Gina Grimpo
Ich nicht
Es war sechs Uhr, als der Wecker an diesem Morgen geklingelt hatte. Sechs Uhr. So wie jeden Morgen. Ich war sofort aufgestanden und ins Badezimmer gegangen.
Ich stand jeden Morgen vor meinem Mann auf, damit sein Frühstück bereits fertig war, wenn er in die Küche kam.
Um zwanzig nach sechs hatte ich das Badezimmer verlassen. So wie jeden Morgen.
Ich hatte mich in die Küche begeben, während mein Mann aufgestanden war. Ich hatte ihm sein Essen für die Arbeit eingepackt und den Frühstückstisch gedeckt. Nach fünfzehn Minuten hatte duftender Kaffee und frisch gerösteter Toast auf dem Tisch gestanden und mein Mann hatte die Küche betreten. Wir sind ein eingespieltes Team.
Andere Leute würden diese Routine für langweilig oder spießig halten.
Ich nicht.
Mein Mann und ich hatten gemeinsam gefrühstückt. Er hatte seine Zeitung gelesen und ich hatte ihm stumm gegenüber gesessen, froh, ihm eine so zuverlässige Ehefrau sein zu können.
Andere Leute hätten dieses Schweigen am Tisch als Zeichen für eine nicht funktionierende Ehe gedeutet.
Ich nicht.
So lief es seit 15 Jahren und so würde es die nächsten Jahre laufen.
Um exakt sieben Uhr hatte ich meinen Mann ermahnt, dass er nun los müsse, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen wolle.
Er hatte wortlos die Zeitung zur Seite gelegt, seine Aktentasche genommen, war aufgestanden und zur Tür gegangen. Ich hatte ihm einen Abschiedskuss gegeben. So wie jeden Morgen.
Als er gegangen war, hatte ich auf die Uhr gesehen. Es war sieben Uhr und vier Minuten gewesen. Ich hatte genau eine Minute gewartet und dann begonnen, den Tisch abzuräumen. Dabei war mein Blick auf den Kalender über dem Herd gefallen. Heute war Mittwoch. Heute würde es Gemüsesuppe geben. So wie jeden Mittwoch.
Andere Leute würden einen derartigen Plan für eintönig halten.
Ich nicht.
Mein Mann kam jeden Abend genau um sieben Uhr nach Hause. Ich würde also um fünf zum Einkaufen fahren und um sechs mit dem Zubereiten der Suppe beginnen.
Ich hatte zurück gerechnet und dann auf die Uhr gesehen. Ich hatte noch eine halbe Stunde ZEit gehabt, bevor ich damit beginnen würde, das Haus zu putzen. So wie jeden Tag. Ich setzte mich an den Küchentisch und wartete.
Andere Leute hätten mein Leben als traurig oder gar armselig empfunden.
Ich nicht...
Jetzt ist es sechs Uhr abends und ich stehe in der Küche. Ich ziehe ein Messer aus dem Messerblock und beginne damit, das Gemüse zu schneiden. Vorsichtig, damit ich mich nicht verletze.
Wenn ich mich schnitt, würde das die Fertigstellung der Suppe verzögern. Mein Mann würde nach Hause kommen, bevor das Essen fertig war.
Anderen Leuten wäre das egal.
Mir nicht.
Um sechs Uhr dreißig steht der Suppentopf auf dem Herd. Das Telefon klingelt. Es ist mein Mann.
"Schatz, es tut mir leid", sagt er und ich beginne, mich unbehaglich zu fühlen. Mein Mann rief nie von der Arbeit aus an. Nie!
"Ich schaffe es heute nicht, um sieben zu Hause zu sein", fährt er fort und in meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen.
"Überstunden", sagt er und dann nochmal: "Es tut mir leid."
Im Hintergrund glaube ich eine Frauenstimme zu hören. Mein Mann musste noch nie Überstunden machen.
Wortlos lege ich auf. Zu meinem Erstaunen stelle ich fest, dass ich das Messer noch immer in der Hand halte. Ich betrachte das glänzende Metall.
Andere Leute würden sich von einem solchen Anruf nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie würden warten, bis ihr Mann nach Hause kam und ihn dann zur Rede stellen.
Ich nicht.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).