Jörg Schneider

Wespenmarmelade

 Es war bereits zehn nach acht an jenem Abend im August, als Alison McArthur aus dem Fahrstuhl im zweiten Stock des St. Johns Altersheims trat. Sie wusste, dass sie spät dran war, doch würden Carla und Layla, die sie von ihrer Schicht ablöste, ihr das verzeihen müssen.
Ihr brünettes Haar, das sie sonst zu einem Knoten zusammengesteckt hatte, trug sie heute offen. Sie hatte ein rotes T-Shirt an und eine hautenge Jeans, die ihre Figur zur Geltung brachte.
In der Luft hing der vertraute, für Altersheime typische Geruch. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel, frischem Obst und vollen Urinbeuteln. Alison störte das wenig. Wenn man in diesem Job arbeitete, musste man das hinnehmen.
„Da bist du ja! Layla ist schon weg“, raunte Carla sie an, als sie das Schwesternzimmer betrat. Ihren mexikanischen Akzent hatte sie auch nach knapp zwei Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten nicht abgelegt. Sie taxierte sie argwöhnisch mit ihren Blicken.
„Tut mir leid, dass ich so spät bin“, gab Alison zurück und stellte ihre volle Tasche ab, die am Arm getragen hatte, „aber der Verkehr...“ Sie verdrehte die Augen machte eine Sprich-mich-bloss-nicht-auf-die-letzte-halbe-Stunde-an!-Handbewegung. „Es kommt nicht wieder vor.“
„Das will ich hoffen.“ Alison wusste nicht, warum Carla so herablassend zu ihr war. Aber sie vermutete, dass sie auf diese Weise klarstellte, wessen Revier das hier war und dass sie es war, die hier das Sagen hatte - was ihr zweifelsohne nach siebzehn Jahren auch zustand. Alison war einige Male mit ihr aneinander geraten. Wie auch immer.
Alison verschwand im Umkleideraum.
„Ist irgendwas passiert, von dem ich wissen muss?“ rief sie Carla zu, als sie sich aus ihrem T-Shirt wand, um danach den Schwesternkittel anzulegen.
„Montgomery hat mal wieder ins Bett gemacht. Behalte sie im Auge und gib ihr wenn nötig eine von diesen hier.“ Sie trat vor Alison und hielt ihr ein Röhrchen Schlaftabletten hin. „Die wirken manchmal Wunder. Und wenn du Hilfe brauchst, ruf einfach Chuck. Der hat heute Nacht die Schicht im ersten Stock.“
Alison dankte ihr und ließ das Röhrchen in ihrem Kittel verschwinden. Sie würde allerdings weder die Schlaftabletten noch Chuck brauchen. In ihren Augen war Chuck eine nutzlose dumme Schwuchtel, die ihre Schicht mit Videospielen und schwulen Pornoheftchen absaß, und wenn es Probleme gab, würde eher sie ihm weiterhelfen können als umgekehrt. Alison hielt es dennoch für besser, ihre Meinung für sich zu behalten.
„So, ich muss los. Wir sehen uns morgen früh“, sagte Carla, nahm ihren Schlüsselbund vom Tisch und schob sich ihre Handtasche über die Schulter. „Vergiss nicht, Fips zu füttern.“
Fips, der Kanarienvogel, der im Flur seinen Käfig stehen hatte. Er war schon hier gewesen, als Alison ihren Job im St. Johns angetreten hatte. Wem er gehörte, wusste sie nicht, aber die Alten liebten ihn, und einige von ihnen verbrachten Stunden vor seinem Käfig und sahen zu, wie er von Stange zu Stange sprang und ab und zu ein Liedchen trällerte.
„Bis morgen, Carla“, antwortete Alison.
Dass sie morgen früh nicht mehr da sein würde, konnte Carla nicht wissen.
Dann war sie allein.
Die Alten mochten sie, und Alison mochte die Alten. Bis auf Mrs. Montgomery, die niemanden mochte.
Mrs. Montgomery war eine alte Hexe, die die Schwestern und Pfleger mit den wildesten Beschimpfungen überwarf und um sich schlug, wenn ihr etwas nicht passte. Und das passierte ziemlich häufig. Am schlimmsten aber war die Bettnässerei, die in voller Absicht geschah. Die Frau war unberechenbar. Aber das war nichts, mit dem sie nicht klar kam.
„Dann mal los“, flüsterte sie zu sich selbst und trat sie ihren gewohnten, allabendlichen Rundgang an, der bei Mrs. Kramer in Zimmer 201 begann und bei Mrs. Palladino in Zimmer 210 endete, die es liebte, Gutenachtgeschichten vorgelesen zu bekommen. Alison kannte ihre Schützlinge. In dem knappen halben Jahr, das sie hier arbeitete, hatte sie genügend Zeit gehabt, die Krankenakten zu studieren und wusste alles über sie, was es zu wissen gab.
Da nicht alle Zimmer belegt waren, hatte sie momentan sieben alte Menschen in ihrer Obhut. Sieben arme, alte Menschen, die ihr Leben bereits gelebt hatten und nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Verfallen und gebrechlich. Die Welt hatte ihnen nicht mehr viel bieten, während sie in ihrer kleingewordenen Welt darauf warteten, dass der Tod sie von ihrem Dahinsiechen erlöste. Reisende in der Wartehalle des Lebens. Das Ziel war bekannt, aber der Zeitpunkt der Abfahrt lag im Dunkeln...

Alison öffnete die Tür zum Zimmer von Mrs. Kramer und trat hinein.
Mrs. Kramer lag in ihrem Bett. Sie hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Ihre Augen waren geöffnet, was Alison verriet, dass sie wach war. Sprechen konnte Mrs. Kramer nicht mehr. Das war seit dem Schlaganfall im April nicht mehr möglich. Aber ab und zu lächelte sie, wenn sie gut drauf war, und gab eine Art Murren von sich, wenn sie irgendetwas störte - was zugegebenermaßen weitaus häufiger vorkam.
Doch in diesem Moment lag sie einfach nur da, den Kopf etwas erhöht durch die beiden Kissen, auf denen er gebettet war, und starrte auf die kitschige Landschaft auf dem Ölbild an der Wand, das stark an ein Werk von Bob Ross erinnerte.
„Guten Abend, Mrs. Kramer“, sagte sie zu der alten Dame, die daraufhin den Kopf etwas in ihre Richtung neigte.
Während Alison den schwachen, zusammengefallenen Körper betrachtete, überkam sie eine vertraute Welle des Mitleids. Niemand hatte es verdient, so zu enden. Alte Menschen, die keiner mehr haben wollte, einst geliebte Familienmitglieder, die man abgeschoben hatte, als die Belastung zu groß wurde. Verständnis hatte sie dafür nie gehabt. Erst ziehen sie ihre Kinder auf und widmen ihnen ihr gesamtes Leben, und dann, wenn sie alt und nutzlos geworden sind, steckt man sie in ein Heim, weil man sich nicht die Finger schmutzig machen will. Und ein paar Blümchen und eine Stunde Kaffeetrinken jedes zweite Wochenende konnten das auch nicht wieder gut machen. Sicherlich stand es ihr nicht zu, darüber zu urteilen. Aber es brach ihr das Herz und schmerzte in ihrer Seele.
Sie stellte das Radio an, das auf der kleinen Anrichte stand, und drehte an dem kleinen Rädchen, bis sie den richtigen Sender gefunden hatte. Mrs. Kramer liebte klassische Konzerte, und Alison wusste, dass ein Violinkonzert auf dem Programm stand.
„Ist es so okay?“ fragte sie die alte Dame.
Der Anflug eines Lächelns erschien auf Mrs. Kramers Gesicht. Es schien in Ordnung zu sein.
„Fein“, antwortete Alison. „Ich komme später noch mal vorbei, um Gute Nacht zu sagen.“

„Wie geht es Ihnen heute?“ fragte Alison Mrs. Jefferson, als sie deren Zimmer betrat.
„Ich will mich nicht beklagen“, entgegnete die weißhaarige Frau, die in ihrem Sessel am Fenster saß und die Schwalben beobachtete, die in der Abendsonne ihre Kreise durch die Luft zogen. „Aber heute sind die Schmerzen wieder schlimm.“
Alison bewunderte die Tapferkeit der alten Frau. Der Krebs hatte schon tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie wirkte schwach und ausgemergelt. Auf erschreckende Weise ähnelte ihr Aussehen dem ihrer Mutter, kurz bevor sie damals gestorben war. Doch auch nach all den Jahren schmerzte die Erinnerung noch sehr. Manche Wunden konnte selbst die Zeit nicht heilen.
Auch ihre Mom hatte sehr gelitten, und obwohl Alison damals nach außen hin sehr stark gezeigt hatte, um sie nicht zusätzlich zu belasten, hatte sie, sobald sie allein auf ihrem Zimmer war, oft stundenlang geweint, weil sie ihr nicht helfen konnte. Sie hatte Mom nicht mehr als nötig belasten wollen.
Doch hätte sie sie von ihrem Elend befreien können, wenn sie damals die Kraft dazu gehabt hätte. Damals. Doch damals war sie schwach gewesen. Nicht wie heute.
„Die Schmerzen werden wir lindern“, sagte Alison, als sie ihre gedankliche Reise in die Vergangenheit beendet hatte. „Dr. Davies hat die Dosis erhöht. Dann können Sie auch besser schlafen.“
Mrs. Jefferson richtete sich mit ihren knochigen Händen aus ihrem Stuhl auf. Alison konnte sehen, wie sehr es sie anstrengte und wie schmerzverzerrt ihr Gesicht dabei war, trotz des Morphiumpflasters, das auf ihren Rücken geklebt war und das stetig eine kleine Dosis der schmerzstillenden Droge freigab.
„Dr. Davies ist ein guter Arzt.“
„Ja, das ist er“, meinte Alison bestätigend. Er lebte für seinen Beruf, und Alison hatte großen Respekt vor ihm. Und er war menschlich in Ordnung und kümmerte sich mit rührender Geduld um seine Patienten, was er mit ihr gemeinsam hatte.
Sie half Mrs. Jefferson aus dem Bademantel und zog das Nachthemd, das sie darunter trug nach oben, um den Rücken frei zu bekommen. Sie konnte jeden Wirbelknochen und jede Rippe durch das abgemagerte Fleisch durchschimmern sehen.
Alison zog das verbrauchte Pflaster von der pergamentartigen Haut ab und warf es in den Papierkorb neben ihrem Bett.
Die Dosis macht das Gift, kam es ihr in den Sinn. Dann nahm sie gleich mehrere Pflaster aus der Verpackung, löste sie von der Schutzfolie und klebte sie eins nach dem anderen sorgfältig nebeneinander auf Mrs. Jeffersons Rücken. Die Menge würde ausreichen, um ein ausgewachsenes Pferd zu betäuben. Für einen Menschen würde sie absolut tödlich sein - aber das konnte Mrs. Jefferson nicht wissen.
„So, dann gehen wir mal ins Bett“, sagte Alison, als sie das Nachthemd wieder nach unten gleiten ließ.
„Danke, Miss Alison.“
Mrs. Jefferson stützte sich an Alisons Arm ab, als sie die kurze Strecke zwischen Stuhl und Bett zurücklegten.
„Danke. Den Rest schaffe ich allein.“
„Na schön. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Schlafen Sie gut.“
„Gott schütze Sie“, gab Mrs. Jefferson zurück.
Alison verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Mrs. Jefferson würde keine Schmerzen mehr haben.

Sie klopfte an Mrs. Arnolds Zimmertür, bevor sie eintrat.
„Hallo, Mrs. Arnold. Schauen Sie mal, was ich Ihnen mitgebracht habe.“
Die dickliche, alte Frau sah von ihrem Rätselheft auf, in das sie vertieft, und nahm ihre Lesebrille ab.
Alison stellte den mit Alufolie bedeckten Teller auf den kleinen Tisch, an dem Miss Arnold saß.
„Ist das Kuchen?“ fragte Mrs. Arnold. Alison musste lächeln. Sie schien ihre Neugierde geweckt zu haben, und mit einem Male war wieder Leben das ansonsten meist gelangweilte Gesicht zurückgekehrt.
„Warten Sie, ich mache den Tisch sauber.“
Mit ein paar Handbewegungen hatte sie die wenigen Sachen, die sich darauf befanden, weggeräumt.
Alisons Blicke wanderten zu dem Bilderrahmen, der auf dem Nachttisch stand und das Schwarzweißfoto eines jungen Hochzeitspaares zeigte. Sowohl Braut als auch Bräutigam waren jung und attraktiv und gertenschlank.
„So habe ich mal ausgesehen vor vielen, vielen Jahren“, hatte Mrs. Arnold einmal erwähnt, als Alison das Bild bei einem ihrer unzähligen Abendrundgänge längere Zeit betrachtet hatte. „Fast fünfzig Jahre ist das jetzt her. Damals war ich noch hundert Pfund leichter.“
Alison konnte sich schlecht vorstellen, dass die Frau auf dem Hochzeitsbild einst dieselbe Person war, die jetzt hier vor ihr saß. Mrs. Arnolds Diabetes kam nicht von ungefähr. Sie schien schon lange keine Kostverächterin zu sein. Ihr Kampfgewicht von zweihundertdreißig Pfund hatte sie sich mühsam in etlichen Jahren antrainiert und nie eine Gelegenheit verpasst, wenn es irgendwas zu essen gab.
„Käse-Sahne“, kommentierte Alison, als sie die Alufolie vom Teller entfernte und das große Stück Kuchen zum Vorschein kam. Der feine Geruch stieg ihr in die Nase, so dass sie ihn gerne selbst gegessen hätte.
Die Augen der alten Frau begannen zu leuchten. Doch dann fragte sie: „Ist das denn nicht ein bisschen zu spät?“
„Wenn wir ein bisschen mehr Insulin nehmen, ist es okay, denke ich“, zwinkerte Alison ihr zu. Sie verstand sich sehr gut mit Mrs. Arnold, aber sie befürchtete auch, dass gerade sie ihre Pläne durchkreuzen konnte. Die alte Frau war geistig noch gut beisammen und zeigte keine Spur von Senilität. Und sie war von Natur aus etwas misstrauisch. Das konnte zum Problem werden, wenn Alison den geringsten Fehler machte.
„Sie sind ein Engel.“
Alison zuckte innerlich zusammen.
Den TODESENGEL. So hatten sie sie mehrfach genannt. Sie hatte mittlerweile eine Sammlung diverser Zeitungsartikel aus verschiedenen Städten in mehreren Staaten, in denen sie so betitelt worden war. Todesengel war dabei der harmloseste Ausdruck gewesen. KRANKENSCHWESTER DES GRAUENS, DAS MONSTER IM WEISSEN KITTEL und KILLER-BESTIE waren da durchaus schärfer ... beleidigend und ungerechtfertigt.
Was diese dummen Schreiberlinge nicht verstanden hatten, dass sie die armen alten Menschen von ihrem Leid erlöst hatte, dass sie sie befreit hatte vom ihrem sinnlosen und menschenunwürdigen Vor-Sich-Hin-Vegetieren. Gestandene Männer und intelligente, starke Frauen, die zusehends verfielen und Stück für Stück an Würde verloren. Nein, das hatte niemand verdient.
Sie hatte viele Namen gehabt. In Pasadena war sie als Naomi Carlington bekannt gewesen. Damals hatte sie blondiertes Haar und wog ein paar Pfund weniger. In Dallas kannte man sie als Lisa Wells mit Brille und Kurzhaarschnitt. Mary French, Nelly Robertson, Joanna Thomson ... alles Namen aus längst vergangenen Zeiten.
Als sie schließlich aus ihrer Erinnerung zurückkehrte, merkte sie, dass sie darüber ganz vergessen hatte, das Insulin zu verabreichen.
„Sie sind immer so nett zu mir“, sagte Mrs. Arnold, als sie ihren letzten Bissen verzehrte.
„Gerngeschehen“, gab Alison zurück. „Aber jetzt müssen wir schauen, dass wir Ihren Zucker auch wieder runter kriegen.“
Sie lud den Pen mit einer frischen Insulinpatrone und steckte eine Nadel auf das Ende. Dann drehte sie an dem kleinen Rädchen, um die Einheiten einzustellen, die sie verspritzen wollte.
Sie drehte das Rädchen weiter und weiter, Einheit für Einheit, weit über die benötigte Menge hinaus.
Die feine Nadel durchstieß die runzelige Haut von Mrs. Arnolds Oberschenkel. Alison drückte feste auf den Knopf des Pens. Langsam entleerte sich die Patrone in die Hautfalte, die sie mit ihren Fingern zusammendrückte. Sie hielt so lange ihren Daumen auf den Knopf, bis auch der letzte Tropfen Insulin die Spritze verlassen hatte. Schließlich zog sie die Nadel heraus und wischte die Stelle mit einem sauberen Zellstofftupfer ab.
„Das war´s.“
„War das nicht ein bisschen viel?“ fragte Mrs. Arnold sichtlich beunruhigt. Unsicherheit lag in ihrem runden Gesicht.
„Das war ein großes Stück Kuchen. Vertrauen Sie mir.“ Alison legte ihr berühmtes Lächeln auf, das Lächeln, mit dem sie bisher alle Zweifel zerstreuen konnte.
Ein paar Sekunden lang herrschte eine quälende Stille im Raum. Momente, die für Alison endlos zu dauern schienen. Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren, musste sich ganz normal verhalten, um nicht noch mehr Anlass zu der Annahme zu geben, dass etwas nicht stimmte.
„Sie haben ja recht“, antwortete Mrs. Arnold schließlich. Das Misstrauen in ihrem Gesichtsausdruck schien verflogen zu sein. „Sie sind die Schwester. Ich bin nur eine alte Frau.“
Das war ja gerade noch mal gutgegangen.
Als sie wieder auf den Flur hinaustrat, spürte sie, wie sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn gebildet hatten. Aber sie hatte die Prüfung bestanden.

Mr. Daniels Zimmer war leer.
„Keiner Zuhause?“ fragte Alison in den Raum. Sie klopfte an die Tür zu dem kleinen Badezimmer, und als keine Antwort kam, drehte sie am Türknopf und riskierte einen vorsichtigen Blick hinein.
Mr. Daniels schien ausgeflogen zu sein, was eigentlich nicht ungewöhnlich war. Obwohl er nicht mehr laufen konnte und an seinen Rollstuhl gefesselt war, war er derjenige, der die größten Wege zurücklegte - wenn auch meist nur auf dieser Etage.
Alison verließ den Raum. Sie hoffte, dass sie ihn im Aufenthaltsraum vorfand. Ansonsten hatte sie ein riesiges Problem.
Sie hastete über den Flur zu dessen Ende und betrat das größte Zimmer der gesamten Etage, an dessen Tür eine handgeschriebene Tafel angebracht war, die den Namen „Clubraum“ trug. Diese Bezeichnung war ein wenig zu vornehm für das, was es in Wirklichkeit war, fand Alison. Ein paar Stühle an einem langen Tisch, an dem nachmittags Kaffee und Kuchen serviert wurden, ein paar Brettspiele und Bücher in einem Regal und eine kleine Kokospalme in einem Blumenkübel, das war der „Clubraum“.
Sie war erleichtert, als sie die Tür öffnete und Mr. Daniels dort vorfand. Er hatte ein 52er Kartenblatt vor sich auf dem Tisch zu einer Runde Solitär ausgebreitet.
„Hallo Mr. Daniels, ich habe Sie schon gesucht.“
„Und gefunden“, antwortete er und verzog den Mund zu einem amüsierten Grinsen. Anscheinend konnte er die Besorgnis in ihrem Gesicht ablesen. „Abhauen kann ich mit diesem Ding hier sicherlich nicht.“ Seine Hände deuteten auf den Rollstuhl, in dem er saß.
„Allerdings“, lächelte Alison zurück. Sie mochte Mr. Daniels. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen, das sie sehr anziehend fand.
„Ich habe was für Sie reingeschmuggelt. Aber Sie dürfen es niemandem verraten.“
Sein Gesicht erhellte sich wie das eines Kindes an Weihnachten.
„Zigaretten!“
„Psst!“ Sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen.
„Versprochen, hoch und heilig“, gab Mr. Daniels zurück und legte sich die rechte Hand auf die Brust wie bei einem Indianerehrenwort.
Sie griff in ihre Kitteltasche und zog eine angebrochene Schachtel Lucky Strike heraus, seine Marke. „Aber heute abend nur eine. Ich habe auch Streichhölzer.“
„Sie sind so gut zu mir“, freute sich Mr. Daniels.
Alison wurde etwas verlegen.
Es konnte manchmal sehr anstrengend sein, gut sein zu wollen. In mühsamer Kleinarbeit hatte sie die Zigaretten präpariert, den Tabak aus den Papierhüllen gebröselt, ihn mit Zyankalipulver vermengt und die tödliche Mischung wieder zurück in die leeren Hüllen gestopft. Die präparierten Zigaretten sah ein wenig mitgenommen aus, aber Mr. Daniels würde sich nicht weiter daran stören.
„Aber sie müssen das Fenster aufmachen, damit sich der Rauch nicht im ganzen Stockwerk verteilt.“
„Habe ich Sie schon jemals enttäuscht?“
Alison erinnerte sich an den Vorfall vor drei Monaten, als Carla Mr. Daniels beim Rauchen auf seinem Zimmer erwischt hatte. Es hatte ein Riesendonnerwetter gegeben, und die Heimleitung hatte Mr. Daniels darauf hingewiesen, dass sie ihn des Heims verweisen würde, falls das noch einmal vorkam.
Aber mit dieser Aktion hatte Alison nichts zu tun gehabt. Wenn Alison ihm Zigaretten vorbeigebracht hatte, hatte sie immer aufgepasst, dass niemand davon Wind bekam, und auch Mr. Daniels hatte aus der Geschichte gelernt. Mittlerweile hatten sie ihr eigenes System entwickelt. Mr. Daniels rauchte nur noch während Alisons Nachtdienst, und das bei offenem Fenster und mit ordentlich Raumspray bewaffnet, und Alison dichtete währenddessen die Tür mit einem Handtuch ab und ließ die ausgerauchten Zigarettenstummel danach in der Toilette verschwinden.
„Genießen Sie´s.“
„Das werde ich“, grinste Mr. Daniels zurück, als er sich die letzte Zigarette, die er in seinem Leben rauchen würde, zwischen die Lippen schob.
Sie schloss die Tür und legte das gewohnte Handtuch unter die Schwelle, damit kein verräterischer Rauch in den Flur zog.

Das nächste Zimmer war das Gemach von Mrs. Montgomery.
Alison hatte in all den Monaten kaum ein nettes Wort mit Mrs. Montgomery gewechselt. Jeder Versuch, nett zu ihr zu sein oder an sie ranzukommen, war gescheitert. Die wüstesten Beschimpfungen hatte sie über sich ergehen lassen müssen, wenn sie etwas tat, das nicht ganz nach Mrs. Montgomerys Zufriedenheit war. Das eine Mal war es der Kaffee, der zu heiß war, ein andermal waren ihr die Schuhe zu eng. Und wenn ihr etwas gegen den Strich ging, zeigte sie es einem nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten, allem voran mit ihren Bettnässeraktionen. Einmal war Carla fast soweit gegangen, sie gegen ihren Willen zu katheterisieren, aber nachdem ihr in den Sinn gekommen war, dass Mrs. Montogomery zu allem fähig war und eventuell auf die Idee kommen würde, die vollen Urinbeutel als Wurfgeschosse zu benutzen, hatte sie den Gedanken wieder zu verwerfen.
Mrs. Montgomery konnte zuckersüß sein, wenn sie etwas von Alison wollte, aber sobald sie ihr Ziel erreicht hatte, kam ihr wahres Ich wieder zum Vorschein.
„Guten Abend, Mrs. Montgomery“, sagte Alison mit ihrer liebsten Stimme, als sie das Zimmer betrat.
Die alte Frau sah sie argwöhnisch an.
Das Bett, das sie laut Carla am Nachmittag eingenässt hatte, war frisch überzogen worden, doch immer noch lag im Raum der beißende Gestank von Urin.
„Ich weiß nicht, was an diesem Abend gut sein soll“, entgegnete Mrs. Montgomery schroff. Anscheinend wollte sie keine Unterhaltung. Die Zähne hatte sie bereits rausgenommen, weshalb ihre Sprache etwas verwaschen wirkte. Ihr Gebiss schwamm in einem Glas Wasser neben ihrem Bett.
Sie schaute Alison herausfordernd an, als würde sie nur auf etwas warten, an dem sie sich aufhängen konnte, um dann einen Sturm auszulösen. Doch dazu würde es heute Abend nicht kommen.
Alisons Blicke blieben an Mrs. Montgomerys Mund hängen, dem zahnlosen, faltigen Loch inmitten ihres Gesichts.
„Oh Gott, was haben Sie denn da im Gesicht?“ fragte sie mit gespielter Erschrockenheit. Sie trat einen Schritt näher, um etwas an Mrs. Montgomerys Lippe zu betrachten, das nicht da war. „Dort an Ihrem Mund.“
Sichtlich irritiert öffnete Mrs. Montgomery ihren zahnlosen Mund, damit Alison hineinschauen konnte. „Was soll denn da sein?“
„Ich kann es nicht genau sehen, aber das sieht gar nicht gut aus.“
„Wahrscheinlich Druckstellen von meinem Gebiss“, keifte Mrs. Montgomery. Doch ihre Stimme klang etwas unsicher. Alison hatte es geschafft, sie aus dem Konzept zu bringen.
„Nein, das sieht anders aus. Das muss ich mir jedenfalls genauer ansehen“, meinte Alison, nicht ohne ihren Tonfall mit etwas Sorge zu würzen.
„Das müssen nicht Sie sich ansehen, sondern der Doktor!“
„Der Doktor ist aber momentan nicht hier!“ Alison wurde langsam ungeduldig. Sie musste an die Zunge herankommen.
Auf Mrs. Montgomerys Esstablett, das noch vom Abendessen herumstand, fand sie einen kleinen Puddinglöffel, der seine Zwecke erfüllen würde.
„So, jetzt bitte noch mal den Mund öffnen. Damit wird es funktionieren.“
Mrs. Montgomery öffnete erneut ihren Mund, ohne sich weiter zu beschweren, so dass Alison sich wunderte, wie einfach das ging.
„die Zunge bitte ein Stück nach hinten...“
Mrs. Montgomery stellte ihre Zunge nach hinten auf. Das war der Augenblick, auf den Alison gewartet hatte. Sie schob den Löffel in den Mund und stieß damit die Zunge soweit nach hinten, wie sie konnte. Mit ihrer freien Hand griff sie Mrs. Montgomerys Nase und hielt sie zu.
„Und jetzt runterschlucken, alte Hexe.“
Mrs. Montgomerys Augen wurden groß. Sie bekam keine Luft mehr und versuchte, mit ihren schwachen Armen Alisons Griffe zu lösen. Ohne Erfolg. Die Zunge war halb im Rachen verschwunden, als Mrs. Montgomery sie verschluckte.
Alison wusste, dass es grausam war, Mrs. Montgomery auf diese Weise auf ihre letzte Reise zu schicken, aber sie hatte nie einen Funken Menschlichkeit an der alten Frau entdecken können, warum also sollte sie ihr ihre letzten Minuten also verschönern?
Alison wollte nicht mit ansehen, wie die alte Frau verendete. Daher ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen, und machte die Tür hinter sich zu.

Mr. Buckley war ein Fall für sich.
Mr. Buckley, der seit Jahren schon einfach nur dalag, ohne jemals eine Regung zu zeigen. Mr. Buckley, der immer gleichmäßig durch seinen weit geöffneten Mund atmete. Mr. Buckley, der künstlich ernährt wurde, weil er nicht mehr schlucken konnte. Jede Stunde musste eine Schwester nach ihm sehen und seinen austrockenen Gaumen und die Zunge mit einem Schwamm befeuchten.
Ab und zu blinzelte er, und sein Schluckreflex funktionierte noch, aber er schien nichts von seiner Umwelt wahrzunehmen. Das hatte Dr. Davies Alison gegenüber zumindest einmal bestätigt, als sie ihn danach gefragt hatte.
Alison hielt eine Hand vor Mr. Buckleys Mund, um zu überprüfen, ob er noch atmete.
Obwohl sie seit ein paar Monaten jeden Tag ein paar Mal in seinem Zimmer gewesen war, wusste kaum etwas über ihn, außer, dass er üblen Mundgeruch hatte und hochallergisch gegen Wespengift war. Carla hatte irgendwann einmal erwähnt, dass er früher Professor für Mathematik an der Universität in Atlanta gewesen war, aber ob das stimmte, wusste Alison nicht. Carla erzählte vieles, was sie irgendwo aufgeschnappt hatte, und ebenso vieles stellte sich als falsch heraus.
Mr. Buckley war auch der einzige ihrer Schützlinge, der niemals Besuch bekam. Weder von Verwandten noch von sonst irgendjemand. Entweder hatte er niemanden, oder alle seine Verwandten und Bekannten waren längst verstorben. Das traurige Ende eines ehemals wahrscheinlich sehr renommierten Mannes.
Nachdem sie sicher war, dass er noch lebte, trat sie näher an sein Bett heran und flüsterte ihm ins Ohr.
„Hallo Mr. Buckley. Hier ist Schwester Alison. Es ist Zeit für Ihre Medizin.“ Sie wusste, dass er sie nicht hören konnte, wahrscheinlich noch nicht mal von ihrer Anwesenheit etwas mitbekam, dennoch sprach sie mit ihm. „Sie müssen nicht mehr länger leiden.“
Hinter ihrem Rücken holte sie ein leeres Marmeladenglas hervor, in dessen Deckel sie ein paar kleine Löcher gestanzt hatte, damit die drei Wespen, die sie darin gefangen hatte, genug Luft zum Atmen hatten. Wespenmarmelade, dachte sie unwillkürlich, als sie das Glas betrachtete.
„Es wird schnell gehen“, sagte sie zu dem reglos auf seinem Bett liegenden Mann.
Sie schüttelte das Marmeladenglas in ihrer Hand, um die Wespen zu erregen, so dass es beinahe so aussah, als würde sie einen Drink mixen. Direkt vor seinem Mund schraubte sie den Deckel ab und hielt das Glas an die offenen Lippen, damit keine der Wespen zur Seite entweichen konnte.
Die Wespen drehten noch ein paar verwirrte Runden im Glas und verschwanden dann nach und nach in Mr. Buckleys Mund. Alison wartete einen günstigen Augenblick ab. Dann schob sie seinen Unterkiefer nach oben und nahm das Glas wieder weg. Abgesehen von einem Blinzeln regte sich der alte Mann nicht. Er sah so aus wie immer. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass er mitbekommen hatte, was gerade geschehen war – und was in den nächsten Minuten passieren würde.
„Gute Nacht, Mr. Buckley“, sagte Alison. „Möge es Ihnen dort, wo sie jetzt hingehen, besser ergehen als hier.“

Im Zimmer von Mrs. Palladino befand sich ein kleines Regal voller Bücher mit kleinen, hübschen Geschichten, obwohl ihre Augen zu schlecht waren, um selbst noch lesen zu können. Aber für ihr Alter hatte sie noch ein gutes Gehör, und Alison hatte unzählige Stunden an Mrs. Palladinos Bett verbracht und ihr fast ebenso viele Geschichten vorgelesen. Am liebsten mochte sie das Märchen von dem Wolf und den drei kleinen Schweinen. Im Alter wurden viele wieder wie Kinder. Alte Menschen konnten sich an so einfachen Dingen erfreuen, und ein dankbares Lächeln zu erhalten empfand Alison als den größten Lohn, den sie sich vorstellen konnte.
Sie nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte es auf.
„Was möchten Sie heute hören?“ fragte Alison.
„Wenn Sie mich so fragen, dann meine drei kleinen Schweinchen“ grinste Mrs. Palladino vorfreudig.
„Das hätte ich mir beinahe denken können“, antwortete Alison, die bereits den Daumen in die richtige Seite gelegt hatte, und begann zu lesen, während Mrs. Palladino gebannt an ihren Lippen hing.
Sie war gerade an der Stelle angekommen, als der Wolf das Haus des zweiten kleinen Schweinchens umpustete, als es plötzlich an der Tür klopfte.
Alison schrak zusammen. Das Herz rutschte ihr in die Hose.
„Ja, bitte?“ fragte sie so gelassen, wie sie konnte.
Chuck vom ersten Stock erschien in der Tür.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ihr ganzer Plan konnte sich in Luft auflösen, wenn Chuck Verdacht schöpfte, dass etwas nicht stimmte. Sie musste ihn loswerden - möglichst ohne Gewalt anwenden zu müssen.
„Ich habe dich hier drinnen reden hören“, sagte Chuck.
Sie hoffte, dass Chuck nicht in eines der anderen Zimmer geschaut hatte.
„Oh, ich hoffe, du hast nicht schon die ganze Etage nach mir absuchen müssen“, sagte sie freundlich.
„Nein. So schlimm war es nicht“, lachte Chuck zurück. „Deine süße Stimme hat mir den Weg gewiesen.“
Wie romantisch. Hätte sie nicht gewusst, dass Chuck schwul war, hätte sie es als versuchte Anmache verstanden. Erleichterung machte sich in Alison breit. „Was kann ich für dich tun, Chuck? Ich bin hier gerade ein bisschen beschäftigt...“
„Ach, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht“, meldete sich Mrs. Palladino zu Wort. „Ich habe es nicht so eilig.“
„Mir sind die Aspirin ausgegangen. Kannst du mir da aushelfen?“
Alison nahm Chuck am Arm und zog ihn auf den Flur. Sie nahm ihn mit ins Schwesternzimmer und holte ihm die Dose Aspirin aus dem Medikamentenschrank.
„Behalt den Rest“, sagte sie bestimmend. Sie wollte nicht, dass er noch einmal vorbeikam und dann doch noch alles kaputt machte, was sie wochenlang bis ins Detail geplant hatte.
„Danke“, antwortete Chuck.
„Sonst noch was?“
Er schien zu überlegen. Dann meinte er. „Nein, das war´s.“
Sie wartete, bis er verschwunden war, bevor sie wieder ins Zimmer von Mrs. Palladino ging, um ihr das allabendliche Schlafmittel zu verabreichen und die Gutenachtgeschichte zu Ende zu lesen.
Sie öffnete das Röhrchen Schlaftabletten, das Carla ihr gegeben hatte, und das ursprünglich für Mrs. Montgomery gedacht war. Es war noch fast voll. Alison schüttete die kleinen hellblauen Pillen in ihre Hand und verrührte sie dann in einem Glas Orangensaft, bis sie sich aufgelöst hatten.
Dann legte sie den Löffel beiseite und gab Mrs. Palladino den tödlichen Cocktail in die Hand.
„Ihr Schlafmittel“, kommentierte sie.
Es schien bitter zu schmecken, denn die alte Frau verzog das Gesicht bei jedem kleinen Schluck.
„Das ist ein ekelhaftes Zeug, das muss ich ehrlich sagen“, beschwerte sie sich. „Da hilft auch kein Orangensaft.“
„Das glaube ich gern“, antwortete Alison ruhig. „Aber wir wollen ja auch gut schlafen heute Nacht.“
Mrs. Palladino gab ein kurzes Murren von sich, widersprach aber nicht und trank das Glas bis auf den letzten Rest aus.
Sie war bereits eingeschlafen, bevor Alison die Geschichte beendet hatte. Alison klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal zu den anderen.
„Gute Nacht, Mrs. Palladino“, sagte sie, als sie die Tür hinter sich zuzog.
Jetzt hatte sie nur noch eine Station vor sich.

Das Konzert im Radio hatte gerade zum Finale angesetzt, als Alison zum zweiten Mal an diesem Abend Mrs. Kramers Zimmer betrat.
Sie hatte ihre Augen geschlossen und schnarchte tief und fest. Wahrscheinlich träumte sie von der Landschaft auf dem Bob-Ross-Gemälde, das sie den ganzen Abend über betrachtet hatte und davon, wie sie durch die Waldlichtung tanzte und sich in das weiche Gras fallen ließ, das von den bunten Sonnenstrahlen in ein beinahe lilafarbenes Licht getaucht wurde, während im Hintergrund die New Yorker Philharmoniker die Szene mit weichen Streichertönen untermalten.
Alison nahm eines der beiden Kissen unter Mrs. Kramers Kopf hervor und drückte es ihr auf´s Gesicht.
Der Todeskampf dauerte nur etwa zwei Minuten, doch Alison kamen sie vor wie Stunden. Mrs. Kramer begann, mit ihren Armen und Beinen ziellos durch die Gegend zu rudern, als sie aufgewacht war, wie ein großer Käfer, der auf dem Rücken lag. Ein paar Mal kratzte sie Alison mit ihren Fingernägeln am Arm, und Alison war erstaunt, wie viel Kraft der alte verbrauchte alte Körper noch aufbringen konnte. Aber dann war alles ruhig.
Die Frau unter dem Kissen regte sich nicht mehr.
„Gute Nacht, Mrs. Kramer“ sagte sie sanft. „Jetzt können sie weitertanzen.“
Alison schaltete das Radio aus, als sie das Zimmer verließ.

Im Gang herrschte Totenstille.
Ihre Arbeit im St. Johns war vollbracht.
Die Frau, die sich die letzten Monate über Alison McArthur genannt hatte, zog ihren Schwesternkittel aus und stieg wieder in ihr rotes Shirt und die Jeans, in denen sie gekommen war. Sie wollte schnell verschwinden und keine weitere Minute hier vergeuden.
Im Nu hatte sie ihren Spind leergeräumt. Sie nahm die Tasche mit ihren Sachen vom Stuhl und hängte sie sich um die Schulter.
Hatte sie auch nichts vergessen? Sie ging alles noch einmal im Kopf durch und fand, dass sie zufrieden mit sich sein konnte. Mutter wäre stolz auf sie gewesen.
Als sie in den Gang hinaustrat, blieb sie vor dem Vogelkäfig stehen, in dem Fips müde auf seiner Stange saß.
Sie öffnete die kleine Gittertür und griff hinein. Der kleine Körper war warm, und die junge Frau konnte seinen aufgeregten Herzschlag spüren, als sie ihn in ihren Händen hielt.
Sie trat zum Fenster und öffnete es.
„Du bist frei“, sagte sie, als sie die Hand durch das Fenster hinausstreckte und ihr Griff sich löste.
Mit einer Armbewegung gab sie Fips ein wenig Schwung, dann breitete der kleine Vogel seine gelben Flügelchen aus und verschwand in der Nacht.
Die Frau schloß das Fenster wieder. Dann lief sie ins Treppenhaus und drückte den Fahrstuhlknopf.
Ein letztes Mal drehte sie sich um. Dann löschte sie liebevoll das Licht im Gang, wie eine Mutter, die das Licht im Zimmer ihrer Kinder ausmachte, nachdem sie sie ins Bett gebracht hatte.
Die Uhr an ihrem Arm zeigte 22:32 an. Das hieß, sie hatte fast zweieinhalb Stunden gebraucht. Das war eine gute Zeit.
In einer halben Stunde würde sie auf dem Highway sein.
Sie würde erst mal quer durch´s Land fahren, und sobald Gras über die Sache gewachsen war, würde sie sich wieder auf eine Stelle bewerben. Vielleicht in Kalifornien oder Florida ... oder einen Abstecher in den Norden machen. Chicago vielleicht.
Überall gab es viel zu tun.
Der Fahrstuhl war zum Stillstand gekommen, und die Türen glitten auf und warfen einen grellen Lichtkegel in den dunklen Flur, einen Fächer aus Licht, der nur vom Schatten der jungen Frau unterbrochen wurde.
Sie kramte nach ihrem Autoschlüssel in der Tasche, während sie den Fahrstuhl betrat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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