Dieter Kamensek

HERBST

Als Kinder saßen wir gerne am Bootssteg und sahen den Schiffen nach. Wir hörten die Wellen an das Ufer gleiten. Leise, fast liebevoll und sanft streichelte das Wasser die begrenzende Erde. Wir sahen oft Tiere die diesen Teil des Flusses dazu verwendeten um ihren Durst zu stillen.
Wir saßen manchmal auch dort als die Sonne das Himmelsreich verließ und sich – in unseren Augen und Gedanken – zur Ruhe bettete.
Das Leben an diesen Fluss folgte eigenen Gesetzen und Regeln. Mein Vater war Fischer. Tagtäglich fing er Fische, sortierte diese und brachte den Fang nach Hause. Wir waren nicht wohlhabend und schon gar nicht reich, doch es gibt etwas weitaus wertvolleres – aus meiner heutigen Erfahrung und Erinnerung gesehen – als die vielen materiellen Güter die man, einem Jäger gleich, zu erbeuten versucht. Zufriedenheit, Glück und das wundervolle Gefühl der Sorglosigkeit.
Manchmal, wenn ein Feiertag war und mein Vater nicht zum Fischen hinausfuhr, nahmen wir sein Boot und versuchten uns als Fischer und Abenteurer. Wir ruderten und warfen die Netze, oder wir angelten. Am gegenüberliegenden Ufer bauten wir uns ein Geheimlager und waren mit einem Schlag gefürchtete Piraten.
 
Am Abend – wenn wir zu Bett gingen – erzählten uns die Älteren die Geschichte von den Flussdämonen die in den Tiefen des Flusses hausen. Es gab viele Geschichten und Berichte, viele Erzählungen und Mutmaßungen. Die Erwachsenen dachten sich für uns nur die spannendsten Geschichten aus.
 
Eine Geschichte war besonders gruselig:
Manchmal, wenn der Neumond die Flusslandschaft mit den samtenen Mantel der Schwärze bedeckt und der Wind das Wasser bewegt, dann kommt der Flussdämon aus den Tiefen seines Reiches heraus. Sein Oberkörper gleicht dem eines Menschen, der Kopf dem einer Echse, und ab der Hüfte abwärts dem eines Fisches. Doch in diesen Nächten verwandelt er sich in einen Menschen. Nur an seinen Augen sieht man seine wahre Natur. Er streift dann umher und sucht nach Beute. Denn so wie die Fischer die Bewohner des Flusses fangen, so fängt er die Bewohner des Landes. Dabei ist es ihm egal ob Mensch oder Tier. Mit seiner Beute verschwindet er schließlich wieder in den Fluten.
Darum bleibe niemals draußen wenn es stürmt oder dunkel ist. Du weißt – der Flussdämon lauert.
 
Mit leichtem Gruseln, aber mit dem Wissen, dass man sicher war, schlief man ein. Und wenn man den Erzählungen oft gelauscht hatte, war der Flussdämon bald so vertraut wie ein Verwandter.
 
An einem Tag des beginnenden Sommers verschwand mein damaliger Freund Georg aus unserem Dorf. Wir waren gerade 10 Jahre alt geworden. Die Polizei vermutete, dass er ertrunken war, die Familien am Fluss aber munkelten dass ER ihm geholt hatte. Niemals sah oder hörte man wieder etwas von Georg.
Bei Georg fühlte ich mich wohl und oft spielten wir zusammen Mann und Frau, er war Fischer und ich seine Frau.
Lange Zeit trauerten wir um ihn, und ich warf jeden Tag Blumen in den Fluss.
 
Eines Tages, im ausklingenden Sommer, es war spät und der Abend senkte sich auf den Steg und das Dorf, die ersten Lichter wurden in den Hütten eingeschaltet, da hörte ich ein leises Plätschern. Es war kein Plätschern der Wellen, kein Plätschern eines Tieres, es war ---- unheimlich. Wer ein ganzes Leben am Fluss verbracht hat, kennt viele Arten der Geräusche die dem Fluss zueigen sind.
Aus der Richtung, wo der große Busch in das Wasser ragte, hörte ich ein gurgelndes Flüstern. Laute – fremd und für mich unheimlich, weil ich so etwas noch nie gehört hatte. Und irgendwie klang dieses Flüstern wie mein Name. Noch einmal, etwas lauter und eindringlicher schien mein Name gerufen zu werden.
Wie unter einem fremden Zwang drehte ich mich um und sah zu dem Busch, seine dünnen Äste bewegten sich und ich vermeinte zwei weiße Punkte zu sehen.
Ich schritt in die Richtung zu dem Busch der ungefähr 20m entfernt war, als mich etwas an meiner Schulter berührte.
Meine Mutter war gekommen, um mich ins Haus zu holen. Anscheinend hörte ich ihr Rufen nicht, welches mir verkünden sollte, dass das Abendmahl bereits auf dem Tisch stand.
Wir gingen ins Haus, aßen, redeten, hörten noch ein wenig Radio und gingen schließlich zu Bett!
Mitten in der Nacht erwachte ich von einem kratzenden Geräusch. Ich öffnete die Augen und nahm zuerst das Kratzen wahr, danach aber ein gurgelndes Flüstern. Ich schrie und meine Mutter kam bald darauf ins Zimmer.
Ich erzählte ihr von meinem Erlebnis, sie nahm mich in die Arme und ich durfte im Ehebett zwischen meinen Eltern schlafen. Meine Eltern waren der Meinung, dass ich den Verlust meines Spielkameraden noch nicht verkraftet hatte und kamen zu den Schluss, ich sollte für einige Zeit zu meiner Tante in die Stadt fahren, um auf andere Gedanken zu kommen.
Ich dachte jetzt immer mehr an Georg, an unsere Spiele, an sein Lachen, an seine Streiche und an seinen Übermut. Ich vermisste ihn sehr. Wenn ich die Augen schloss sah ich ihn vor mir, mit den Blümchen, die er für mich gepflückt hatte. Und ich sah seine roten Wangen und seinen schüchternen Blick.
Einmal stand ich auf und ging in die Küche um mit meiner Tante zu frühstücken, da kniete sie am Boden und schimpfte leicht vor sich hin. „Nasse, schmutzige Fußspuren – im ganzen Gang!, Ach ist das wieder eine Arbeit!“
 
Die Tage vergingen. Ich kam wieder zurück in unser Dorf – und ich freute mich auf meine Eltern, meine Freunde und meine vertraute Umgebung. Doch irgendetwas in mir war angespannt und ängstlich. Oft spielte ich alleine an den Plätzen, wo ich einst mit Georg lachte. Und die Wochen vergingen, die Monate eilten in das Land und die Jahre kamen und gingen. Oft hörte ich noch das gurgelnde Flüstern, oft das Kratzen. Ich sah auch, oft nach den Neumondnächten die nassen Fußspuren in unserem Haus, besonders vor meiner Türe. An die Erzählungen über den Flussdämon und diese unheimliche Anwesenheit hatte ich mich längst gewohnt.
 
Eines Abends saß ich, es war Neumond und der Wind peitschte das Wasser und rüttelte an den Fenstern, in meinem Lieblingsstuhl und las ein Buch.
Da sah ich zufällig aus dem Fenster und meinte eine Gestalt zu sehen die nahe dem Steg stand. Ich legte das Buch auf die Seite, stand auf und ging näher zum Fenster. Irgendjemand stand dort. Ich ging zur Türe und wollte den Unvorsichtigen warnen, denn der Fluss kann wild und unbarmherzig sein.
Warm angezogen ging ich hinaus, auf die Gestalt im Dunkel zu. Da hörte ich – durch den Wind – wie diese Gestalt meinen Namen rief. Gurgelnd und fremdartig und doch vertraut.
„Ich kann ohne Dich nicht sein!“ sprach die Gestalt, und hielt mir einige Blumen entgegen. „Ohne Dich ist mir so kalt!“ Nacht für Nacht denke ich an Dich, oft besuche ich Dich! – doch mein Herz brennt vor Einsamkeit. Seit mich der Flussdämon holte wünsche ich mir nichts sehnlicher als mit Dir die Ewigkeit zu verbringen!“ Seine gurgelnden Laute waren sanft und voller Zauber. Mir liefen die Tränen an den Wangen herunter. Ich ging weiter auf ihn zu. Er sagte: „Unten, am Grund des Flusses  ist es wunderschön, das Wasserreich lässt uns niemals altern, es ist so wunderbar! Komm mit mir- Du wirst sehen – noch niemals hast Du etwas Schöneres und Besseres kennen gelernt!
Ich ging noch näher, und als ich ganz nahe bei ihm stand – erkannte ich dass es nicht Georg war – sondern der Flussdämon. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und seine Krallen bohrten sich in meinen Körper. Er riss mich mit in die Tiefe um seinen Hunger an mir zu stillen, wie er es schon unzählige Male bei Anderen tat.
 
Am nächsten Tag suchte man bereits nach der jungen Frau  – aber vergebens. Niemand glaubt mehr an Dämonen. Allgemein dachte man - Sie war sicher dem Dorf entflohen um irgendwo und mit irgendwem ein neues, anderes Leben zu beginnen. Ist auch nichts Neues, denn viele junge Menschen gehen weg – weg von den Dörfern am Fluss!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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