Sabine Pieper

Begegnung

„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ Die junge Frau sah von ihrer Arbeit auf. Vor ihr stand ein alter Mann in einem braunen Mantel. Sie wies auf die Kirchturmuhr. „Es ist halb drei.“ Er wandte sich um und setzte sich auf eine Bank. „Danke sehr. Dann habe ich ja noch etwas Zeit, bis mein Bus fährt.“ Sie hob mit ihrer kleinen Schaufel ein Loch aus, setzte eine gelbe Chrysantheme hinein, füllte Erde auf und drückte sie sorgfältig um die Blume herum fest. Der alte Mann sah ihr dabei zu. Sie wiederholte den Vorgang und setzte dieses Mal eine lilafarbene Blume hinein. „Schöne Chrysanthemen haben Sie“, sagte der Mann. Die Frau fuhr mit ihrer Beschäftigung fort. Als nächstes pflanzte sie eine Blume mit weißen Blüten ein. „Wissen Sie“, erwiderte die junge Frau, „mein Sohn liebte viele Farben.“ Der alte Mann nickte. „Ich verstehe.“

„Jedes Mal, wenn ich ihn in den Supermarkt mitnahm, ging er gleich in die Spielzeugecke, um sich die Autos anzusehen. Meistens kam er dann mit einem Auto in der Hand zu mir und fragte mich: ‚Kaufst du mir das?’ Wenn ich ‚Nein’ sagte, protestierte er regelmäßig: ‚Aber gelb ist meine Lieblingsfarbe!’ Je nachdem, welche Farbe das Auto gerade hatte, wechselten seine Lieblingsfarben häufig, verstehen Sie?“

Der alte Mann nickte. „Ja, das verstehe ich.“ Sie pflanzte noch mehr gelbe, lilafarbene und weiße Chrysanthemen ein. Der Mann betrachtete den Grabstein. „Heute wäre er sieben Jahre alt geworden“, stellte er fest. Die junge Frau nickte. „Es kommt mir wie gestern vor, kaum zu glauben, dass es schon fast drei Jahre her ist.“ „Wie ist er gestorben?“, fragte der Mann. „Es war ein Autounfall“, antwortete sie und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel. „Er saß hinten auf der rechten Seite. Ich stand an der Ampel in einer Autoschlange und ich hab keine Lücke frei gelassen.“ Der alte Mann reichte ihr ein Taschentuch und sie schnäuzte einige Male kräftig hinein. „Von rechts kam ein Auto und fuhr ungebremst in unseren alten Wagen hinein. Der Fahrer hatte einen Herzinfarkt.“ „Das tut mir sehr leid“, sagte der Mann.

„Eigentlich wollten wir den Wagen längst gegen ein neueres Modell eintauschen“, erklärte sie, „die alten Autos haben noch keinen Seitenaufprallschutz, wissen Sie?“ Der Mann nickte. „Hätte er hinter mir gesessen...“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Es war nicht Ihre Schuld“, sagte er.

Die Frau pflanzte die letzte weiße Chrysantheme ein und begann damit, die Erde mit einer kleinen Harke zu bearbeiten. Der alte Mann stand auf. „Ich gehe jetzt zur Bushaltestelle. Nochmals vielen Dank.“ Die junge Frau unterbrach ihre Beschäftigung und sah den Mann an. „Nein“, erwiderte sie, „ich danke Ihnen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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„Krachen, Scheppern und dann gewaltiger Lärm, als ein schwerer Gegenstand an die Wand geworfen wurde. Oh verdammt, die Verrückte spielte drüben in der Küche schon wieder ihr absolutes Lieblingsspiel – Geister vertreiben. Gleich würde sie hierher ins Wohnzimmer stürzen, wo ich versuchte, in Ruhe meine Hausaufgaben zu machen. Und dann würde sie mir wieder lang und breit erklären, welches Gespenst gerade versucht hatte, durch die Wand zu gehen und sie anzugreifen. Ich hasste sie! Ich hasste dieses Weib aus ganzem Herzen!“ Die 13-jährige Eva lebt in einer nach außen hin heilen, kleinbürgerlichen Familie. Hinter der geschlossenen Tür herrscht Tag für Tag eine Hölle aus psychischer und physischer Gewalt durch die psychopathische Mutter und den egomanischen Vater. Verzweifelt versucht sie, sich daraus zu befreien. Vergebens - bis ihr ein altes Buch in die Hände fällt. Als letzten Ausweg beschwört sie daraus einen Teufel. Er bietet ihr seine Hilfe an. Aber sein Preis ist hoch...

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