Andreas Rüdig
Leben unter Wasser
Können Menschen unter Wasser leben? Seit Jules Verne wissen wir: Die
Antwort lautet „Ja!“. Kapitän Nemo mit seiner Nautilus ist ja
eigentlich schon Antwort genug. Ich wollte mit meiner Frage aber auf
etwas bestimmtes hinaus. Die entsprechende technische Ausrüstung
vorausgesetzt - können wir Menschen dann auf Dauer unter Wasser leben?
Ich besitze sehr viel Neugierde und Forschungsdrang. Also machte
ich mich auf den Weg. Ich ging zu einem Heilpraktiker, der sich auf
Hydrotherapie spezialisierte. Ich fragte ihn: „Was braucht ein Mensch,
um auf Dauer unter Wasser leben zu können? Kiemen?“ - „Nein.
Schwimmhäute, und eine Rückenflosse.“ Wie pflegten schon immer einen
merkwürdigen Humor. Dann klärte er mich über Fische auf: ihre Haut,
ihre Atmung, ihre Augen, ihre Ernährung. Dann beschrieb er die
Unterschiede zum Menschen. Das Ergebnis: Taucherbrille, Taucheranzug
und Luftflaschen würden wir Menschen schon brauchen.
Mein zweiter Versuch galt einem Architekten. „Wie würdest Du ein
Haus, das unter Wasser Bestand haben soll, bauen,“ fragte ich ihn. „Gut
isoliert,“ antwortete er spontan. Das Kerlchen hat einen seltsamen
Humor. „Und was ist mit Sachen wie Eingangstüre, Lüftung, Beleuchtung,
Bad und WC?“ Ich war ja hartnäckig und wollte alles genau wissen.
„Meine Güte, was hast Du vor? Willst Du auswandern,“ wollte er wissen.
„Nein, ich muß vor der Polizei fliehen. Ich habe einen übermäßig
neugierigen Architekten erschlagen. Also, was ist? Willst Du berühmt
werden und mit meinem Auftrag viel Geld verdienen?“ - „Von welchem
Auftrag redest Du?“ - „Ich erteilte Dich doch gerade den Auftrag, mein
Unterwasserhaus zu planen und zu bauen.“ Zuerst traf ihn der Schlag,
als er meine Worte hörte. Doch dann merkte er, daß mir Ernst damit war.
Und daß ich genug Forschungs- und Fördergelder zu vergeben hatte.
Materiell sollte es also nicht sein Schaden sein, wenn er den Auftrag
annimmt. Also machte er sich an die Arbeit.
Kaum war der Auftrag erteilt, eilte ich auch schon zu einem
Rechtsanwalt. „So - Sie wollen bauen. Wo denn?“ - „In der Ostsee.“ -
„An der Ostsee, mein junger Freund. Es heißt `an der Ostsee´.“ - „Nein,
nein, in der Ostsee ist schon richtig.“ Es dauerte einige Zeit, bis der
Mann verstand, was ich meinte und daß ich keinen Scherz machte. Ich
wollte nämlich wissen, wem die Ostsee gehört und ob ich eine
Baugenehmigung brauchen würde. „Eigentlich müßten Sie zu einem
Völkerrechtler gehen. Die kennen sich mit solchen Fragen besser aus.
Spontan würde ich sagen: Sie dürfen uneingeschränkt bauen.
Andererseits: Würden Sie sich schadensersatzpflichtig machen, wenn Sie
Überschwemmungen auslösen? Gibt es vielleicht Einschränkungen im
nationalen und internationalen Seeverkehrsrecht?“ Der Mann war wirklich
umständlich. Es sollte vier Wochen dauern, bis sein Gutachten vorlag.
Es war wasserdicht; alle relevanten Fragen wurden erschöpfend
beantwortet. Ich durfte Bauen.
Vier Wochen später lagen auch die ersten interessanten Baupläne
vor. Mein Freund, der Architekt, hatte wirklich ganze Arbeit geleistet.
Ich brauchte nur noch eine kompetente Baufirma finden. Doch diese
Aufgabe stellte sich als schwierig heraus. Schließlich gab es bislang
nur den Hoch- und Tiefbau. Der Unterwasserbau war unbekannt. Die
meisten Baubetriebe sind altmodisch und phantasielos. Sie lehnten
meinen Auftrag rundweg ab.
Was also tun? Notgedrungen gründete ich meine eigene Baufirma. In
ihrem Namen registrierte ich in den internationalen Seekarten ein
größeres Gebiet der Ostsee als mein persönliches Eigentum. Man muß sich
ja absichern. Dann machte ich mich an die Arbeit. Ich kaufte mir zwei U
- Boote und ließ sie zu mobilen Transporteinrichtungen umbauen. Ich bin
dabei wohl an einen Betrieb geraten, der auch das Militär beliefert. Es
war technisch kein Problem, Kräne, Ladeflächen und Baggerschaufeln an
den Unterseebooten zu befestigen.
Die dubiosen Herren, die plötzlich vor meiner Haustüre standen,
waren schon lästig. Sie wollten wissen, wer ich bin, was ich mache und
warum ich mich für die Ostsee interessiere. Ich vermute, sie waren vom
Militärschutz. Als ich sie überzeugt hatte, daß ich ein friedlicher
Forscher bin, zogen sie ab. Seitdem ist mein Teil der Ostsee der
ruhigste Bereich der Region. Es gibt keine Schiffsbewegungen.
Wahrscheinlich soll niemand mitbekommen, was ich so treibe. Mir soll es
nur recht sein. so kann ich wenigstens in Ruhe bauen.
So genial der Bauplan auch war, so sehr steckte der Teufel auch im
Detail. Die Heizungs- und Lüftungsbauer kannten weder das
Heizungssystem (es nutzt die Energie der Strömung) noch das
Lüftungssystem (die Algengärten liefern den Sauerstoff). Die Maurer
kannten den haltbaren und unbiegsamen Beton nicht. Wer liefert
Panzerglas? Wer liefert Wasserentsalzungsanlagen für Häuser sowie
mobile Badezimmer und Toiletten? Ich mußte viele Details klären.
Ich wohne nun schon seit einigen Jahren in der Ostsee. Als die
Menschen merkten, daß es funktioniert, entstand hier eine kleine
Kolonie. Natürlich sind wir noch mit der Erdoberfläche verkabelt.
Schließlich müssen wir bei Bedarf Hilfe holen können. Auch Telefon und
Post funktionieren nur über Kabel. Wir leben so autark wie möglich. Wir
ernähren uns von Meeresprodukten. Gemüse, Obst und geringe Mengen
Fleisch werden von der Erdoberfläche geliefert. Wir arbeiten hier am
Meeresgrund. Hier leben alles nur Künstler: Maler, Schriftsteller,
Komponisten, Videokünstler, Philosophen, Bildhauer. Es sind alles
Leute, die hier unten in Ruhe arbeiten können. Unsere Kunst ist unser
Geld. Damit bezahlen wir alles, was wir brauchen. Für mich ist es ein
glückliches Leben.
Meine Frau ist Musikwissenschaftlerin. Ich arbeite als
Filmkritiker und Literaturwissenschaftler. Wir können uns hier unten so
richtig austoben. Ich habe hier meinen inneren Frieden gefunden.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2007.
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