Sven Später

Eine magische Nacht

 
Grollender Donner ließ die Fensterscheiben des alten Herrenhauses klirren und der Wind zerrte unerbittlich an den morschen Fensterläden. Mit der Kraft von tausend Höllenhunden lief ein Unwetter Sturm gegen die dunklen Mauern von Fowlers Manor.
In solchen Nächten sollten sich die Leute irgendwo verkriechen und nicht gegen das riesige Portal hämmern, nur um die Hilfsbereitschaft des Hausherren zu testen. Dies war zumindest Victors Meinung, der aufgeregt an den strengen Gesichtern seiner Ahnen vorbeilief, die aus ihren Gemälden heraus auf ihn herabblickten. Aufgebracht rief er nach seinem Diener und wünschte sich, die Begabung seines Großvaters geerbt zu haben. Gutes Personal zu beschwören war eine Kunst für sich, die Victor leider nur am Rande beherrschte.
„Archibald! Verdammt noch mal, geh und öffne die Tür. Du bist nicht zum Vergnügen hier.“
Wenn er diese Ausgeburt der Hölle zu fassen bekam, würde sich Archibald wünschen, einem anderen Meister zu dienen. Bucklige Dämonen in Menschengestalt waren die reinste Plage. Sie hatten ihren eigenen Kopf und dachten immerzu daran, ihren albernen Spielchen nachzugehen.
Archibald liebte es, sich gleich einem Gespenst in Möbelstücken wie Tischen und Stühlen zu verstecken. Es machte dem Wesen sichtlichen Spaß, seinen Meister zu foppen, auch wenn es für solche Dummheiten Prügel setzte. Einmal hatte Victor Fowler seinen Diener sogar in einer antiken Vase entdeckt, zusammen mit einigen Spinnen und toten Fliegen. Das Relikt aus der Ming-Dynastie war natürlich zu Bruch gegangen und Archibald hatte es einige Mühe gekostet, sich aus den unzähligen Scherben zu befreien. Erst nach Wochen war er wieder gut genug zusammengesetzt, um sich Gästen präsentieren zu können.
Victor selbst war an den Anblick verdrehter Körper gewöhnt, aber nicht jeder Mensch zählte zu dem erlesenen Kreis der Magier und würde wohl kaum einen Diener akzeptieren, dessen Ohren auf der Stirn saßen, unter den Händen - zumal sich Archibalds Kopf ohnehin dort befunden hatte, wo man im Normalfall den rechten Arm erwartete.
„Archibald! Wenn du nicht sofort erscheinst und die Tür öffnest, dann erzähle ich Luzifer von deinem Unfug. Du weißt, dass er diese Dinge gar nicht gerne hört. Er reagiert sehr empfindlich auf Reklamationen.“
„Schon gut, Meister“, kam eine krächzende Stimme aus dem Türknauf zu Victors Bibliothek. „Ich komme ja.“
Gleich darauf löste sich zähflüssiger Schleim aus dem massiven Metall und tropfte zu Boden. Die Pfütze wuchs beständig, wölbte sich nach oben und formte die Gestalt eines gebückten Mannes. Sekunden später hatte sich Archibald manifestiert und wackelte murrend die Stufen zur Eingangshalle hinunter. Sein Meister war so schrecklich langweilig. Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Hätte Archibald das vor seiner Entstehung gewusst, wäre er ein Mensch geworden. Oder ein kleiner Hund. Die durften den ganzen Tag spielen und wurden dafür sogar noch gelobt. Ungerecht war es. Ja, ungerecht.
Victor stand am Geländer des schmalen Vorbaus, von dem aus man die gesamte Eingangshalle überblicken konnte und schüttelte langsam den Kopf. Da wackelte der gute, selten dämliche Archibald unbeholfen die Stufen hinab und bot ein Bild des Jammers. Sein Frack war zerknittert und staubig, die graue Mähne stand in sämtliche Richtungen ab, als habe er mit einem Metallstäbchen in einer intakten Steckdose herumgestochert. Das Gesicht des Dämonen konnte Victor zwar nicht sehen, aber er wusste, dass unter den schmalen, gemeinen Augen und der länglichen Nase ein beinahe lippenloser Mund grinste. Archibald grinste immer, ganz gleich was ihm widerfuhr. Kein Wunder, dass die Leute den Hausherrn für einen seltsamen Kauz hielten, wenn er sich mit Dienstpersonal umgab, das den Rand des Wahnsinns längst hinter sich gelassen zu haben schien.
Wie hatte Victors Großvater es nur angestellt, Dienst-Dämonen zu beschwören, die elegant und schön waren? Die hatte man von Menschen nicht unterscheiden können. Bei Archibald steckte die höllische Abstammung in jeder Gesichtsfalte. Gut, zur Not konnte man ihn für eine bemitleidenswerte Kreatur halten, die missgestaltet durch ein äußerst langes Leben gewandert war, aber das würde nie und nimmer die gelblichen Augen erklären.
Es war hoffnungslos. Mit solchen Fehlschlägen würde ihn der Zirkel bis in alle Ewigkeit verspotten. Neben Archibald gab es da noch das Zimmermädchen mit zwei gigantischen Hörnern auf der Stirn und seine Köchin Estelle, die mit ihren sechs Armen zwar sehr rasch herrliche Speisen zubereiten konnte, aufgrund des Äußeren aber alles andere als tauglich für die Öffentlichkeit war. Der Zirkel achtete mit äußerster Genauigkeit darauf, dass seine Mitglieder ihre Werke im Verborgenen verrichteten und die Ergebnisse nicht unter den Augen der normalen Menschen ausbreiteten. Niemand glaubte an Magie und so sollte es auch bleiben.
In einem Anflug von Verzweiflung warf Victor die Arme in die Luft und rief: „Du siehst erbärmlich aus, wie der letzte Dreck. Kannst du dich nicht ein wenig ordentlicher verwandeln?“
Obwohl der Dämon wusste, dass sein Herr bereits mehr als ungehalten war, konnte er sich seiner Natur nicht erwehren und konterte mit einer spitzen Bemerkung: „Der Teufel weiß, dass ihr Magier sehr lange lebt. Er muss eben auf seine Seele warten und dafür gibt's dann auch nicht die beste Ware.“
Bevor der Magier ihm einen Blitz in den Hintern jagen konnte, war Archibald auch schon bei der Tür und öffnete dem ungebetenen Gast.
„Oho“, gab er für einen Diener unpassend von sich, als er in das lächelnde Gesicht einer schönen Frau blickte. Ihr rot-blondes Haar klebte völlig durchnässt an den etwas fülligen, doch keineswegs dicken Wangen. Sie durfte Mitte zwanzig sein, vielleicht auch etwas jünger. Im Fernsehen hatte Archibald Geschäftsfrauen gesehen, die in großen Unternehmen für den Erhalt der Firmen eigenen Millionen sorgten - wie auch immer sie das anstellten -, und genauso sah sie aus.
„Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber ich hatte eine Panne mit meinem Wagen - und dann dieses Wetter ...“
Archibald nickte verständnisvoll und breitete seinen rechten Arm aus. Eine deutliche Geste, doch endlich einzutreten und das Unwetter draußen zu lassen.
„Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Sind Sie der Hausherr?“
„Nein, der bin ich“, sagte Victor laut und schritt hoch erhobenen Hauptes auf die junge Frau zu. Er versuchte so stattlich zu wirken, wie es einem Mann in Pyjama und Morgenmantel nur möglich war. Sein Aufzug war nicht dafür geeignet den wohlhabenden Lord zu spielen, aber irgendwie musste er der Besucherin ja zeigen, wer hier im Haus wirklich das Sagen hatte. Nicht auszudenken, wenn sie auch weiterhin Archibald für den Herrn gehalten hätte. Eine Schande.
„Ich freue mich immer über Besuch, vor allen Dingen wenn es sich um einen so bezaubernden Gast handelt“, sagte er fröhlich. Dabei gingen seine Gedanken in eine entgegengesetzte Richtung: Warum musste der Wagen dieser dummen Pute gerade vor meinem Grundstück den Geist aufgeben? Das kostet mich wieder wertvolle Stunden.
„Ich darf mich vorstellen: Victor Fowler, Herr über Fowler-Manor, sehr erfreut.“
Jedes Wort betonte Victor so, dass über seine Erhabenheit und seine Abstammung aus reichem - wenn auch nicht adeligem - Geschlecht kein Zweifel bestand. Nun sollte die Kleine eigentlich beeindruckt sein. Um der gesamten Begrüßungszeremonie den letzten Schliff zu geben, fuhr Victor über seinen dünnen Schnurrbart und durch sein dichtes, rabenschwarzes Haar.
Leider blieb die erhoffte Wirkung aus. Statt sich voller Demut unterwürfig zu zeigen, lachte sie keck und meinte: „Mein Name ist Irene Hunt, und Sie erinnern mich ganz stark an den sehr jungen Vincent Price, wenn mir diese Bemerkung gestattet ist.“
Ha, mit dem längst toten Price verglich sie ihn. Mit einem schnöden Schauspieler. Nun, bevor die Nacht vorüber war, würde er ihr zeigen, dass in ihm mehr steckte, als sie sich vorzustellen imstande war. Sie sollte wissen, was es heißt, im Hause eines Magiers zu Gast zu sein.

Eine Viertelstunde vor Mitternacht saßen Victor und Irene im Salon und führten eine angeregte Unterhaltung über alte Filme aus den Hammer-Studios. Der Vergleich mit einem Schauspieler hatte Victor tief in seinem Innersten verletzt. Er war ein Original, kein billiges Abziehbild.
Fröhlich plapperte Irene über alte Gruselschinken, von denen sie tatsächlich alle in- und auswendig zu kennen schien. Sie gehörte zu den Geschöpfen, die über eine enorme Ausstrahlung verfügten. Eine positive Aura umgab sie und machte den einen oder anderen Schönheitsmakel wett. Für Victors Geschmack hatte sie ein paar Pfund zuviel auf den Rippen, er mochte es knochig. Trotzdem stand ihr die geliehene Kleidung hervorragend.
Archibald hatte Irene gleich nach ihrer Ankunft in eines der Gästezimmer geführt und trockene Kleidung für sie zusammengetragen. Die Sachen stammten von Victors ehemaliger Lebensgefährtin, Isadora, sie brauchte das Zeug nicht mehr. Seit der Trennung - Victor war ihrer ständigen Nörgelei überdrüssig geworden - lebte sie draußen im Garten, zusammen mit den anderen Vögeln. Anfangs hatte sie sich noch mit nächtlichem Gezwitscher und Geflatter ein wenig gerächt, doch mittlerweile dürften ihre menschlichen Erinnerungen nur mehr ein stetig verblassender Schatten sein. Ein Vogelhirn eignete sich nicht für komplexe Denkvorgänge und bot erst recht keinen Platz für unnützen Ballast aus vergangenen Zeiten.
Während beide eifrig darüber diskutierten, wer denn wohl der bessere Dracula-Darsteller gewesen ist, Lugosi oder Lee, schlug hinter Irene die verschnörkelte Standuhr unter lautem Getöse Mitternacht.
„Huch“, entfuhr es der jungen Frau. Sie fasste sich theatralisch an die Brust und lachte auf. „Hab ich mich erschreckt. Eigentlich hätte ich das erwarten müssen - Sie haben ja immerhin ein richtiges Geisterhaus. Schön, aber irgendwie auch gruselig.“
Victor machte ein ernstes Gesicht: „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gruselig es hier ist, meine Liebe. Meine Studien öffnen zuweilen Tore, die besser verschlossen bleiben sollten.“
„Studien? In welchem Fachgebiet sind Sie denn tätig? Etwa Mythologie oder sowas?“
„Magie“, intonierte Victor voller Ehrfurcht, so als wollte er aus wenigen Wörtern eine komplette Oper zusammenschustern. „Schwarze Magie.“
Unter gähnen sagte sie: „Ach, wirklich?“ Dann winkte sie ab und grinste blöde vor sich hin.
Das ist falsch, dachte der Magier. Das ist ganz und gar falsch - und frech.
Entweder hätte sie höflich Interesse heucheln oder das Thema wechseln sollen, aber statt dessen veralberte sie ihn. Nein, das musste sich Victor nicht bieten lassen. Er war nicht so gut wie sein Großvater, zugegeben, trotzdem zählte er zu den ganz Großen im Zirkel und brauchte sich von einem dummen Menschenkind nicht auslachen zu lassen. Wütend schnellte er aus seinem Sessel, breitete die Arme aus und murmelte fremdartige Laute.
Plötzlich aufkommender Wind - wohlgemerkt: im Salon - ergriff die Zipfel seines Morgenrocks und wirbelte ihm den Stoff um die Beine. Von der Zimmerdecke zuckten grelle Blitze, die Wände wogten wie Wellen und aus der Tapete trat ein grässliches Wesen hervor, das nur einem Alptraum entsprungen sein konnte. Es hatte Ähnlichkeit mit einem aufrecht gehenden Hund mit vier kugelförmigen Augen, nur die untere Körperpartie war die einer gigantischen Spinne.
„Meeeiiisssteeerrr“, drang schleppend und hohl aus dem Rachen der Bestie. „Iiich hhhööörrreee.“
„Na, überzeugt?“, fragte der Magier und grinste dabei von einem Ohr zum anderen. Selbstredend hob er dabei die rechte Augenbraue, während er die andere etwas weiter nach unten zog.
Stolz deutete Victor auf den Dämonen und verschwieg, dass er eigentlich ein weniger gefährliches Exemplar hatte herbeirufen wollen. Diese Höllenkrieger waren verdammt schwer zu kontrollieren und noch schwerer wieder zurückzuschicken. Sie gingen meist erst dann wieder, wenn sie ihr Pensum an roher Gewalt und Zerstörungswut erfüllt hatten. Nicht selten hatte eine Beschwörung der Leibgarde des Teufels den Verlust eines ganzen Dorfes mit sich gebracht. Für eine einfache Demonstration der magischen Fähigkeiten etwas übertrieben, aber auch sehr effektiv.
Irene betrachtete etwas zu gelangweilt das Monster, das sie bösartig anstarrte und auf den Befehl wartete, endlich loslegen zu dürfen. Es bleckte die riesigen Zähne und knurrte. Nur ein Haps und die freche Göre wäre Geschichte.
Selbstredend wollte es Victor nicht soweit kommen lassen. Töten war nicht seine Art, auch wenn man ihn beleidigte. Später würde er sie in ein Warzenschwein verwandeln, das genügte als Strafe.
„Also, wirklich beeindruckend ist dieses Vieh ja nicht gerade. Aber für einen Anfänger - nicht schlecht, nicht schlecht.“
„Was?“ Victor traute seinen Ohren nicht. Glaubte das dumme Ding etwa, er veranstalte hier eine billige Show mit Tricks und doppeltem Boden? Sah sie denn nicht, dass der Dämon gar nicht echter sein konnte? So wie er vor ihnen beiden stand und den halben Raum ausfüllte. Was nicht von seinem massigen Körperbau verdeckt wurde, verschwand hinter einer Aura purer Bösartigkeit.
Zornig schüttelte Victor seine Faust und bellte: „Ich kann auch anders, meine Dame. Reizen Sie mich nicht zu sehr. Gehen Sie doch rüber und überzeugen sie sich von der Echtheit des Dämons. Aber aufpassen, der will nicht nur spielen.“
„Pah!“
Aus Irene sprach die reinste Verachtung. Insgeheim bewunderte sie jedoch Victors Fähigkeiten. Sie hatte gehört, wie ihn die anderen bewunderten und in den höchsten Tönen lobten. Eigentlich hatte sie einen arroganten Fiesling erwartet, hässlich und ungeschickt. Statt dessen handelte es sich bei Fowler um den wohl nettesten Magier, den sie bisher kennenlernen durfte. Zudem sah er blendend aus, geradezu niedlich. Schade, dass die Umstände ihres Besuchs keine derartigen Gefühle erlaubten.
Graziös stand sie auf und kramte in ihrer Handtasche. Sekunden später präsentierte sie einen kleinen Lederbeutel und verschüttete bräunliches Pulver das stark nach den Fäkalien einer Feldmaus roch. Dann machte sie ein paar Gesten und sang dabei.
Gebannt starrte Victor auf die junge Frau und überlegte angestrengt, in welche Kategorie ihre Handlungen einzuordnen waren. Eine Zauberin konnte sie nicht sein. Nein, Magier murmelten ihre Sprüche, sie führten keine schrägen Arien auf.
Bevor sich eine Lösung des Rätsels aus seinen verwinkelten Hirnwindungen an die Oberfläche kämpfen konnte, fraß das auf dem Boden verstreute Pulver auch schon ein Loch durch Teppichboden, Holz und Stein. Aus der gähnenden Finsternis drang mechanisches Surren.
Ein Kopf erschien, dann der Oberkörper und schließlich wurde ein Mann aus dem Loch nach oben befördert, ganz so als sei dort ein behelfsmäßiger Fahrstuhl, von dem Victor all die Jahre nichts geahnt hatte.
Endlich stand er da, in ganzer Größe. Sein Gesicht war fein geschnitten. Schmal und mit einem dichten Backenbart versehen. Die Kleidung des Mannes bestand aus einem ordentlichen Anzug in grau und einer brennenden Krawatte. Auf der Stirn trug er zwei geschwungene Hörner.
Mit glühenden Augen musterte er Victor und lächelte freundlich: „Sieh an, sieh an. Der junge Fowler. Dein Großvater macht sich gut bei mir.“
„Luzifer!“, keuchte Victor. Der Magier wurde weiß, dann grün und sofort überzog ihn abermals kränkliche Blässe. Wie um alles in der Welt hatte es die Frau geschafft, den Höllenfürsten persönlich zu beschwören? Das schafften nicht einmal Meister wie Victors Großvater.
Zu Irene gewandt meinte der Teufel: „Er ist einer meiner besten Kunden. Beschwert sich kaum, selbst wenn ich ihm den größten Müll schicke. Ein feiner Kerl. Gute Ahnen, tolle Seele.“
„Schweig!“, befahl Irene. „Verwandele dein Hündchen in ein Kaninchen und verschwinde!“
Luzifer brummte. Er hasste es, unter einem Bann zu stehen. Dafür würde jemand büßen müssen. Vielleicht Fowler, wenn der das hier nicht überleben sollte. Der konnte sich auf etwas gefasst machen.
„Irene, ich bitte dich. Höllenhunde sind doch so teuer. Die kosten mich mehr als tausend Seelen das Stück. Kann ich ihn nicht einfach wieder mitnehmen?“
„Nein! Gehorche!“
Dem Teufel blieb keine Wahl, er musste tun, was man von ihm verlangte. Wie oft verfluchte er Frauen dieser Art? Sie standen unter dem Schutz einer Macht, auf die er keinen Einfluss hatte. Den Fehler, sich mit der großen Göttin anzulegen, machte er kein zweites Mal. Die Mutter allen Lebens hatte ihm vor etwa tausend Jahren dermaßen heftig in den Hintern getreten, dass er noch heute mit Schrecken an ihren Zorn dachte. Oh nein, mit der wütenden Muttergöttin war nicht gut Kirschen essen.
Ein Schnippen der vorbildlich manikürten Finger genügte und dort wo zuvor ein geifernder Dämon gestanden hatte, befand sich nun ein niedliches Kaninchen mit Schlappohren, das ängstlich in die merkwürdige Runde blickte.
„Jetzt nimm es mit und verschwinde!“, donnerte Irene wieder mit einer sehr strengen Stimme.
„Ach, komm schon. Ich blamiere mich ja da unten. Irene, du hast dem jungen Fowler doch genug bewiesen. Musst du mich wirklich lächerlich machen?“
„Gehorche!“
Was konnte der gefallene Engel anderes tun, als Irenes Anweisungen Folge zu leisten. Er griff sich das Kaninchen, klemmte es sich unter den Arm und trat auf den Kreis aus verbranntem Pulver. Sogleich setzte sich dieser surrende Mechanismus in Gang. Der Teufel fuhr grummelnd zur Hölle.
Victor hatte die gesamte Zeit über nichts gesagt. Er stand etwas unter Schock, denn das, was er miterleben durfte, widersprach sämtlichen Gesetzen der sauberen Magie. Dämonen und Geister zu beschwören war eine Sache, aber den Teufel persönlich ... Das gehörte nicht zum guten Ton und war zudem überaus gefährlich.
Angestrengt überlegte er, wer es wagen würde, Satan unter einen Bann zu stellen. Wer? Dann schoss es ihm mit der Geschwindigkeit eines magischen Partikelchen in den Sinn: Hexen!
Er schaute zu Irene, die mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stand und sich in Triumph badete.
Natürlich, dachte Victor. Dieser leicht erdige Geruch, die rötlichen Haare und die etwas zu spitze Nase - die Zeichen sind überdeutlich zu erkennen und ich habe sie übersehen. Idiot!
„Was willst du von mir, Hexe?“
Irene machte einen Schmollmund und schnalzte mit der Zunge: „Na, na, wir sind aber gereizt. Ich bin hier, um dich herauszufordern. Das ist Sitte bei uns. Und warum sollte ich mir nicht den Meister unter den Magiern zur Brust nehmen?“
„Oh, Meister“, erwiderte Victor verlegen. Seine Wangen nahmen eine rötliche Färbung an. Lob gefiel ihm, aber trotz allem war es ihm peinlich. Seine Kollegen hatten die Wahl also getroffen und ihn zum neuen Vorsitzenden des Zirkels auserkoren. Wie die Hexe an diese Information gelangt war, mochte er sich gar nicht vorstellen. Die Nachricht würde ihn selbst wohl erst in einigen Tagen erreichen, überbracht von einem schwarzen Raben - Tradition der Tradition wegen, selbst wenn die Post um einiges schneller auslieferte, als es einem Raben möglich war.
Während Irene ihre Überlegenheit hochmütig zur Schau stellte, erkannte der Magier seine Chance. Rasch rief er zwei lateinische Worte und schleuderte aus seinen ausgestreckten Fingern einen Feuerstrahl in Richtung der Hexe.
Ha, das sengt dir den Pony an, dachte Victor still und heimlich. Aber seine Strategie ging nicht auf. Irene vollführte einige Kreisbewegungen mit der rechten Hand und sofort erschien ein steinernes Schild vor ihr, das sie zur Gänze vor dem flammenden Geschenk bewahrte.
Victor Fowler wäre keine Meister seines Fachs, hätte er eine Abwehr nicht erwartet. Sobald der Strahl auf den Fels traf, stoben zwei Lichtblitze nach beiden Seiten, beschrieben einen kurzen Bogen und knallten gegen Irenes Pobacken.
Hinter dem vermeintlich sicheren Schutz aus grau-schwarzem Naturstein quiekte die Hexe. Dann folgte ein wahrer Schwall nicht jugendfreier Flüche.
Vor den Augen des Magiers durchschlug die kleine Faust der Frau den Stein, zerbarst ihn in tausend kleine Stückchen, die ihrem Gegner unkontrolliert um die Ohren flogen. Einige davon zerschnitten seinen Morgenrock und sogar etwas Haut. Die ganze Sache entwickelte sich in eine sehr ungesunde Richtung - zumindest für Fowler. Wie alle Hexen, so kämpfte auch diese mit unfairen Mitteln. Wann man sie zu sehr erzürnte, antworteten sie mit roher Gewalt.
„Verdammt, hätte ich mal auf Opa gehört ...“, fluchte Victor Fowler und nahm die Beine in die Hand. Hinter ihm grummelte und rumorte es so laut, dass selbst die heftigen Donnerschläge des Unwetters nicht mehr gegen den Lärm ankommen konnten. Er wollte gar nicht wissen, was da vor sich ging.
Er brauchte eine Strategie und dafür war etwas Ruhe unabdingbar. Zumindest für einige Sekunden musste sich der Magier dem Einflussbereich der Hexe entziehen. Sie war so verdammt gut. Tief in seinem Geist befanden sich die goldenen Regeln, um gegen Naturmagie gewappnet zu sein. Irgendwo, tief eingegraben in unsinnigen Gedanken, hatte er die Warnungen seines Großvaters in der Schublade „Für-unwahrscheinliche-Begegnungen“ abgelegt.
Lange würde sich die Furie mit dem Zerlegen der Zimmereinrichtung nicht zufrieden geben. Er schrie mit Leibeskräften nach seinem Diener: „Archibald! Nimm sie dir vor, sonst hast du bald keinen Meister mehr!“ Und um seinen Dienstdämonen erst recht aus der Reserve zu locken: „Du weißt ja, was Luzifer mit herrenlosen Dämonen anstellt.“
Wie lauteten doch gleich die seligen Worte seines Großvaters: Kämpfe dein Gefecht tapfer, standhaft und unerbittlich! Aber scheiß auf deinen Stolz, wenn dir der Hintern in Flammen steht! Dann lass andere deine Drecksarbeit machen!
Die bloße Erwähnung Satans hatte gesessen. Auch wenn Archibald nicht der Ausbund an Gehorsam war, die Drohung mit dem Höllenfürsten jagte jedem anständigen Wesen aus der Unterwelt eine Heidenangst ein.
Unglaublich flink hastete der Dämon an Victor vorbei - wo auch immer Archibald gerade hergekommen sein mochte - und stürzte sich todesmutig in den Salon. Im schlimmsten Fall konnte die Hexe ihn in seine Einzelteile zerlegen. Ein Vorgang, den Archibald nicht fürchtete, tat er es doch regelmäßig selbst.
Trotz ihrer blinden Wut bemerkte Irene den heranstürmenden Buckligen. Um sie herum glich der Raum einem von vier Wänden eingefassten Schlachtfeld. Von sämtlichen Möbelstücken und Gemälden waren nur mehr Trümmer übrig geblieben, aus denen junge Sprösslinge der abenteuerlichsten Pflanzen wuchsen. Sie hatte die ganze Wut der Muttergöttin in ihren Amoklauf gelegt und dabei nichts verschont. Nicht auszudenken, was mit Victor geschehen wäre, hätte er sich nicht elegant aus der Affäre gezogen.
„Du wirst mir nichts Böses tun, Dämon!“
Dem gebellten Hexenbefehl musste jeder Dämon gehorchen, ganz gleich wem er nun zu Diensten war. Aber ganz so einfach stellte sich sich Sache nicht heraus.
„Wie werde ich denn?“, gab Archibald mit breitem Grinsen zurück. „Das habe ich auch gar nicht vor.“
Irene war baff. Wenn er sie nicht angreifen wollte, was trieb ihn dann dazu, sich ihr mit wuselnden Fingern zu nähern? Da passte etwas nicht zusammen. Sollte er den Magier verraten haben, würde er ihr freiwillig seine Dienste anbieten und sich nicht wie ein Irrer auf sie stürzen.
Wertvolle Sekunden vergeudete die Hexe. Sekunden, die Archibald dankbar nutzte. Bevor es sich Irene versah, prallte der Körper des Dämonen gegen ihren und löste sich sofort auf. Dann begann die Tortur. Am ganzen Leib spürte sie ein unaufhörliches Kitzeln, Kneifen und Zwicken. Zwischen den Attacken, ihrem verzweifelten Kichern und ihren Au's, Uh's und Ah's hörte sie immer wieder das wahnsinnige Auflachen Archibalds. Die Hexe hüpfte von einem Bein auf das andere. Ihre Hände schlugen überall hin, doch sie erwischte den Quälgeist nicht. Er steckte in jeder Faser ihrer Kleidung, vermutlich hatte er sich über ihre ganze Haut verteilt, wie ein schmieriger Film höllischer Blödheit.
Nach etlichen Fehlversuchen schaffte es Irene, sich von dem unsichtbaren Grabscher zu befreien. Sie stieß den Hexenschrei aus. Ein schrilles Gekreische, das alles im näheren Umkreis zerfetzte - inklusive Teilen ihrer Kleidung und den darin befindlichen Archibald. Ein Ohr klatsche an die Ostwand, die Nase flog durch das Fenster und der Rest klebte an jeder erdenklichen Stelle, die sich zum Kleben eignete. Es würde Tage dauern, bis sich der Dämon wieder korrekt zusammengesetzt hatte. Die Frage war, ob er überhaupt alle Teile wiederfand.
Irenes Unpässlichkeit hatte Victor Fowler nicht nutzlos verstreichen lassen. Längst befand er sich in der Bibliothek mit dem wohl geordneten Chaos eines Genies. Hohe Regale waren vollgestopft mit alten Büchern und Manuskripten. Noch mehr Lesestoff lag auf dem Boden und auf den drei Schreibtischen. Hier war Victors Reich, hier fühlte er sich mächtig und allwissend.
Er hatte nicht lange gebraucht, um das zu finden, das seinem anfänglichen Versagen eine glücklichere Wendung bringen konnte: Die Urne seines Großvaters.
Den Geist des alten Fowler zu beschwören war keine große Sache gewesen. Oft genug hatte Victor ihn zu sich eingeladen, um sich Geschichten erzählen zu lassen oder um Rat zu holen. Ahnen waren wunderbare Gäste. Sie machten keinen Dreck und verschlangen keine Lebensmittel.
Nun standen sich beide gegenüber. Das bläulich schimmernde Abbild eines Greises mit Backenbart und strengem Gesicht und der jugendliche Enkel mit zerzaustem Haar.
„Was ist denn? Ich befand mich mitten in einer Diskussion mit König Herodes. Ein faszinierender Mann. Wusstest du, dass ...“
„Opa“, fiel Victor dem Geist barsch ins Wort. „Das kannst du mir später erzählen - falls es ein Später überhaupt noch gibt. Ich habe da ein winziges Problem an den Hacken.“
Victors Großvater erkannte die Sorge seines Enkels. So bleich und ratlos hatte er den Jungen noch nie erlebt. Sofort vergaß er seinen Ärger über die freche Störung und versuchte seine Hände auf die Schultern seines Nachkommen zu legen. Wie immer rutschten sie ungebremst durch das lebende Fleisch. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass ihn die weltliche Ebene nur als Art Hologramm gewähren ließ.
„Erzähle mir deine Sorgen. Du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.“
„Nun ... ich ... äh, ich habe mich mit einer Hexe angelegt. Naja, eigentlich hat sie mich herausgefordert. Und sie ist verdammt geschickt.“
Der alte Fowler starrte abrupt an Victor vorbei zur Tür. „Ist sie etwas im Haus? Hast du sie eintreten lassen?“
„Tja, irgendwie schon. Sie hat mich einfach überrumpelt, aber das kann doch nicht so schlimm sein - oder?“
Kaum hatte Victor seinen Blick beschämt auf seine Pantoffeln gerichtet, wich sein Großvater mit weit geöffneten Augen zurück.
„Victor, habe ich dich nicht gelehrt, nie eine Hexe ins Haus zu lassen? Die saugen dir einen Teil deiner Kraft ab, bevor du es bemerkst! Kein Wunder, dass sie dich so in die Mangel nimmt.“
„Ja, ja. Kannst du mir nicht einfach helfen. Später darfst du mich dann auch zur Schnecke machen. Wenn du willst für die nächsten hundert Jahre.“
Kopfschüttelnd begann der untote Magier sich aufzulösen. Seine Stimme wurde zu einem fernen Hallen, das Victor an die Loyalität familiärer Bande zweifeln ließ: „Nein, nein, das ist ganz allein deine Angelegenheit. Wer bin ich denn, dass ich mich in die Machtkämpfe meiner Nachkommen einmische? Du wirst das schon machen. Ich muss jetzt dringend Luzifers Hörner polieren - hätte schon längst erledigt werden müssen. Bis dann, oder bis du ... ach, immer am Ball bleiben.“
Schließlich war Opa in die untere Höllenebene verschwunden und ließ Victor mit all seinen Sorgen allein. Toller Meistermagier aller Klassen, dachte dieser. Ab morgen benutze ich deine Urne als Aschenbecher.
Aus dem unteren Stockwerk ertönte mit einem Mal ein markerschütterndes Geplärre, gefolgt von dem lauten Knall platzender Dämonen.
Armer Archibald, hat sich für mich aufgeopfert. Egal, ist ja schließlich seine Aufgabe.
Der Weg nach unten war ihm nun gänzlich versperrt. Wenn sich sein Dämon nicht mehr um die Hexe kümmerte, würde sie sicherlich nicht im Salon bleiben und darauf hoffen, dass Victor wieder auftauchte. Sie würde ihn suchen. Schon hörte der Magier die ersten Schritte auf der Treppe. Nein, definitiv, die Eingangshalle bot keine Möglichkeit zur Flucht.
Was blieb? Victor schaute sich hektisch in der Bibliothek um. Über einem der Regale gab es ein kleines Fenster. Es war dem Magier nie bewusst gewesen, dass sich dort überhaupt eine Öffnung befand. Erstaunlich, wie wenig man die eigenen vier Wände doch wirklich kannte. Viele Dinge wurden für selbstverständlich erachtete und hingenommen. Jeder sollte seine Behausung Zentimeter für Zentimeter im Gedächtnis haben, um eventuelle Fluchtmöglichkeiten sofort abrufen zu können - für den Fall, dass einmal eine Hexe bei einem vorbeischaute und sich beweisen wollte.
Geschickt erklomm Victor die Leiter, hangelte sich gleich einem bekannten Archäologen mit Schlapphut und Peitsche zum obersten Regal und kauerte endlich vor dem kleinen Fenster, das sich - wie erwartet - nicht öffnen ließ. Mit dem Ellbogen zertrümmerte er die dünne Scheibe und befreite den Durchgang so gut es ging von den Glassplittern. Victor hasste es zutiefst sein Eigentum zerstören zu müssen, ganz gleich ob er zuvor von dessen Existenz gewusst hatte oder nicht.
Als er den Kopf vorsichtig nach draußen schob, empfing ihn ein eisiger Schauer. An einem solchen Abend sollte er gemütlich in der Bibliothek seine Studien vorantreiben. Statt dessen schlug er sich hier mit den Naturgewalten herum. Aber darauf konnte er in der brenzligen Situation keine Rücksicht nehmen.
Etwas mühsam zwängte er sich vollständig durch das Fenster ins Freie. Ein paar Gramm mehr auf den Hüften und er hätte seinen Ausweg vergessen können. Gleich nachdem er mit den glatten Sohlen seiner Pantoffeln die durch Feuchtigkeit und Moosbefall glitschigen Ziegel berührte, verlor der Magier den Halt und rutschte zur Dachrinne. In letzter Sekunde erwischte er ein Loch im Dach, das ihn vor dem tödlichen Sturz bewahrte. Bis zum Rasen waren es gut zwanzig Meter.
Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er den schäbigen Zustand alter Herrenhäuser zu schätzen.
Und weiter? Nach vorne konnte er nicht mehr, es hätte auch gar keinen Sinn gemacht. Vor ihm gab es nur das Innere des Hauses mit der darin befindlichen Hexengefahr. Rückwärts zum Dachrand war auch keine Lösung. Dort gab es nichts, das ihn hätte sicher nach unten befördern können.
Denk nach, denk nach, schalt er sich. Langsam wurde es ungemütlich in all dem Sturm und Regen. Toll, wenn er nicht von der Hexe vernichtet wurde oder zu Tode stürzte, wurde er am Ende von einer Lungenentzündung dahingerafft. Keine guten Aussichten für den frisch gebackenen Vorsitzenden des Zirkels.
Es muss doch - moment mal, ich bin doch ein Magier, ich kann ja schweben.
Victors Kehle entfuhr ein lautes Lachen. Wozu wären seine ganzen Fähigkeiten denn gut, wenn er sich nicht einmal aus einer simplen Notlage befreien konnte? Das war doch wirklich keine große Sache für einen Zauberkundigen. Auf einem Dach festzusitzen. Pah, lächerlich.
Etwas Latein, ein paar Fetzen Aramäisch und schon erhob sich Victor. Gegen den Sturm anzukommen bereitete ihm etwas Mühe, doch das war zu schaffen. Langsam sank er zu Boden, leichter als eine Feder. Erst als er festen Grund unter den Füßen spürte beendete er den Zauber.
Allzu lange würde es nicht dauern, bis die Hexe seine Witterung aufnahm. Besser er brachte einige weitere Meter zwischen sich und seine Kontrahentin. Tatsächlich weglaufen konnte er nicht. Erstens fanden Hexen einen immer wieder und zweitens widersprach Feigheit vorm Feind seinem Ehrgefühl. Immerhin galt es die Mitglieder und den guten Ruf des Zirkels zu verteidigen. Als bürokratischer Chef der anderen Magier genoss man einige Vorzüge, aber es gab auch Pflichten. Eine davon war, sich nicht von dem wilden Haufen der Hexen geschlagen zu geben.
Bei denen hatte die Emanzipation ganz schreckliche Formen angenommen. Sie strebten längst nicht mehr danach, als vollwertige Mitglieder einer magischen Gilde anerkannt zu werden, sondern wollten sämtliche Errungenschaften moderner Zauberkunst zunichte machen. Im Klartext: Sie forderten das freie Verfügen über magische Rituale für jedermann. Unvorstellbar. Anarchie würde über die Menschheit hereinbrechen, die Wiedergeburt eines finsteren Zeitalters.
Nein, Magie musste verwaltet und genehmigt werden. Von Männern natürlich. Die kannten sich bestens darin aus, Akten anzulegen und behördliche Prüfungen durchzuführen. Nur sie waren dazu in der Lage, Bittschriften richtig einzuordnen und diese verantwortungsbewusst zu genehmigen oder auch zu versagen.
Ein Haufen unkontrollierbarer Weiber würde die Erde gänzlich in Luzifers Hände legen und dabei noch singen und tanzen.
Hexen hatten im Zirkel nichts zu suchen. Nur aus diesem Grund suchten sie immer wieder Magier auf und versuchten, an denen ein Exempel zu statuieren. Leider waren sie oft genug erfolgreich und gingen als Sieger aus den Duellen hervor. Victor hatte da so einige Geschichten gehört ...
All diese Dinge waren jetzt zuerst nebensächlich. Es galt, einen guten Standpunkt zu finden, von dem aus er einen Vergeltungsschlag gegen Irene durchführen konnte. Für seinen Plan, der gleich einem Blitz durch seine Gedanken geschossen kam, brauchte er eine erhöhte Stelle und Platz. Ja, die westliche Anhöhe würde es mit Gewissheit tun. Ein kleiner, Gras bewachsener Hügel und im Umkreis von mindestens fünfzig Metern weder ein Baum, noch ein Strauch.
Wieder setzte er sich in Bewegung, was ihm nicht leicht fiel, da das nasse Gras keinen guten Laufgrund für sein Schuhwerk bot. Pantoffeln gehörten nicht in die freie Wildbahn. Davon einmal abgesehen sah er insgesamt nicht nach einem ehrwürdigen Magier aus. Die Hexe hätte ihm wenigstens Zeit geben können, vernünftige Kleidung anzuziehen. Wenn ihn in diesem Aufzug einer der Kollegen oder ein fremder Botendämon sah, war er für lange Jahre die Witzfigur Nummer eins im gesamten Zirkel.
Auf der Spitze des Hügels angekommen, wandte sich Victor in Richtung des Hauses und staunte nicht schlecht, als er nur wenige Meter von sich entfernt Irene sah. Sie stand mit den Händen in den Hosentaschen da und grinste ihn frech an. Ihre Kleidung hing in Fetzen an ihr herab und enthüllte hier und da genug nackte Haut, um einen Mann aus der Fassung bringen zu können.
Magier oder nicht, wenn es um fleischliche Gelüste ging, unterschieden sich die Zauberkundigen nicht im Geringsten vom Rest der normalen Männer.
„Was soll das werden?“, fragte die Hexe hämisch. „Willst du etwa dort oben über mir Lumpenpack stehen und mir magisch aufs Haupt spucken?“
„Du wirst dich noch wundern, meine Liebe. Du wirst dir wünschen, mich nie erzürnt zu haben.“
Irene grunzte und schnippte mit den Fingern. Aus dem Dunkel, das jenseits des Anwesens lag, kamen zwei weitere Personen heran. Frauen, wunderschön, eine mit schwarzen, eine mit feuerroten Haaren, und auch diese beiden verströmten diesen Duft nach Tannennadeln, frischer Erde und Natur. Noch mehr Hexen.
Victor Fowler stand der Mund weit offen. Damit hatte er nicht gerechnet. Das zeigte doch mal wieder, dass Hexen nicht mit ehrlich bleiben konnten. Sogleich machte er seiner Empörung Luft, indem er Irene böse anfuhr: „Hey, das ist nicht fair! Magier gegen Hexe. Nicht Magier gegen drei Hexen. Das ist absolut unsportlich!“
„Hör mal“, gab Irene zurück, „wir befinden uns hier nicht in einem Disney-Film. Ich heiße nicht Mimi und du bist nicht Merlin. Entweder du findest dich mit meinen Spielregeln ab oder du kapitulierst auf der Stelle.“
„Das könnte dir so passen. Gut, dann zeig ich es euch allen dreien.“
Die Arme weit ausgebreitet schaute Victor in den Himmel und rief: „Ich allein bin Herr über alle Elemente!“ Regen, der sein Gesicht peitschte und Wind, der den Magier fast von den Beinen fegte, zeigten sich von dem Auftritt nicht sonderlich beeindruckt. Sie nässten und stürmten einfach weiter, denn das war ihre Aufgabe.
Fowler stieß seine Formel in den nächtlichen Himmel. Blitze zuckten über den Hügel hinweg und ließen das Gesicht des Magiers für einen kurzen Augenblick zu einer teuflischen Fratze werden.
Gut, mit den Blitzen hatte Victor nichts zu tun, aber sie waren zum rechten Zeitpunkt gekommen. Unterstrichen sie doch meisterhaft sein Ritual, das den Hexen den Garaus machen sollte. Diesen einen Spruch hatte er niemals zuvor verwendet, also konnte er nur hoffen, dass es auch funktionierte.
Neben dem Magier erschien ein Portal aus Licht, es strahlte in allen Farben des Regenbogens. Schließlich schimmerte es gelblich und öffnete wie von Geisterhand die Pforten. Heraus trat das grauenvollste Wesen, das sich eine Hexe nur vorstellen konnte. Eine Erscheinung, die so unsagbar grässlich war, dass den drei Frauen die Knie weich wurden. Sie sanken zu Boden, versuchten den Blick abzuwenden. Sie wimmerten, riefen nach ihrer Göttin, doch selbst die hatte über das kommende Unheil keine Macht.
Aus dem Portal kam in Robe, Hut und göttliche Macht gekleidet - ein Bischof.
In einer Hand den obligatorischen Stab, die andere den Hexenhammer fest umklammert erhob er seine Stimme. Selbst das Unwetter hielt den Atem an ob dieser geballten Ladung Christlichkeit.
„Ihr Verdammten!“, dröhnte es vom Hügel herab. „Ich bin gekommen, euch zu richten, denn dies ist Gottes Wille! Ich werde euch zum Reden bringen, dann werdet ihr brennen! BRENNEN!“
Als Erste erwachte Irene aus ihrer beginnenden Lethargie. Sie flüsterte ihren Schwestern, die noch immer vor Angst bebten, etwas zu. Die drei Hexen erhoben sich. An den Händen haltend bildeten sie einen Kreis und stimmten einen Gesang an, der so schrecklich schön war, dass es Victor schwer fiel, seine Gedanken auf den beschworenen Gottesmann zu richten. Dämonen waren eine Sache, die konnte man mal an der langen Leine lassen. Aber bei Bischöfen war das nicht ratsam. Entfesselte man sie, kam es unweigerlich zu Verfolgungen von Hexen und Magiern, Kreuzzügen und anderen furchtbaren Dingen.
Auf der Ebene östlich des Hügels, dort wo der Sumpf begann, erhob sich sein Baum aus dem Morast. Irene öffnete ihren Mund, die anderen Hexen taten es ihr gleich und heraus quoll ein Strom kleiner Biester, die durchaus Ameisen zu sein schienen. Der Schwarm setzte sich in Bewegung. Er bedeckte in Sekundenschnelle den und fraß sich in das Holz. Nicht mehr als zehn Atemstöße, und das Werk war vollbracht. Aus dem Baum war eine Figur entstanden, die den Bischof aus der Fassung brachte.
In voller Lebensgröße stand dort das hölzerne Abbild Martin Luthers. Außer sich vor Zorn rannte der Bischof mit hoch erhobenen Stab und ein „Argh“ schreiend auf die Statue zu.
„Nein, nicht! Und schon gar nicht dorthin!“
Die Versuche Victors, seinen Bischof unter Kontrolle zu halten, verpufften ebenso schnell wie die Hoffnung, den Hexen ordentlich in die knackigen Hintern treten zu können. Ungebremst hastete der Geistliche zu dem vermeintlichen Widersacher, durch den Stolz seiner Kirche derart geblendet, dass er nicht einmal merkte, wie sein Körper langsam in die Tiefe gezogen wurde. Erst als seine Hüften im Morast verschwanden, wurde sich der Bischof seinem Übermut bewusst.
Zu spät, der Sumpf schlang begierig seine Beute in den tödlichen Schlund. Übrig blieben lediglich drei Luftblasen, die an der Oberfläche zerplatzten. Klägliche Zeugnisse der Superwaffe, die Victor gegen die Hexen einsetzen wollte.
Stümperei! Und das mir!
Was hatte er der Naturmagie einer Hexe entgegenzusetzen? Maschinen? Gifte? Vielleicht sauren Regen? Nun, das alles könnte funktionieren. Andererseits hielt er diese Mittel für unpassend, viel zu drastisch. Immerhin handelte es sich um ein Duell, nicht um die Vernichtung des halben Landstrichs.
Fast beiläufig wedelte Victor Fowler mit der Hand und schickte den Hexen einige Bannsprüche zu, von denen er sich nicht die geringste Wirkung versprach. Irenes Begleiterinnen blieben stehen und lösten sich einfach in Luft auf. Ohne Gezeter. Zack und weg.
Also so lief der Hase. Auch die ach-so-tolle Irene musste hin und wieder auf Taschenspielertricks zurückgreifen. Ihre Schwestern waren billige Illusionen gewesen. Spiegelgeschöpfe, die nur den Magier hätten mürbe machen sollten.
Wieso war er nicht viel früher darauf gekommen. All die Bewegungen, ihr Gehabe - sie hatten Irenes Handlungen nur nachgespielt.
„Das ist ja wohl nicht dein Ernst“, schalt Fowler die Hexe, die endlich aus der Reserve gelockt wurde und sich etwas beschämt zeigte. „Ich schöpfe hier aus dem Vollen und du verkriechst dich hinter Jahrmarktsattraktionen.“
„Tja - ich - äh ...“
„Du hast ja Nerven. Keine Frage, du kannst was - diese Geschichte mit Luzifer und so weiter. Aber Illusionen ... Das lernen unsere Adepten im ersten Jahr. Aufwärmübungen. Mich beleidigt es und dich macht es lächerlich. Schande, wir könnten ja gleich eine Runde Mau-Mau spielen, um das hier zu beenden.“
„Genug“, kreischte Irene, plötzlich wieder die überlegene Hexe, die einem Magier etwas zu beweisen hatte. „Deinen Spott kannst du dir sparen. Ich bin es nicht, die flennend zum Opa rennt, wenn es Prügel von einem Mädchen setzt.“
Ja, damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Mit dieser Finte hatte sie sogar den verbalen Schlagabtausch für sich entscheiden können. Victor fühlte sich zutiefst verletzt und auf seltsame Weise entblößt. Hätte sie ihm in einer belebten Fußgängerzone sämtliche Kleider vom Leib gehext, wäre es ihm nicht peinlicher gewesen als das Erwähnen seines Großvater-Komplexes. Mehr als je zuvor wurde ihm bewusst, dass er nicht im Schatten des großen Victor Fowler Senior stand, sondern vielmehr selbst dieser Schatten war. Nichts weiter. Ein dunkler Abklatsch wahrer Größe.
War der Zirkel denn blind, ihm den Posten des Vorsitzenden zu übertragen? Hatten sie denn nicht bemerkt, dass er zwar einen großen Namen trug, von den Fähigkeiten seines Opas aber nichts geerbt hatte?
Er fühlte sich unfähig zu handeln. Die Last seines Erbes erdrückte ihn fast, ließ ihn erstarren. Arme und Beine gehorchten nicht länger seinem Willen. Wie erwartete er da, die Magie beherrschen zu können?
Selbst weglaufen konnte er nicht mehr, da ...
„Ach du Scheiße!“
Victor keuchte und sah an sich hinunter. Kein Wunder, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Um Handgelenke und Fußknöchel hatten sich Ranken gebunden, die unbemerkt aus dem Boden gekommen waren. Klebriges Grünzeug hielt ihn gefangen und Irene lachte wie ein hysterisches Kleinkind.
Das war eindeutig zuviel. Irgendwie hatte sie es geschafft, in seinen Gedanken herumzupfuschen und es erreicht, dass er sich schäbig vorgekommen war. Natürlich war sein Großvater ein wunder Punkt, sozusagen eine seiner - zahlreichen - Achillesfersen. Dabei bekam Opa Fowler selbst als Geist noch kalte Füße, wenn sich Hexen in seiner Nähe befanden. Wie toll konnte der alte Fowler da sein?
„KRELEGK SISKG!“, rief Victor in einer Sprache, die nur Magiern zugänglich war. Irene hielt mit ihrem Lachanfall inne und wartete. Victor Fowler wartete. Das Unwetter wartete.
Nichts geschah.
Am anderen Ende des Hügels hüpfte ein weißes, splitternacktes Etwas zum Waldrand, und die Hexe raufte sich keifend die Haare. Nur um ganz sicher zu gehen trat Irene an das Ding, das wie Victor aussah und streckte ihre Hand aus. Kein Zweifel, statt des Magiers stand ein schleimiges Abbild von ihm auf der Hügelkuppe und zerfloss, sobald es von Irene berührt worden war. Mit einer einzigen Beschwörung hatte es der Mistkerl geschafft, ein Phantom aus Ektoplasma zu formen und mit ihm den Platz zu tauschen.
Also, wenn das nicht ebenso billig war wie Irenes Trick mit den Hexenschwestern ... Ohne lange zu überlegen nahm Irene die Verfolgung auf. Lange würde Fowler in der Kälte nicht durchhalten. Obendrein wirkte er nicht gerade sportlich. Schlank, gut gebaut - aber ganz sicher nicht sportlich.
Unter anderen Umständen hätte sich die Hexe köstlich über den rennenden Magier in seiner ganzen Nacktheit amüsiert. Es kostete sie nicht die geringste Anstrengung, einzelne Zweige und dürre Äste für ihre Zwecke zu gewinnen. Sie war Eins mit der Natur. So sprang Victor Fowler durch den Wald und jaulte immer wieder auf, wenn ihn ein kurzer Peitschenhieb eines Zweiges auf das blanke Gesäß traf. Dicht hinter ihm kam die Hexe heran und wusste nicht, ob sie wütend schreien oder kichern sollte.
Nach einer Weile hatte der Magier genug von den endlosen Demütigung. Er schlug einen großen Bogen und rannte zurück zu seinem Haus. Vor vor dem Haus versuchte Archibald gerade, seinen Kopf auf den Buckel zu pflanzen. Ein Vorhaben, das bereits durch den Umstand erschwert wurde, dass er seine Augen noch immer vermisste.
Versehentlich rempelte Victor seinen Diener an und sah, wie sich der Arme abermals in sämtliche Bestandteile auflöste.
Aus Archibalds Mund, der nun die rechte Handfläche des Dämonen zierte, krächzte es: „Ach, bitte! Meister, das muss doch nun wirklich nicht sein!“
„Sorry“, gab Victor kurz angebunden zurück und verschwand durch die Eingangstür. Ihn quälten andere Sorgen als das Dämonen-Puzzle im Vorgarten. Trotzdem musste er sich eine Belohnung für Archibald überlegen. Immerhin hatte sich der Dämon für seinen Meister in Stücke sprengen lassen. Wer hatte schon solche Diener?
Lange durfte sich Victor Überlegungen, wie die Hexe wohl zu besiegen war, nicht hingeben. Sie war ihm auf den Fersen und er wollte nicht unbekleidet in die nächste Konfrontation mit Irene treten.
Im Schlafzimmer warf er sich in Schale, um endlich die ihm gebührende Eleganz bieten zu können. Ein schwarzer Anzug mit rotem Hemd und schwarzer Fliege. Über die Schultern warf er sich den dunkelblauen Umhang der Meistermagier.
Perfekt. Jetzt musste man ihn ernst nehmen. Kleider machen Leute - so verbraucht dieses Binsenweisheit auch sein mochte, sie stimmte.
Neue Energie durchflutete seinen Körper. Magische Energie, die jeden Menschen zu jeder Zeit umgab, die aber nur von Zauberern genutzt werden konnte. Victor fühlte sich wie eine Autobatterie, die kurz vor dem endgültigen Ausbrennen neu aufgeladen wurde. Sein Umhang verstärkte das Bündeln der unsichtbaren Kraft, denn es handelte sich ja nicht um ein einfaches Kleidungsstück aus irgendeinem Kostümverleih. Nein, Umhänge wurden in anderen Dimensionen geschneiderte, von Dämonen mit etlichen Schutzsprüchen versehen und von einem höllischen Zustelldienst dem Zirkel übergeben.
Jeder Magier erhielt einen Umhang, der seinem Stand entsprach. Schwache Magie für Anfänger, äußerst starke für einen Meister. Im Grunde war es unfair, da unerfahrene Mitglieder mehr äußeren Schutz benötigten - doch die Welt war eben nicht gerecht. Warum sollte es die geheimnisvolle Welt der Zauberkundigen sein?
Victor hörte jemanden in seinem Rücken applaudieren und drehte sich auf der Stelle um.
„Bravo sage ich da nur. Super.“
„Ah, die Hexe. Du hast lange gebraucht, mich einzuholen. Vielleicht solltest du ein wenig Sport treiben. Schaden könnte es nicht.“
Irene ging auf seine Spitzen nicht ein. Sie hatte sich die Sache etwas einfacher vorgestellt. Ein, zwei Zauber und der Magier wäre erledigt. Statt dessen war aus ihrem simplen Plan, der allein auf das Überraschungsmoment gesetzt hatte, eine regelrechte Schlammschlacht geworden. Sie wurde müde, und das war kein gutes Zeigen. Ganz und gar nicht. Unachtsamkeit durfte sich die Hexe nicht erlauben, das konnte sie den Kopf kosten.
„Gibst du auf oder soll es noch eine weitere Runde geben?“
Fowler zog eine Augenbraue nach oben und strich über seinen dünnen Bart: „Aufgeben? Du meinst, ich soll aufgeben? Wir haben noch nicht mal richtig angefangen.“
Kaum waren seine Worte verhallt, züngelten auch schon blaue Flammen aus seinen Augen. Irene wich dem eisigen Feuer aus. Sie warf eine kleine Ampulle in Victors Schlafzimmer und die Dielen begannen zu beben. Ehemals totes Holz wurde mit neuem Leben erfüllt. Es kamen dicke Äste zum Vorschein, die sich wie Gitterstäbe vor den Magier schoben. Sie wurden immer dichter, drohten, Victor zu zerquetschen.
Der Magier beschwor einen Dämonen, von dem er geglaubt hatte, er wäre wohl die eine der sinnlosesten Höllenkreaturen: den kanadischen Holzschnitter. Aus zahllosen Staubkörnern formte sich ein stämmiger Mann und wuchs und wuchs - bis er die immense Größe von 1,30 Meter erreicht hatte. Dann stoppte das Wachstum.
„Was ist?“, fragte Victor Fowler das Wesen aus Staub, das sich endlich behäbig seine wahre Gestalt annahm.
„Ist das alles?“
Vor ihm stand ein Männlein mit langem Bart und zwei riesigen Äxten in den Händen. Es schaute ihn grimmig an und machte sich dann mit einem Kriegsschrei über das wuchernde Holz her. Die Äste zersplitterten unter den wuchtigen Hieben. Rasch war der Weg für den Magier frei, und der begab sich kopfschüttelnd aus den Überresten seines Schlafzimmers.
Jetzt weiß ich, woher diese Fantasy-Schmierfinken ihre Ideen für ihre Zwerge haben.
Das machte Sinn, denn etliche von ihnen gehörten dem Zirkel an. Zumindest als freie Mitglieder, die sich nur hin und wieder einfacher Beschwörungen bedienten. So wie viele Rockmusiker, Filmproduzenten, Politiker und nahezu alle Kardinäle.
Auf dem Flur erwartete ihn die Hexe und schleuderte eine weitere Ampulle, doch Fowler ließ mit einem Fingerschnippen ein weiches Kissen an der Aufschlagstelle entstehen. Kein zerbrochenes Glas, kein Freisetzen von Magie. So gefiel es Victor schon besser. Irene schien nachzulassen. Sie sah erschöpft aus. Vielleicht sogar etwas verzweifelt.
„Wir sollten nach draußen gehen. Es nützt uns beiden nichts, wenn wir mein Haus in Schutt und Asche legen.“
Sie nickte, da sie eine Bleibe wie Fowlers Herrenhaus nie zuvor besessen hatte. Wenn er beseitigt war, durfte sie sich all seine Habe und den Nagel reißen. So waren die Regeln. Manchmal sollte man sich daran halten - vor allem dann, wenn am Ende dabei etwas heraussprang.
Wieder an der frischen Luft nahm Victor einen kräftigen Zug derselben und ging in Stellung. Beide standen sich gegenüber, Magier und Hexe, etwa zwanzig Schritte voneinander entfernt. Duellanten aus dem alten Wild-West-Filmen gaben eine ähnliche Vorstellung, nur dass hier und jetzt niemand nach einer schnöden Feuerwaffe greifen würde.
Der Sturm hatte sich verzogen und den Regen Richtung Osten getrieben. Bei dem, was in Kürze folgen sollte, wollte kein Unwetter der Welt Zeuge sein. Archibald sah es ähnlich. Er hüpfte und kugelte als vollkommen falsch zusammengefügtes Etwas um die Ecke, weg von den zwei Irren, die sich jeden Augenblick gegenseitig die Hölle heiß machten - im wahrsten Sinne des Wortes.
„Du bist bereit zum Shootout, Hexe?“
„Darauf kannst du einen lassen!“
Victor zog zuerst - einen Zauberspruch aus seinem Repertoire. Zu Irenes Füßen quoll grünlicher Dampf und umhüllte sie. Das Zeug brannte auf ihrer Haut, stach in ihrer Nase. Aber nicht lange, denn die Hexe vertrieb die Giftwolke mit ihrem Atem arktischer Winde.
Nun war sie am Zug. Aus ihrem noch immer geöffneten Mund entwand sich ein gewaltiger Schwarm Hornissen, der sich auf Victor zu bewegte. Links und rechts des Magiers erschienen wie aus dem Nichts zwei Dämonen, die riesigen Fröschen glichen. Ihre insgesamt acht Zungen machten kurzen Prozess mit der heranrückenden Armee, bevor auch nur eines der geflügelten Biester Victor erreichen konnte.
So ging es weiter. Beide wirkten ihre Zauber und wehrten die Sprüche des anderen ab. Funken stoben aus Fingerspitzen, Dämonen und andere Wesen manifestierten sich und verschwanden wieder. Jede erdenkliche Art von Energie wurde als Waffe eingesetzt. Trotz alledem schaffte es keiner von ihnen, den Gegner zu besiegen oder auch nur im Geringsten aus der Reserve zu locken.
Die Nacht wich dem romantischen Rot des Sonnenaufgangs, und Victor und Irene schwanden fast die Sinne. Mittlerweile warf sie mit magisch erzeugtem Moos, während seine Feuerbälle harmloser als Wunderkerzen an der Hexe abprallten.
Irene gebot dem Unsinn plötzlich ein Ende: „Halt! Warte! Ich kann nicht mehr.“
Ein Vorschlag, den Victor dankend annahm. Da standen sie, stützten sich keuchend auf ihre Schenkel und genossen die Kühle des neugeborenen Morgens.
„Und nun?“
„Ergib dich, Magier. Dann lasse ich es als fair geführten Kampf gelten.“
„Ha!“ Victor konnte einfach nicht glauben, was die Hexe von ihm forderte. Ihre Dreistigkeit verschlug ihm beinahe die Sprache. Immerhin lachte aus ihr auch nicht gerade das blühende Leben. Sie hatte all ihre Macht aufgebraucht und würde, wie er selbst, erst ruhen müssen, um wirklichen Schaden anrichten zu können. Dennoch hielt sie sich für die Gewinnerin.
Eine bodenlose Frechheit, dachte er. Irenes Arroganz überschritt jedes Maß. Irgendwie machte es sie aber sexy. Victor Fowler mochte Frauen, die sich überschätzten und nicht ihre Klappe halten konnten. Nun, er mochte sie für einige Zeit, bis er ihnen überdrüssig wurde und sie in Vögel oder Mäuse verwandelte.
Wenn er jetzt all seinen Charme einsetzte, war es vielleicht möglich, die Hexe zu einem wesentlich friedlicheren Ausgang ihres Duells zu überreden. Dieses Gefühl war ihm schon bei ihrer Ankunft aufgefallen. Ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut, etwas wie Freude und Begehren.
Wie sie vor ihm stand - jung, schön, mit ihrem zerzausten Haar und dem leicht pummeligen Gesicht. Man musste sie einfach mögen, ganz gleich wie gemein sie im Grunde war. Kein Wunder, dass sie ihn in die Enge getrieben hatte. Er war dem niederen Verlangen eines jeden Mannes erlegen, der eine Frau nach seinem Geschmack entdeckte.
Was wird der Zirkel dazu sagen, wenn ich mit einer Hexe ... Ach, die sollen vor ihrer eigenen Tür kehren. Immerhin werde ich ja zum Vorsitzenden, da darf ich mir auch den einen oder anderen Ausrutscher erlauben.
Gedacht, getan. Wagemutig näherte sich der Magier dem schnaufenden Hexenweib mit dem Gang eines wahren Gentleman - müde und schleppend, aber dennoch elegant. Auf seine Lippen zauberte Victor ganz ohne Magie ein gewinnendes Lächeln. Es sollte besänftigen und ihr seine Absichten deutlich machen. Er wollte keine schnelle Nummer vor dem Frühstück, nein, sein Ansinnen lag irgendwo zwischen von ganzem Herzen kommender Zuneigung und innigster Verbundenheit. Die Gefühle spielten sich sozusagen über der Gürtellinie ab.
Da Irene alles andere als dumm, erkannte sie sofort Victors stillschweigendes Friedensangebot. Nun, sie hätte es schlechter treffen können. Er hatte wirklich einen knackigen Hintern und auch ansonsten gab es an ihm kaum etwas auszusetzen - bis auf die Kleinigkeit, dass er als Magier ihr Erzfeind war.
„Irene“, sprach Victor, als er nur wenige zentimeter von der jungen Frau stehen blieb, „wir sollten wirklich damit aufhören. Wenn wir unsere Kräfte weiterhin in diesem Maß strapazieren, verlieren wir beide. Das ist es nicht wert, nicht wahr?“
Nach seiner Rede präsentierte er den blendenden Beweis für die Wichtigkeit von Zahnpasta und –bürste. Die Hexe erwiderte sein Lächeln. Sie befreite die nach Liebe und Geborgenheit lechzende Frau in ihrer Brust.
„Wenn du es wirklich willst - dann küss mich. Hier und jetzt! Lass mich vergessen, dass du ein elender Magier bist.“
Ihre Lippen berührten einander, Hände strichen durch Haare und eine Hand - eine weibliche - streute nach Rosen und Veilchen duftendes Pulver auf das Haupt des Magiers.
Victors Zunge versuchte gerade in den warmen Mund der Hexe einzudringen, da ließ ihn ein fürchterliches Jucken innehalten. Seine Beine versanken im Boden. Nein, er schrumpfte.
„Gemeines Weibsstück!“, kreischte er. „Was hast du getan? Schmelze ich etwa?“
„Nein, im Gegenteil. Du wirst leben und dich ganz leicht fühlen. Leicht wie ein Vogel.“
Nicht lange und aus Victors Poren sprossen Federn. Seine Arme wurden zu Flügeln, derweil sich Nase und Mund zu einem kleinen Schnabel verbanden.
„Piep - piep. Pieppiep.“
Sein Gezeter half ihm nichts mehr, zumal es für menschliche Ohren unverständlich blieb. In der Vogelsprache schleuderte er Irene Worte entgegen, die keine Zensur der Welt überstanden hätten.
Die Hexe blickte auf ihn herab und grinste: „An deiner Stelle würde ich nicht lange am Boden bleiben. Weißt du, bei meiner Ankunft habe ich einigen Vögeln eine neue Gestalt verliehen. Meiner Meinung nach gibt es in dieser Gegend viel zu wenig Katzen.“
Sie wandte sich zum Gehen, drehte aber ein vorerst letztes Mal ihren Kopf in Victors Richtung.
„Einer dieser Vögel könnte deine Verflossene sein. Woher ich das weiß? Nun, wir Hexen sind nicht so unwissend, wie ihr Magier immer glaubt. Viel Spaß, mein kleiner Freund.“
Victor konnte sich vielleicht nicht mehr mit Menschen unterhalten, aber verstehen konnte er sie sehr gut. Entsetzt schlug er mit den Flügeln und hob ungeschickt ab. Allein der Gedanke, seiner ehemaligen Geliebten zu begegnen ließ ihn seine Höhenangst vergessen. Vermutlich hatte sie ihn noch immer zum Fressen gern.

Als kleine Anmerkung: Die Idee zu dieser Geschichte kam mir als ich einen den Film "Der Rabe" mit Vincent Price anschaute. Ich schätze diesen (leider verstorbenen) Schauspieler. Also wollte ich eine Figur, die Price ähnlich sehen könnte, etwas edles und britisches Ausstrahlt. Aber was macht man mit einem Magier? Ganz klar, man lässt ihn erst einmal seine Kräfte mit einer Hexe messen.
Dass dieser Plot schon in einem Zeichentrickfilm von Disney ja verwendet wurde, kam mir erstin den Sinn als die Geschichte schon fertig war.

Ein kleiner Spoiler für die, die es vielleicht interessiert: In der nächsten Geschichte (ist schon in Arbeit) wird Fowler seine liebe Mühe mit einem Zombie haben, der 1. nicht einsehen will, dass er tot ist und 2. ein Problem mit seiner neuen Nahrung hat.
Sven Später, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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