Sven Später

Die Angstblase

 
 
Keine Vorzeichen, keine Warnung. Eines Morgens war sie einfach da.

Auf der Kirchturmspitze über dem Marktplatz ragte sie empor und begrüßte die aufgehende Sonne. Das fleischige Ding glich einer riesigen verunstalteten Hand. Dicke Finger umschlossen fest das kegelförmige Dach des gerade erst frisch restaurierten Gotteshauses. Ein Unverschämtheit an sich, denn Kirchendächer waren sicherlich nicht für monströse Gebilde gedacht, die ungefragt einfach aus dem Nichts auftauchten und über deren Herkunft man nur Vermutungen anstellen konnte.

Am Handgelenk des hautlosen Etwas befand sich eine graufarbene Blase, die im sanften Wind hin- und her wiegte. Pulsierend wie ein riesiges Herz thronte sie über der ganzen Gemeinde und verdarb die Beschaulichkeit der Kleinstadt. Da konnten auch die umliegenden Felder, Wiesen und Wälder nichts mehr helfen. Ein Ort, das von einem solch hässlichen Ding überragt wurde, verlor einfach seine Gemütlichkeit.

Schlicht und einfach: die Blase und der dazugehörige Mischmasch aus Muskeln und Sehnen war  ekelhaft.

Ein kleine Junge, der es als Erster entdeckt hatte, starrte fasziniert nach oben. Neben ihm auf dem Boden lagen sie Einkäufe, die er für seine Mutter besorgt hatte. Mit weit geöffnetem Mund stand er einfach da und schaute sich das Ding an. Vorübergehende Passanten folgen seinem Beispiel, denn es entspricht den ungeschriebenen Gesetzen des Menschseins, einem nach oben gerichteten Blick zu folgen. Nach und nach füllte sich so der Marktplatz vor der Kirche mit einer gaffenden und schimpfenden Meute. Einige standen nur einfach da und glotzten. Andere wiederum machten ihrem Unmut lauthals Luft. Sie zeterten über die Unverschämtheit der Jugend, verloren sich in Phantasien über Terroranschläge oder gaben dem Gemeinderat und den Politikern ganz allgemein die Schuld an dem Auftauchen einer grauen Blase.

Es gab auch eine vernünftige Frage, die in den Köpfen der Anwesenden herumspukte: Was würde passieren, wenn die Blase platzte? Vielleicht wäre es das Ende der Stadt, das Ende der gesamten Welt. Im schlimmsten Fall gar das Ende des Universums?

Von dem Tumult vor seiner Kirche gänzlich aus den Vorbereitungen seiner Predigt gerissen, trat schließlich der Pfarrer vor das Portal. Kaum jemand beachtete ihn, nur seine treuesten Schäfchen schauten ihn an und zeigten wortlos zur Spitze des Kirchturms. Rasch gesellte sich der Geistliche zu all den anderen und schaute sich die Schweinerei an.

„Unverschämtheit“, entfuhr es seiner Kehle. „Wer macht den so etwas? Das Haus des Herrn in dieser Art zu schänden. Nein! Da muss etwas dagegen unternommen werden!“

Mit diesen Worten eilte er ins Pfarrhaus um den Bürgermeister zu informieren.

Nach einigen Stunden einem wahren Tollhaus. Unzählige Menschen hatten sich versammelt um sich die Blase anzusehen. Es wurde gestarrt, gebetet, diskutiert und gestritten. Selbst die überregionale Presse hatte sich bereits eingefunden. Solche Phänomene blieben nie lange verborgen. Mitten im Sommerloch war man ja für jede spektakuläre Nachricht dankbar. Alles im unausgesprochenen Auftrag der Öffentlichkeit.

Wie es sich für einen gestandenen Politiker gehörte, ließ der Bürgermeister einige Gelehrte kommen, die sich das Ding einmal genauer ansehen sollten. Experten für graue Blasen. Natürlich war niemals zuvor etwas ähnliches geschehen, aber wenn man es wollte, ließ sich für jedes neue Problem sofort ein Experte finden. Spekulationen brachten niemandem etwas, aber amtlich anerkannte und beglaubigte Spekulationen von aus dem Nichts erschienen Koryphäen – ja, das war greifbar, damit konnte gearbeitet werden.

Der ausgiebigen Ansprache des Bürgermeisters folgten alsbald die Ausführungen der Experten. Kein Mensch verstand, was sie da sagten, aber alle waren sich einig: die Professoren und Doktoren hatten Recht mit ihren Vermutungen.

Um die Bevölkerung nicht unnötig in Panik zu versetzen, verzichtete man vorerst auf das Einschalten des Katastrophenschutzes. Auch wenn die Blase und ihr Anhängsel scheußlich aussahen, bedeutete das noch lange keine Gefahr für die Menschheit. Im Gegenteil. Die städtischen Politiker und Unternehmer erkannten in diesem widerwärtigen Äußeren auf fast magische Weise ihr eigenes Inneres. Und das konnte doch auf keinen Fall schlimm sein.

Auf den Stufen zur Kirche hatten sich die Mitglieder einer UFO-Sekte niedergelassen, die in der Blase ein Zeichen für die Ankunft von den lang erwarteten Außerirdischen sahen. Sie verloren sich in Gesängen und Propaganda-Geschrei. Ihr Anführer, ein ehemaliger Staubsaugervertreter mittleren Alters, ermahnte all Menschen, sich seiner Gemeinschaft anzuschließen. Denn nur die Gläubigen würden von den Aliens auf einen besseren, schöneren Planeten gebracht werden.

Energisch versuchte der Pfarrer die Heiden mit einem Besen davonzujagen. Selbstredend ohne Erfolg, doch der Herr würde es ihm hoch anrechnen, dessen war sich der Geistliche sicher.

Ein Feuerwehrauto fuhr an die Kirche heran und fuhr die Leiter aus. Jetzt war es möglich, das Gebilde mit der Blase zu erreichen, nur die Freiwilligen fehlten noch. Weder die Feuerwehrleute, noch die Polizisten fühlten sich zuständig für diese Aufgabe. Den bellenden Befehlen des Bürgermeisters wurde keine Beachtung geschenkt. Nur insofern, dass die Polizei und Feuerwehr drohten, die Zuständigkeit notfalls vor Gericht klären zu lassen.

Im Angesicht eines Nobelpreises fassten sich schließlich die Experten ein Herz und nahmen die Sache selbst in die Hand. Ein Gelehrter nahm einige Proben der fleischigen Masse, ein anderer begnügte sich mit distanzierter Betrachtung und ein dritter Wissenschaftler wagte es, auf die Blase selbst zu drücken. Das Ergebnis war schrecklich anzusehen. Aus dem Ballongebilde entwich ein gelblicher Dampf und umschloss für wenige Sekunden den ahnungslosen Mann. Er hustete, sein Gesicht wurde grau wie Stein und er stürzte tot zu Boden.

Die Menge war fasziniert und gab die obligatorischen Ohs und Ahs von sich. Dann beachtete niemand mehr den Toten. Die Blicke richteten sich nach dem dumpfen Aufprall des leblosen Körpers auf harten Asphalt wieder nach oben.

In den gut eingerichteten Laboratorien der städtischen Schule wurden Experimente mit den Proben durchgeführt. Dann folgten weitere Diskussionen, ob die Blase möglicherweise doch aus dem Weltall käme oder ob es sich am Ende um ein gen manipuliertes Etwas handelte, hergestellt in einer geheimen Einrichtung des Militärs. Doch zu einer Einigung kam man nicht.

Ratlos gesellten sich nun auch die Wissenschaftler zu der gaffenden Menge. Ungehört verhallten auch die Worte des Pfarrers, der seine Chance gesehen hatte, vor dem bisher größten Publikum seiner Karriere eine Predigt über Gottes Zeichen zu halten. Ihm blieb am Ende nichts anderes als sich selbst zu den Betrachtern zu gesellen und abzuwarten.

Nach einer guten weiteren Stunde des Wartens geschah es endlich. Der Junge, der die Blase zuerst entdeckt hatte, erklomm die Leiter des Feuerwehrwagens und legte seine Hand sanft auf die Masse. Nach fünf oder sechs Minuten wandte er sich an die Menschen, die ihn aufmerksam beobachteten und sagte:

"Es ist eine Angstblase. Sie hat es mir selbst gesagt. In jeder Stadt, in jedem Dorf auf der ganzen Welt gibt es jetzt eine."

Der Bürgermeister lachte laut auf. Er schüttelte den Kopf und meinte:

"Aber wir haben doch gar keine Angst vor der Blase. Wir sind nur etwas erstaunt über das Ding."

"Nein, nein", gab der Junge zurück. "Es ist eine andere Angst, die sich da drinnen befindet. Die Angst vor schulischem Versagen, die Angst, nicht genügend Geld zu haben, die Angst um die Arbeitsstelle, die Angst, nicht schön genug zu sein und so weiter. Alle unnützen Ängste sind in ihr enthalten. Und vor allem die Angst, anderen etwas abgeben zu müssen und anderen zu helfen."

"Das ist doch absurd", rief ein Professor.

"Und die Angst, nicht immer im Recht zu sein", sprach der Junge, zog einen Stein und eine Schleuder aus der Hosentasche und schoss auf die Blase.

Der gelbe Dunst umhüllte in Sekundenschnelle die gesamte Stadt und so, wie es der Junge getan hatte, taten es auch andere Kinder in jeder Stadt, in jedem Dorf.

Auf der ganzen Welt.

 

Horrorgeschichten müssen ja nicht immer zur leichten Unterhaltung beitragen. Hier habe ich versucht, etwas zum Nachdenken zu verfassen, dass aber durchaus noch in den Horror-Bereich passt.
Die Geschichte in Worte zu fassen war nicht einfach, da die Grundidee auf einem Traum basiert. Träume nieder zu schreiben kann zuweilen in die reinste Tortur ausarten.

Viel Spaß beim Lesen!

Sven Später
Sven Später, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.11.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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