Sabine Pieper

Eine Anekdote über das Stehen und über das Fallen


1.03 Uhr nachts:
 
„Schatz, wach auf! Es geht los!“ Sie rüttelte an seiner Schulter. Er schrak hoch: „Was?! Okay, bleib ganz ruhig. Ich fahr dich hin.“ Er sprang aus dem Bett und rannte die Treppe hinunter. „Scha-hatz! Zum Anziehen reicht die Zeit gerade noch!“, rief sie ihm nach. Er blickte an sich hinab, sagte „oh“, eilte wieder hinauf und hüpfte aus dem Schlafanzug direkt in die Jeanshose hinein. Den Pullover warf er sich im Laufen über. „Kannst du allein gehen?“ Sie wies in die Zimmerecke. „Gehen schon, aber die Tasche trägst besser du.“ Erneut kam er zurück. „Natürlich. Ich fahr schon mal den Wagen raus.“
Langsam folgte sie ihm, blieb mitten auf der Treppe stehen, um einige Male tief durchzuatmen und verließ dann ebenfalls das Haus. Sie sah gerade noch, wie die roten Rückleuchten ihres alten Kombis eilig in der Dunkelheit verschwanden. „Das glaub ich jetzt nicht!“, stieß sie aus. „Ich zähle bis zehn, wenn er dann nicht wieder hier ist, ruf ich ein Taxi! Eins, zwei, drei...“
 
 
1.14 Uhr:
 
Zügig beschleunigte er. „Liebling, wir schaffen das schon zusammen!“ Er schaute sie an, doch der Beifahrersitz war leer. „Oh nein! Ich Trottel!“ Mit quietschenden Reifen kam er zum Stehen und legte den Rückwärtsgang ein.
„...sieben, acht, neun...“ In diesem Moment rollte er auf den Hof. Wortlos stieg sie ein. Eine Weile fuhren sie schweigend.
 
 
1.25 Uhr:
 
„Bitte entschuldige, ich pass jetzt besser auf. Du wirst sehen, im Kreissaal werde ich dir beistehen“, teilte er schließlich mit. „Hoffentlich“, erwiderte sie und atmete tief ein und aus, während sie sich dem Stadtkrankenhaus näherten.
Eine Straßensperre und eine Polizistin ließen sie anhalten. Er kurbelte die Scheibe herunter. „Was ist denn los?“ Die Uniformierte antwortete: „Sie können hier nicht weiterfahren. In den Krankenhäusern unserer Stadt gab es Bombendrohungen. Wir haben alles weiträumig abgesperrt. „Aber ich habe Wehen!“, rief sie panisch, „ich muss doch zur Entbindung in die Klinik!“ „Tut mir leid, Sie müssen in die nächste Stadt fahren.“ Er wendete. „Keine Angst, ich drück aufs Gaspedal.“ Sie atmete.
 
 
1.42 Uhr:
 
Der Motor begann zu ruckeln. „Bitte lass uns jetzt nicht im Stich!“, flehte er sein kränkelndes Auto an. Es stotterte, furzte und verlangsamte sein Tempo, bis es schließlich aufgab. Er fluchte, sie atmete konzentriert. Als er den Zündschlüssel drehte, röchelte das Auto. Mehrmals trat er das Gaspedal durch, bis der Motor gurgelnd ansprang. Stockend setzten sie sich in Bewegung. Nach 30 Metern und vielen Abgaspupsern standen sie wieder. „Keine Sorge, Liebling, ich ruf ein Taxi, das bringt uns ruck-zuck hin.“ Beim Atmen stöhnte sie nun.
 
 
2.16 Uhr
 
Vor der Tür zum Kreissaal stützte sie sich ächzend auf ihn. „Ich kann kaum noch laufen! Die Wehen kommen jetzt ständig!“ „Atme dich durch“, empfahl er und machte es ihr vor. „Was tue ich hier wohl die ganze Zeit?!“ schnauzte sie ihn an.
Eine junge Frau in Weiß nahm sie in Empfang. „Tut mir leid, heute ist hier der Bär los. Alle Entbindungsräume sind belegt, und im Flur warten bereits drei Paare.“ Jetzt stöhnte sie lauter. „Aber meine Frau hat Wehen!“, schleuderte er ihr entgegen. „Natürlich, wie alle Schwangeren hier“, erwiderte die Dame in Weiß gelassen. „Gleich fange ich zu pressen an!“, schrie sie. „Kommen Sie herein, ein Sessel wird sich wohl noch finden.“ Er versuchte sie zu beruhigen: „Liebling, ich steh hinter dir.“
 
 
10.39 Uhr:
 
„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben einen gesunden Jungen zur Welt gebracht!“ Die Hebamme legte ihr das mit Blut verschmierte Neugeborene auf den Bauch. „Sieh doch, Schatz! Ist er nicht wunderschön? Schatz? Wo ist mein Mann?“ „Es war wohl zuviel für ihn“, antwortete der Arzt, „im entscheidenden Augenblick ist er leider umgefallen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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