Karl Wiener

Der Apfelbaum

       Jeder Wunsch, ist er erst erfüllt, weckt augenblicklich neue Wünsche. Der Legende nach wurden selbst Adam und Eva ob ihrer kecken Wünsche aus dem Paradies vertrieben. So wäre es eines Tages beinahe auch unserem Freund Joschka ergangen.
       Es geschah an einem sonnigen Sommertag. Große weiße Wolken zogen über den Himmel.  Ein kleiner Bach schlängelte sich durch die Wiesen, vorbei an einem Hügel, auf dem ein uralter Apfelbaum stand. Seine Rinde war von tiefen Rissen durchfurcht, und seine weit ausladende Krone schützte vor den gleißenden Strahlen der Sonne. Dort, im Schatten des Apfelbaums lag Joschka, ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Müde vom Spiel blinzelte er verschlafen in das Blätterdach. Die Äpfel, die aus dem Laub hervorlugten, waren noch nicht reif, aber ihre Zahl versprach eine reiche Ernte. Vergeblich versuchte Joschka, sie zu zählen. Es waren zu viele, als daß seine zehn Finger gereicht hätten. Die Wärme hatte ihn durstig gemacht, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er dachte, die Äpfel könnten ihm helfen, seinen Durst zu stillen. Erwartungsvoll erhob er sich auf die Zehenspitzen und schüttelte die Zweige des Baumes. Ein Apfel fiel ins Gras. Joschka hob ihn auf und biß herzhaft hinein. Doch, oh weh! - der Apfel war madig und faul.
           Der alte Apfelbaum hatte Joschka bemerkt. Eine leichte Brise bewegte seine Blätter, und Joschka hörte ihn flüstern: „Ein jedes Ding im Leben hat seine Zeit.“ - Joschka staunte, denn er hatte nicht gewußt, daß der Apfelbaum sprechen konnte. Damit ihm kein Wort entging, verhielt er sich ganz still, und der Apfelbaum fuhr fort: „Früchte, die vorzeitig reifen, sind oft madig und faul. Hüte deine Träume, denn ihre Erfüllung hält nicht immer, was sie versprechen“. - Der Apfelbaum verstummte. Der Schlaf hatte Joschka entführt. Durch seine geschlossenen Lider schimmerte ein mattrotes Licht. Aus diesem Licht trat eine Fee. „Joschka“, flüsterte sie, „ich gewähre dir drei Wünsche. Die sollen in Erfüllung gehen. Doch überlege gut, denn die Versuchung ist groß und es könnte leicht geschehen, daß alle Wünsche vertan sind, ehe du dich versiehst“. Damit verschwand die Fee.
          Joschka überlegte: Schon immer hatte er sich geärgert, daß ihn sein älterer Bruder wie ein kleines Kind behandelte, nur weil er noch nicht zur Schule ging. Deshalb wünschte er sogleich, ein Schulkind zu sein. Wie versprochen ging der Wunsch alsbald in Erfüllung. Draußen war herrliches Wetter. Aber Joschka saß schwitzend auf der Schulbank. Sehnsüchtig schaute er durchs Fenster und träumte sich auf die grüne Wiese, wo seine Altersgefährten am Bach und spielten. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er noch zwei Wünsche frei habe. Er saß, den Kopf in die Hand gestützt, und überlegte. Das Leben seines Lehrers erschien ihm begehrenswert. Der war immer fröhlich und wußte anscheinend alles, was ein Mensch wissen muß. So wünschte er sich denn, daß die Schulzeit zu Ende und er anstelle seines Lehrers sei. Wie gehabt, der Wunsch ging sofort in Erfüllung. Nun mußte er die Kinder lesen und schreiben lehren, und auch sonst gab es vieles, was die Kinder noch nicht wußten. Doch jetzt bemerkte Joschka, daß ihm die Dinge, nach denen ihn die Kinder fragten, selbst noch fremd waren. Die Wissbegier seiner Schüler brachte ihn in arge Bedrängnis. In seiner Not fiel ihm sein Großvater ein. Der war stets heiter und wußte viele interessante Geschichten zu erzählen. Nun wollte auch er wie sein Großvater sein. Kaum hatte Joschka diesen Wunsch auch nur gedacht, schon saß er auf der Bank vor dem Haus und blinzelte ins Sonnenlicht. Er fühlte, wie die Wärme seinen Gliedern wohl tat. Aber als er sich erhob, mußte er sich auf einen Stock stützen, denn das Gehen fiel ihm schwer. In seinem Kopf suchte er nach einer schönen Geschichte. Doch nichts fiel ihm ein. Die Geschichten seines Großvaters waren in all den Jahren gereift, die dieser das Leben beobachtet hatte.
         Joschka wurde traurig. Er erinnerte sich an die Worte des Apfelbaums: "Alles im Leben hat seine Zeit". Die glücklichen Tage seiner Kindheit schienen für immer verloren, die drei Wünsche waren vergeben. Doch, wie es im Märchen so geht, die Fee berührte ihn mit ihrem Zauberstab. Joschka erwachte aus seinem Traum und rieb sich verschlafen die Augen. Durch Erfahrung klug nahm er sich fest vor, Seine Träume zu behüten und seine Wünsche zu bewahren bis ihre Zeit gekommen ist.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Karl Wiener).
Der Beitrag wurde von Karl Wiener auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Karl Wiener als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sie folgten dem Weihnachtsstern: Geschichten zu meinen Krippenfiguren von Christa Astl



Weihnachten, Advent, die Zeit der Stille, der frühen Dunkelheit, wo Menschen gerne beisammen sitzen und sich auch heute noch Zeit nehmen können, sich zu besinnen, zu erinnern. Tirol ist ein Land, in dem die Krippentradition noch hoch gehalten wird. Ich habe meine Krippe selber gebaut und auch die Figuren selber gefertigt. So habe ich mir auch die Geschichten, wie jede wohl zur Krippe gefunden hat, dazu erdacht.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gute Nacht Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Karl Wiener

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Liebeslyrik von Karl Wiener (Romantisches)
Wendel, das Gespenst: Im Wald von Irene Beddies (Gute Nacht Geschichten)
Rügen wurde etwas teurer von Rainer Tiemann (Reiseberichte)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen