoss aus den oberen Stockwerken und Steinbrocken fielen auch auf die Bunkertreppe hinunter. Splitter flogen durch die Gegend, wie kleine Geschosse und bohrten sich in die Wände. Eine riesige Wolke bauschte sich auf, als das Nachbarhaus in sich zusammenfiel, und vernebelte die Sicht.

Das Mädchen wimmerte leise. Sie spürte den warmen Körper des Soldaten auf sich, seinen festen beruhigenden Druck, und begriff noch nicht richtig, was eben passiert war. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Doch in ihr schrie alles. Vor Angst und Panik.

Sie hatte die Augen fest zugedrückt, wollte nichts sehen, nichts hören.

Der Staub legte sich langsam. Die Sicht auf die Straße wurde wieder klar. Es war totenstill. Nur das vereinzeltes leise bröckeln der Steine, die von der Mauer herunterfielen, störte die Stille. Das Nachbarhaus war nur noch ein Haufen Schutt, aus dm es rauchte und qualmte. Ein einzelnes Sofa lag zerfetzt auf der Straße und bot einen makaberen Anblick.

Das Mädchen schob sich unter dem Körper des Soldaten langsam hervor. Er drückte ihr die Luft ab. Sie war ganz geschockt, weil er sich einfach so auf sie geworfen hatte, als die Granate einschlug. Doch er rührte sich nicht. Sie schob seinen Arm weg, der sich um ihren Körper geschlungen hatte und versuchte sich unter seinem schweren Körper herauszuwinden.

Sein Stahlhelm war ihm halb über das Gesicht gerutscht und warf einen Schatten auf den Rest seines Gesichts. Sie streckte ihre Hand aus, zog sie jedoch ängstlich wieder zurück. War er vielleicht verletzt? Sie wollte ihn nicht anfassen, und ihm womöglich wehtun.

Hinter ihr wurden plötzlich Stimmen laut als die Tür des Bunkers sich öffnete. Sie sah ihre Mutter, die mit blassem Gesicht auf sie niederblickte. Sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund, als sie ihre Tochter dort liegen sah, inmitten Schutt und Steinen.

Das Mädchen konnte die Leute und ihre Mutter nur vage hören. In ihren Ohren pfiff es.  Jemand rollte den Körper des Soldaten von ihr herunter. Sein Stahlhelm rutschte herunter und rollte die restlichen Stufen hinunter, in den Bunker hinein. Klonk, Klonk, Klonk. Dann war er im inneren verschwunden.

Sie sah, dass der Soldat helles, braunes Haar hatte, das an den Seiten etwas wellig war. Er hatte ein sehr junges Gesicht. Nicht wie Vater, der Falten um die Augen hatte. Er war vielleicht eher im Alter ihres gefallenen Bruders.

Etwas war aus seiner Tasche gerutscht. Es sah aus wie ein kleines Blatt Papier. Das Mädchen nahm es vorsichtig in die Hand. Es war ein zerknittertes, vergilbtes Foto, auf dem ein kleines Mädchen und eine junge Frau zu sehen waren. Das Mädchen saß auf dem Schoß seiner Mutter, die den Arm um es gelegt hatte, und lachte offen in die Kamera. So ein Bild hatte Vater von Mutter und ihr und den Geschwistern auch immer dabei.

Das Mädchen sah, dass der Soldat die Augen geöffnet hatte. Er hatte hellblaue Augen. Sie kroch zu ihm hinüber und legte das Bild in seine geöffnete Hand. Doch er griff nicht zu. Er ließ das Foto einfach in seiner Handfläche liegen.

Wieso hielt er sein Bild nicht fest? Hatte er sich doch wehgetan, als er sie von dem lauten Knall weggebracht hatte und konnte sich nun nicht bewegen?

Sie kroch ein Stück näher und griff in etwas Feuchtes. Sie erstarrte kurz und zog die Hand schnell weg. Sie wischte sie an ihrem Rock ab und hinterließ eine rote Spur darauf. Da sah sie schuldbewusst zu ihrer Mutter, weil sie ihren Rock schmutzig gemacht hatte. Doch Mutter schien es nicht zu bemerken. Sie sah auf den Soldaten, hatte eine Hand vor dem Mund und Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Das Mädchen beugte sich über den Soldaten und sah ihn direkt an. In seinen hellen, blauen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck. Er hatte sie geöffnet und sah sie an. Sie drückte seine Hand, mit dem Foto, zu, sodass er es nicht verlor, wenn er aufstand. Seine Hand war ganz warm. Doch irgendetwas an seinem Blick bereitete ihr Unbehagen. Er schien sie nicht wirklich wahrzunehmen, sondern durch sie hindurch zu sehen. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Bei einem Blinden, der seine Augen immer auf einen gerichtet hatte, doch nie etwas wahrnahm.

Jemand legte seine Hand über das Gesicht des Soldaten und als dieser jemand die Hand weg nahm, hatte der Soldat die Augen geschlossen.

Er sah friedlich aus, fand das Mädchen, als würde er schlafen. Sie konnte sich auch nicht erklären, was das rote an ihrer Handfläche war und wieso er sich einfach so die Augen zudrücken ließ. Auf einmal nahm Mutter sie unter den Achseln und zog sie hoch. Nahm sie fest in den Arm. Da sah das Mädchen, dass der Soldat auf einem roten Teppich lag. Ganz ruhig. Und seine Hand hielt noch immer das Bild fest.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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