Mark R.

Aus heiterem Himmel Teil 1


In seiner Wohnküche tickte die große braune Uhr mit den schweren messingfarbenen Gewichten in der Ecke neben dem Fenster unaufhörlich vor sich hin. Stündlich gab das riesige braune, aus hochwertigem Mahagoniholz mit einem Schwarzwälder Uhrwerk gefertigte Ungetüm, einen ohrenbetäubenden Gongschlag von sich. Die dünne und preiswerte Auslegeware schaffte es kaum, den Stundenschlag auf Zimmerlautstärke zu dämmen. In fünf Minuten war es wieder so weit, der Tag hatte begonnen und die Uhr würde Sieben schlagen.
Wie jeden Morgen wurde Tobias schon ein paar Minuten vorher wach. Er hatte eine innere Uhr, auf die konnte er sich stets verlassen. Die wenigen Minuten bis zum Gongschlag döste er noch vor sich hin, diese kurze Zeit gönnte er sich jeden Tag. Es waren für ihn Minuten des Stillstands, Minuten in denen er kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte und er einfach an nichts, an rein gar nichts denken musste.

Tobias träumte von einer Segelyacht, leicht bekleidete Mädchen lagen ihm zu Füßen und neben ihm stand ein riesiger Eimer mit gekühlten Getränken. Gerade als er sich bedienen wollte, seine rechte Hand holte sehr weit aus, stieß er dabei die noch vom Vorabend übrig gebliebene halbe Flasche Rotwein um. Erschrocken fuhr Tobias hoch, sah den letzten Rest des Weines über seinen Nachttisch laufen und schaute zur Uhr. Es war mittlerweile kurz nach Acht, er hatte verschlafen. Tobias riss seine Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und eilte in die Küche. Dort in der Ecke neben dem Fenster, kaum zu übersehen und so etwas wie der optische Anziehungspunkt der Küche, stand sie. Ein Erbstück seiner Mutter, aus edlem Holz gefertigt und groß und schwer wie nur sonst was. Die goldenen Zeiger standen still. Der kleine hatte bei der Drei, der große zwischen der Sechs und Sieben schlapp gemacht. Fassungslos stand Tobias nur mit einer Unterhose bekleidet in der Küche und starrte auf die Uhr. Um ihn herum war es still, kein Ticken, kein Gongschlag und auch seitens der Nachbarn vernahm er kein einziges Geräusch. Wenn er sich sonst jeden Morgen gegen sieben Uhr seinen Kaffee frisch zubereitete, hörte er beim Erhitzen des Wassers, kurz bevor es den Siedepunkt erreichte, die Klospülung der Nachbarin. Es war für ihn schon fast zum Ritual geworden, erst dann war das Wasser zum Aufgießen bereit.
Tobias stand still, regungslos und ein bisschen verwirrt in seiner Küche herum. Sein rechter Arm lehnte auf einem der vier Küchenstühle, mit dem linken kratzte er sich am Hinterkopf. Er hätte jetzt schon seit mindestens zehn Minuten auf seiner Arbeitsstelle, einem städtischen Schwimmbad, das sich in unmittelbarer Nähe seiner kleinen Zweizimmerwohnung befand, sein müssen. Wie konnte das nur passieren?, ging es ihm durch den Kopf und seine Gedanken kreisten um seine Gruppe, für die er jeden Morgen die Türen aufschließen musste. Um kurz nach Acht kamen sechs Senioren, alle im Alter jenseits von gut und böse, gut gelaunt und voller Tatendrang zum Schwimmunterricht. Tobias gab Kurse für Nichtschwimmer, ob jung oder alt, er brachte ihnen das Schwimmen bei. Die würden jetzt vor der Türe stehen, bei dem Wetter frieren und ihn, den Bademeister ohne Ausbildung, der, der einfach nur in den Job reingerutscht war, zum Teufel jagen. Er sah die einzelnen Gesichter vor sich, besonders das vom alten Professor Eichdorf, diesem Arschloch, der würde sicherlich am lautesten fluchen. Vielleicht würde ihn Ursula, seine Lieblingsschülerin, versuchen zu verteidigen, aber sie würde sich nicht durchsetzen können, auch das wusste er...
Tobias kam nicht voran, er stand immer noch hilflos in der Küche und wartete auf ein Zeichen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals verschlafen zu haben. Außerdem war es ihm schleierhaft, warum die gute alte Uhr einfach stehen geblieben war. Er wusste ganz genau, dass er sie gestern Abend, so wie an jedem Abend, vor dem Zubettgehen noch mal aufgezogen hatte. Ob jetzt wohl jemand stirbt?, fragte er sich und ging im Geiste seine ganzen Freunde und Bekannten und seine Familie durch. Viele hatte er nicht mehr, an Verwandten war noch seine Tante Karla, sein Onkel Mike und irgendwo im Ausland versteckt, seine Schwester Sabine übrig. Zu allen hatte er kein wirklich gutes Verhältnis mehr, außer Sabine, sie schickte ihm jedes Jahr zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten wenigstens noch eine Postkarte. Bei den Freunden war es noch etwas schwieriger jemanden zu finden, der ihm wirklich etwas bedeutete. Da war Mona, seine Kollegin, mit ihr war er mal ein Bier trinken. Sie hatte nach ihm die Spätschicht im Schwimmbad, für ein zweites Bier fanden sie aber einfach keinen gemeinsamen Termin. Tobias hatte sich zwar eingestanden, dass wenn sie es wirklich gewollt hätten, sicher hier und dort etwas Zeit für ein Treffen gewesen wäre. Aber er war einfach nicht der Typ, der sich aufdrängte oder auch nur den ersten Schritt unternahm. So etwas muss immer von beiden Seiten kommen, sonst ist das nichts, dachte er, sonst kann das nichts werden...
Noch immer total unentschlossen und sich der bereits verstrichen Zeit nicht wirklich bewusst, konnte Tobias keine Entscheidung treffen. Als erstes entschied er sich dafür, sich einfach nur hinzusetzten. Er schob den Stuhl ein wenig zur Seite und setzte sich. Kurze Zeit später stand er wieder auf und ging zurück in sein Schlafzimmer. Er sah den verschütteten Rotwein, der sich langsam von seinem Nachttisch hinunter bis hinter die Heizung und das Bett bewegt hatte. "Schöne Sauerei", murmelte Tobias vor sich hin und blickte unter sein Bett. Dort sah es aus, als wenn noch nie jemand ernsthaft versucht hätte, darunter sauber zu machen oder aber nur etwas aufzuräumen. Es hatte auch noch nie jemand getan, da war er sich sicher.
Er ging zurück in die Küche, ein Seitenblick natürlich auf die immer noch stehende Uhr gerichtet und nahm sich einen Schwamm aus dem Spülbecken. Tobias ging zurück in sein Schlafzimmer um den verschütteten Wein aufzuwischen. In diesem Moment klingelte sein Telefon, der schrille Ton hatte ihn erschreckt. Tobias blieb wie angewurzelt stehen, bewegungsunfähig und ohne auch nur irgendein Geräusch von sich zu geben, blickte er auf das Telefon. Das konnte nur jemand aus dem Schwimmbad sein, ging es ihm direkt durch den Kopf. Jemand der mächtig sauer sein würde, der seinem Ärger lautstark Luft machen wollte. Tobias konnte unmöglich dran gehen, er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Das Telefon schellte und schellte, in seinen Ohren begann es zu pfeifen. Tobias hielt sich beide Ohren zu, mit angewinkelten Armen und den Spülschwamm noch in den Händen stand er kerzengerade in seinem Zimmer. "Lass es aufhören", schrie er und merkte, wie sein Körper mit einer leichten Gänsehaut überzogen wurde. Plötzlich war es wieder still, er beruhigte sich ein wenig und bückte sich nach unten. Der Wein war bis tief unter das Bett gelaufen, er musste schon etwas von dem dort verstauten nach vorne befördern. Als erstes bekam er einen alten Schlafanzug zu fassen, mit ihm kamen ein Socken und ein total verstaubtes Mensch ärgere dich nicht Spiel zum Vorschein. Tobias wunderte sich darüber, ihm war gar nicht bewusst, dass er so etwas überhaupt besaß. Er zog es raus und fand dahinter noch mehr Unbekanntes, dabei streckte er seinen Arm immer tiefer unter das Bett. Fast ganz hinten, schon an der Wand und ein wenig zerquetscht, bekam er einen Karton zu fassen. Er zog ihn heraus und durchstöberte seinen Inhalt. Alles irgendwelcher Kram, wunderte er sich und zog eine ziemlich in Mitleidenschaft gezogene alte Single von Prince hervor. Es war die Platte mit der legendären Nummer Purple Rain, die er mit seiner damaligen Band "The Revolution" aufgenommen hatte. Für Prince war dies Anfang der 80er Jahre wahrscheinlich der internationale Durchbruch gewesen, für Tobias aber hatte sie eine ganz andere Bedeutung…
Er betrachtete die Platte eingängig und fischte die kleine, schwarze Vinylscheibe aus ihrer Hülle. Die Single sah noch gut aus, auf ihr waren keine nennenswerten Kratzer oder fettigen Fingerabdrücke zu erkennen. Dass sie aber oft abgespielt worden sein musste, konnte der geübte Plattenliebhaber schon auf den ersten Blick erkennen. Tobias kannte sich aus, er hatte bestimmt an die 1000 Platten in seinem Schrank stehen.
Je länger Tobias das Cover betrachtete, desto mehr kamen in ihm schon längst verloren geglaubte Erinnerungen zurück. Auf dem Cover ist Prince mit seiner Gitarre zu sehen, auf dessen Griffbrett jemand etwas sehr persönliches geschrieben hatte: Für meinen lieben Schatz, damit Du mich nicht vergisst. Immer wenn ich nicht da bin, sollst Du dieses Lied abspielen.... In LIEBE Sandra
Der Text war sehr klein geschrieben und in all den Jahren auch schon etwas blasser geworden. Tobias hatte echte Mühe, die einzelnen Worte zu entziffern. Er las den Text gleich zweimal durch, etwas in seinem Kopf fing mächtig an zu hämmern. Tobias stand auf und ging in sein Wohnzimmer. Dort schlenderte er an dem Glastisch vorbei hinüber zu seiner Stereoanlage. In letzter Zeit hatte er mehr CDs als Platten gehört, der Plattenteller seines alten Thorens - Spielers mit klassischem Riemenantrieb war mit einer heftigen Staubschicht bezogen. Tobias legte den Puck, ein zusätzliches Adapterstück zum Abspielen von Singles, in die Mitte des Tellers und legte die Platte auf. Natürlich vergaß er dabei nicht, die Geschwindigkeit seines Plattenspielers auf die nötigen 45 Umdrehungen pro Minute zu stellen. Geübt war geübt… Er hatte sich damals, Anfang der 90er Jahre, schwer getan mit den neuen Silberlingen, den kleinen CDs. Tobias besaß schon von klein auf eine recht ordentliche Plattensammlung. Er mochte den warmen, knisternden Sound der guten alten Vinyl Platte nie so recht eintauschen, gegen den kalten Sound einer CD.
Nach einem kurzen Knistern ertönten die ersten Akkorde der Klampfe von Prince und sofort schweiften Tobias Gedanken ab. Gedanken verfingen sich in den Tiefen seiner gelebten, bereits in Vergessenheit geratenen Vergangenheit. Der Raum war sofort eingenommen, verzaubert und völlig elektrisiert. Bilder tauchten auf, längst vergessene Szenen aus einem anderen Leben entfalteten sich blitzschnell vor seinem geistigen Auge. Kaleidoskopartig reihten sich die Bilder aneinander, setzten sich wie einzelne Bausteine zusammen und ergaben letztendlich einen Film. Es war nicht irgendein Film, nein, es war sein Film.
Tobias ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und begann zu weinen.


Ende Kapitel I



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.09.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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