Rolf Kirsch
Bredenberg geht in den Ruhestand
Als Bredenberg vor dem Beginn seines Ruhestandes war, da dachte er, Bredenberg, darüber nach, wie es sein würde, wenn er, Bredenberg, seine eigene Zeit zurückbekäme, die Zeit, die er, mit sechs Jahren Leben und einer Zuckertüte, beinahe aufgab, indem er sie durch fremde Zeit immer mehr verdrängen ließ.
Damals, so erinnerte sich Bredenberg, war er stolz darauf, seine eigene Zeit zu verlieren und sich fremder zu stellen. Ihm wurden Pflichten angetragen, die er gerne auf sich nahm, des Lobes gewiss, wenn die Ableistung der Ordnung genügte.
Das, so Bredenberg, endete nie. Niemals bekam er seine eigene Zeit zurück. Aber Bredenberg vergaß nicht, dass es sie gegeben hatte, die eigene Zeit. Denn an Wochenenden und an Feiertagen, auch an Urlaubstagen, da blitzte sie manchmal auf, vage, flüchtig.
An diesen Tagen wusste Bredenberg, dass die eigene Zeit nur kurz sein würde, bald wieder aufgelöst durch fremde Zeit. So ließ Bredenberg die eigene Zeit vorübergehen, oft ungestaltet, als Pause auf die fremde Zeit erklärt, abwartend, manchmal die fremde ungeduldig erwartend, weil die eigene leer blieb und damit die Pause zu lang.
Bald, das sah Bredenberg heraufziehen, bald würde er seine eigene Zeit zurückbekommen. Sie würde ihm, so dachte Bredenberg, nur noch einmal genommen, dann endgültig, wenn nicht mehr unterschieden wird in eigene Zeit und fremde Zeit. Das, so hoffte Bredenberg, würde noch etwas dauern.
Heute jedoch freute er sich schon auf die Antwort, die er geben würde jenen Neidern, die den Luxus der eigenen Zeit noch nicht haben dürfen und ihn, Bredenberg, beglückwünschen zur endlich erlangten eigenen.
Die, gefangen in der fremden Zeit, von dieser beherrscht, sagen: „Herzlichen Glückwunsch, Bredenberg, zur eigenen Zeit, machen Sie etwas daraus, nutzen Sie sie, fangen Sie etwas damit an.“
Aber Bredenberg würde antworten, und auf diese Antwort freute er sich schon jetzt, noch vor seinem Ruhestand:
„Ich habe nun eigene Zeit. Ich werde nichts mehr nutzen, anfangen, daraus machen. Ich werde sie verbrauchen, die eigene Zeit, einfach nur verbrauchen, wie ein Kind.“
Und Bredenberg, der hoffte, diese Antwort einmal geben zu können, lächelte, weil er wusste, mit dieser Antwort würde er sich ganz freimachen von der fremden Zeit und von jenen, die glauben wollen, dass alle Zeit genutzt werden muss, also auch Bredenbergs letzte.
***
Als Bredenberg vor dem Beginn seines Ruhestandes war, da dachte er, Bredenberg, darüber nach, wie es sein würde an dem Tag, an welchem er sich verabschieden würde von seiner Arbeit, seinem bisherigen Leben, seinem Blick aus dem Fenster, seinen Menschen, die er jetzt noch kennt und die zu vergessen er beginnen würde und die bald beginnen würden, ihn zu vergessen.
Bredenberg wusste, wenn es eine Feier gäbe, mit Reden von Bredenberg und Reden über Bredenberg, dann bliebe in Erinnerung nur, was geredet worden ist, aber nicht, was Bredenberg gewesen ist. Außerdem, so wußte Bredenberg, zu Beginn des Ruhestandes - und bei Beerdigungen - wird am meisten gelogen. Und er, Bredenberg, wenn er zu seinem Abschied, von der Erwartung geleitet, reden sollte, wäre ebenfalls nicht frei davon, die eine oder andere seiner Wahrheit aus Höflichkeit und aus Achtung vor den letzten Worten und den letztem Augenblick zu verschweigen, was einer Lüge, wenn nicht ganz, so doch fast, gleichkäme.
Und so, dachte Bredenberg vor dem Beginn seines Ruhestandes, so wäre es am besten, den Schlüssel zu seinem Zimmer und zu seinem Tisch abzugeben an den, der, wenn Bredenberg gegangen wäre, nun seine Arbeit tun würde. So dachte Bredenberg.
Das gefiel ihm. Es wird nichts mehr gesagt und nichts mehr geredet. Man geht still aus dem Gebäude, wie immer am Ende des Tages. Man kommt nicht wieder. Das, so Bredenberg, das gleicht dem Tode. Alles ist gesagt. Was nicht gesagt ist, kann nicht mehr gesagt werden.
Und Bredenberg, der diesen Gedanken zu lieben begann, ihn deswegen zu lieben begann, weil es etwas Besonderes war und weil dieses Besondere auch aus Bredenberg etwas Besonderes gemacht hätte, einen Menschen, der einen besonderen Abschied nahm, einen Abschied, der vorher so nie genommen wurde. Ein Abschied, der ein Lehrstück sein könnte für den Abschied zuletzt.
Und als Bredenberg sich das ausgedacht hatte und diesen Gedanken noch ein wenig genoss, ließ er allmählich zu, dass dieser Gedanke ganz langsam von einem anderen Gedanken vertrieben wurde, ihn aber nicht gänzlich ersetzte.
Es war der, dass es so nicht sein würde und nicht sein dürfe und nicht sein könne. Es würde sein wie bei den Abschieden, die bislang gefeiert wurden. Bredenbergs Verdienste würden übertrieben gepriesen, seine Mängel verschwiegen oder in ironischer Doppeldeutigkeit so eingepackt, dass der Inhalt noch durch die Form scheint, damit dieser nicht – jedenfalls nicht für Bredenberg – gänzlich verborgen bliebe. So bliebe man höflich, lustig, klug, witzig und habe es Bredenberg doch noch einmal gezeigt.
Und Bredenberg. Ach sicher, Bredenberg würde es genau so machen. Zum Schluss stiege auch in ihm noch einmal die Freude auf, hier und da noch einen gelungenen Seitenhieb zu landen, in ironisch verschachtelten Sätzen, seine Wortspielfähigkeit belegend, nicht zu heftig, aber doch bemerkbar.
Und als Bredenberg sich das ausgedacht hatte, gefiel ihm sein erster Gedanke erneut. Er würde seine Schlüssel abgeben, hinausgehen und nicht wiederkommen. Und er wusste zugleich, das es so nicht sein würde.
***
Das sagte Bredenberg zu sich, als er vor seinem Ruhestand war. Wenn du im Ruhestand bist, sagte Bredenberg, dann willst du kein weiser Alter werden, sondern ein närrischer Alter.
Für den Augenblick war Bredenberg immer im höchsten Maße konsequent. Das was er im Augenblick sagte und dachte, galt ihm für die Ewigkeit. So dachte Bredenberg und wusste zugleich, wirklich beständig ist nur der Wandel.
Und er nahm sich vor, viele Dinge, die er gemacht hatte und noch machen würde, zu sammeln und zu zeigen, als Beleg für sein freies Narrentum sozusagen. Und zu einem Narren gehört es, zu glauben, dass diese Dinge, die er macht und zeigt, außer für ihn auch für andere bedeutsam sein könnten.
Und da er erst begann, ein Narr zu werden, wusste er auch gleichzeitig, dass das Gegenteil richtig sein würde. Das, was Bredenberg alles machen und zeigen würde, das wusste Bredenberg noch nicht oder nur ungefähr. Aber alles käme immer aus seiner Narrheit und Freiheit, das wusste Bredenberg schon jetzt.
Ein närrischer Alter braucht auf nichts zu achten. Nicht auf den guten Ton, nicht auf Stil und Wohlverhalten, er braucht sich nicht zu sorgen um Sympathie und Verständnis. Er braucht nicht mehr zu ringen um die gute, richtige, sachlich und vernünftig abgewogene Entscheidung, die dieses oder jenes bewirken würde. Er braucht sich um die Folgen nicht zu kümmern, jedenfalls nicht um alle Folgen. Er braucht nicht mehr von hinten zu denken, er braucht, wenn er will, gar nicht zu denken, oder aber von vorn, dass Ende nicht wissend und daher überraschend.
Er kann alles geschehen lassen und sich dem Winde anvertrauen. Er kann sich aber auch in den Wind stellen und sich einbilden, dass es ihn, den Wind, nun richtig störe, dass dieser wegen Bredenberg, seinetwegen, nicht mehr ungehindert wehen kann. Das alles nahm Bredenberg sich vor. Er freute sich, als er sich vorstellte, wie alles sein würde.
Er würde nachts um zwei Uhr wach werden und nicht mehr grollen, dass sein abgebrochener Schlaf ihm den Arbeitstag wieder als ungelungen vorhersagt. Er würde wach werden und sich freuen, welche wunderbare Nachtzeit ihm nun geschenkt sei für irgendeine Narrheit.
Er würde irgend etwas machen und sich nicht darum scheren, wie es erscheint, ankommt oder bewertet wird. Er würde ein freier Narr sein. Noch aber darf ich kein Narr sein, jedenfalls nicht ständig, kein freier Narr, dachte Bredenberg. Aber bald.
Und als Bredenberg sich das alles ausgedacht hatte, wurde er heiter.
...auch als Slidebook bei rolfkirsch.de verfügbar
Vorheriger TitelNächster Titel
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rolf Kirsch).
Der Beitrag wurde von Rolf Kirsch auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2007.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).