Abermals – zum wievielten Male? – griff er zum Telefonhörer. Doch wiederum: Nichts als undeutliche, verblassende Gedanken, die sich in ihr stilles Bett legten. Abgrundtiefe Unsicherheit über nichts und über allem. Kein Grund, sich zu beunruhigen, kein Grund, sich zu wundern. Kein Blau, das den Himmel umhüllte, kein Grau, das den Wolken Beine machte, nur helldunkles Modergrün lag über den Dächern. Und wieder hörte er es, so wie gestern, die Tage und Wochen zuvor: Kein Seufzen drang an sein Ohr, die lautlosen Angriffe der beherzten Grillen machten ihm zu schaffen. Dennoch verzog er keine Miene, nein, nicht jetzt; nichts verriet seinen Glauben und seinen Zorn, den er nur mit Wenigen teilte. Jenen wenigen, die wussten, die ahnten oder zumindest vermuteten: Gefrorene Zeit, gefangen in den sternenhohen Türmen des gnädigen Vergessens. Wohin sollte er sich wenden, wenn nicht in die andere Richtung? Gehen, immer gehen. Nie stehen bleiben, nie verweilen in den Randbezirken der Verzweiflung. Das war es wohl, worum es ging.
Der Telefonhörer schwieg. Diesmal nur, oder tat er es immer schon? Oder vielmehr: Lag es an der Nummer, die er gewählt hatte (sollte er denn eine gewählt haben, er wusste es nicht mehr) – oder lag es an ihm; diese bedeutungsverlorene Frage nagte unter seiner Kopfhaut. Keine Antwort auf all die Fragen, nicht jetzt, und vielleicht nie. Hinaus. Runter, auf die Straße. Die Treppe. Überwinden musst du sie, nicht klein beigeben vor ihrer heimtückischen Biegung und ihrer aberwitzigen Steilheit. Links. Erster Schritt nach unten. Dann rechts. Zweiter Schritt, und immer weiter so. Lins, rechts, links, bis unten. Die Tür öffnen, der Sonne das Gesicht zeigen. Kaltblütige Leidenschaftslosigkeit der immerwährenden Gegenwart. Sie ist immer da, sie geht nie, schläft nie und gönnt sich nicht einen Moment der Unaufmerksamkeit. Vorsicht, von links kommt einer. Er sieht dich nicht, wie wolltest du es ihm verdenken. Und wenn er dich sähe, er würde es leugnen. Ausweichen, dann die Richtung wählen. Die Qual der stets wiederkehrenden Wahl. Also nach links, wie jeden Tag. Gestern, heute – morgen wohl auch. Kein Scheren um morgen. Nicht jetzt ist es da, das Morgen, das gibt es immer nur später.
Die ersten Schritte sind gefährlich. Keine Abgespanntheit erlaubt, keine Ziellosigkeit wird toleriert. Null Toleranz gegenüber den Ziellosen, stören sie nicht nur den Lauf der Dinge? Weiter, immer weiter. Nur irgendwo hin, egal wohin. Nie hier sein, nie jetzt sein, immer nur woanders und irgendwann später: Die Tyrannei der Seinsvergessenheit. Wo ist die Stille jetzt? Hat sie einen Platz gefunden, wo sie sich ausruhen kann, neue Kraft schöpfen aus dem Schweigen – oder muss sie sich fürchten, der lauten und tölpelnden Gegenwart endgültig zum Opfer zu fallen? Ein Turm zur rechten, Opferturm der Redseligkeit. Immer höher, bis zu den Sternen und wieder zurück. Ohne wenn und aber unterwegs nach oben. Vorsicht, Ampel. Jetzt gehen.
Abermals streift sein Sinn den Telefonhörer, der oben zurückgeblieben ist. In den Falten des Universums lauert die Nichtigkeit. Abgrund der Nichtigkeit, nichtiger Abgrund. Höllentiefes Rot vor seinen Augen, in seinen Ohren das Rauschen der noch bewusstlosen, gerade erwachenden Tages. Noch einen kleinen Schritt, dann der Karlsplatz. Karlovo namesti, sakrale Geborgenheit. Auf ewig Dein, zumindest heute noch. Weiter, immer weiter. Alle gehen, also gehst auch du. Einen Schritt vor den anderen. Auf dem Rücken den Ausweis der Zielstrebigkeit, ein kleiner Rucksack. Was darin? Alles was darin Platz fände, scheut den Weg dorthin. Was tut´s, ein leerer Rucksack ist nicht durchsichtig, so wenig wie eine leere Seele. Den Blick nach unten, zum Boden. Unten, auf dem Boden, findet alles statt, was wichtig ist, alles ruht doch im Schoß der Erde. Der Blick nach oben ist nur für Standfeste, die sich ihres Bodens sicher sind; nicht für ihn, er blickt nach unten. Das Telefon schweigt, er weiß es. Er schweigt mit ihm, er wundert sich nicht. Worüber sollte er sich wundern: Er hat keine Erwartungen, er erwartet nichts und nichts erwartet ihn. Doch geht er weiter –
geradeaus, immer weiter, langsamer als andere. Er hat Zeit. Wenn einer kein Ziel verfolgt, nur so tut, als ob er sich zu irgendeinem weit in der Ferne liegenden Punkt hinbewegt, nur die Bewegung der Anderen nachahmt: Ein solcher Mensch hat Zeit. Die Unsicherheit in seinem Gang schämt sich ihrer nicht. Er torkelt ein wenig, weicht nach links vom geraden Weg ab. Er kann es sich leisten, vom geraden Weg abzuweichen, das wenigstens gönnt er sich, das wenigstens hat er den anderen voraus. Es ist seine Art von Großzügigkeit.
Nicht alle Gegenstände ziehen ihn an. Gegenständlichkeit ist ein verbeulter Sarkasmus, der die Wankelmütigkeit der Existenz offenbart. Der Platz füllt sich. Ausweichen ist schwierig. Da plötzlich wird eine Bewegung jenseits des Gehens möglich. Zuerst ein Blick. Dann ein Griff in das Innere einer verheißungsvollen Dunkelheit. Suchen, vielleicht Finden. Sicher jedoch: Bewegung, ein Ziel, endlich. Verweilen an der Raststätte für Gestrandete. Zweifelndes Schauen, dann zurück in den Abgrund. Daneben: Zwei Menschen. Der Blick in den Mülleimer, die Suche darin, zieht ihre Aufmerksamkeit an. Augenpaare richten sich auf ihn, tasten seine materielle Hülle ab und wenden sich wieder anderem zu. Doch wenn zu sein bedeutet, wahrgenommen zu werden, dann ist er jetzt für einen kurzen, unfassbaren Moment, ein Teil dieser Welt, ist in diese Welt eingedrungen. Er ist Realität, er existiert.
Weiter gehen, die Runde vollenden. Zwanzig Schritte noch, dann nach rechts abbiegen und vor allem – nicht zurück schauen. Nach vorne, ein Ziel verfolgen, in Bewegung bleiben, gehen. Das ist es wohl, worum es geht. Am Ende der Runde: Die Tür, die Treppe. Nach oben, wo das Telefon wartet. Das Telefon, das nicht klingelt, das nie klingelt. Das Telefon ohne Kabel, ohne Anschluss. Dort oben wartet es geduldig. Er wird zum Hörer greifen, doch das Telefon wird stumm bleiben, so wie er. Sie verstehen sich, sie sind aus einem Holz, sie teilen miteinander ihre Welt.