Joana Angelides

Nebel


Der Nebel ist dicht, man sieht keine zwei Meter weit. Die Geräusche werden verschluckt und die Wand vor mir ist wie Watte, undurchdringlich für das Auge.
Wie weit ist es wohl noch bis zum Haus der alten Norma? Normaler Weise ist es von der Straße bis zum Haus ca. dreißig Meter, heute erscheint die Entfernung hundert Meter zu betragen. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe den Kragen meines Mantels höher hinauf. Ist dort nicht ein Licht?
Ich gehe darauf zu, es löst sich vor mir auf, nun ist es mehr rechts, scheint dunkler zu werden, flackert. Irgendwoher hörte man Tuten von Schiffen. Das ist unerklärlich, hier gibt es keine Schiffe.
Ich gehe weiter, ins Ungewisse hinein, mit vorgestrecktem rechten Arm, die Arzttasche halte ich in der linken Hand fest umklammert.
Aus dem milchigen Neben vor mir taucht eine Hand auf, die sich mir entgegenstreckt. Erlöst greife ich danach. Ich sehe eine Gestalt vor mir, die Umrisse verschwommen, im Nebel erscheint diese Gestalt groß und bullig, mit breitem Rücken. Ich habe Mühe dieser Gestalt zu folgen. Rund um mich herum sind die Geräusche von gluckerndem Moor, gestört auffliegenden Vögeln, knackenden Ästen und heiseren Schreien von Käuzen zu hören. Ist da nicht das Anschlagen von Wellen an einer Uferbefestigung zu hören? Schleier von herabhängenden Schlingpflanzen schlagen mir ins Gesicht. Meine Gedanken, Gefühle überschlagen sich. Diese Geräusche sind mir völlig fremd. Ich spüre wie langsam Kälte in mir aufsteigt, wie sie sich bis in die Fingerspitzen verbreitet und mein Herz durch einen kalten Ring fest umschlossen wird.
Ich wollte mich aus dem Griff dieser mich hinter sich herziehenden Gestalt befreien, konnte es jedoch nicht. Der Griff war hart und fest, unlösbar mit mir verbunden.
Der Nebel wallt noch immer um mich herum, es lösen sich Schatten neben mir auf und verschwinden. Stimmen sind zu hören, entfernt, dann wieder nah. Es ist unverständlich, hier kann es überhaupt keine andere Menschen geben. Das Haus der alten Norma steht am Rande der kleinen Stadt, umgeben von Wald. Sie lebt völlig alleine und zurück gezogen. Nur ein Haus steht noch etwas abseits, ebenfalls am Rande des Waldes. Mein Besuch als ihr Hausarzt ist der wöchentliche Routinebesuch.

Ich stehe vor einem schmalen Steg, schmal und schwankend. Ich werde von dieser dunklen Gestalt erbarmungslos gezogen, es gluckert unter mir. Das Wasser schlägt an die Planken des spärlich beleuchteten Schiffes vor mir. Eine Laterne schwankt hin und her. Hier auf dem Wasser hat sich der Nebel etwas gelichtet. Wir sind am Ende des Steges angekommen, ich stolpere auf das Schiff und werde nun in eine Luke gedrängt, die Treppe hinunter gestoßen und stehe in einer Kombüse.
Die Luft ist muffig und abgestanden, alles ist primitiv und ärmlich. Auf einem Bett liegt eine Frauengestalt und windet sich. Sie stöhnt und ist schweißgebadet. Das Haar klebt ihr im Gesicht, verhüllt es fast vollständig. Ein ovales Medaillon hing an einer dünnen goldenen Kette an ihrem Hals
Ich drehe mich um und kann zum ersten Mal diese unheimliche Gestalt, die mich hergebracht hat, im Licht sehen. Er starrt mich an, seine Augen sind rot unterlaufen, eine Narbe verläuft quer über sein Gesicht. Eine Seemannskappe verdeckt wirres, schwarzes Haar. Ein heiserer Ton kommt aus seiner Kehle und er deutet herrisch auf das Bett.
Die Frau liegt unübersehbar in den Wehen. Ich packe sofort meine Tasche aus, schlüpfe aus meinem Mantel und meiner Jacke und herrsche den Mann an, mir heißes Wasser zu besorgen. Er schaut wirr um sich. Naja, heißes Wasser ist zwar da, aber viel zu wenig. Ich winke ab und beuge ich mich über die Frau. Es war höchste Zeit, hier einzugreifen.
Gemeinsam mit dem großen Unbekannten zerreiße ich ein eher schmutziges Leintuch.
Hier wurde ein Menschenleben geboren, ein kleines Mädchen, unter den ungünstigsten Bedingungen.. Trotz verzweifelter Anstrengung meinerseits konnte ich das Leben der Mutter jedoch nicht retten.
Das Weinen des Kindes war so schwach, daß man es kaum hören konnte. Er wickelte es in das Leintuch ein und drückte es an sich. Ein unmenschlicher Laut kam aus seinem Munde
Das Schiff schwankte plötzlich, der Boden unter meinen Füßen schien nachzugeben, ich mußte mich anhalten und verlor das Gleichgewicht. Ich stürzte hin.

„Ja, um Gottes Willen, Herr Doktor!“ Die Stimme kam mir bekannt vor. Es war der Nachbar der alten Norma.
„Ja, was ist passiert?“ Ich konnte in dem Nebel fast nichts sehen.
„Sie sind gestürzt, ich war gerade auf dem Weg zur alten Norma um nach der Heizung zu sehen und da lagen sie. Sie sind ja ganz durchnäßt und haben auch noch den Mantel ausgezogen!“

„Was ist mit dem Baby?“
„Welches Baby? Hier ist kein Baby, Herr Doktor. Kommen sie, wir gehen zusammen. In diesem Nebel sieht man ja gar nichts.“
Er hatte eine Laterne bei sich und nahm den Doktor mit einem festen Griff bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Er hatte einen breiten kräftigen Rücken und ging unbeirrbar Richtung des Hauses.
Sie wurden von Norma bereits erwartet. Sie war schon sehr alt und gebrechlich, der Besuch des Arztes freute sie immer sehr. Es war die einzige Abwechslung für sie. Sie hatte keine Familie, ihre Tochter war vor vielen Jahren weggegangen und in der Ferne gestorben, dann auch ihr Mann. Sie hatte nie mehr etwas von ihrer Tochter gehört.
Doch heute schien sie irgendwie fröhlich, ja sogar glücklich zu sein.

Sie saß in ihrem Lehnstuhl schwenkte ein Blatt Papier in ihrer Hand.
„Ich habe eine Enkelin, ich habe eine Enkelin!“ Rief sie und Tränen rannen ihr über das Gesicht.

Und dann erzählte sie. Sie bekam diesen Brief vor zwei Tagen. Er war von ihrer Enkelin, von der sie nie etwas gehört hatte. Diese Enkelin hatte sie viele Jahre gesucht und nun endlich gefunden.
„Sie schreibt, sie ist in einer Nebelnacht wie dieser auf einem Flußschiff geboren worden, ihre Mutter, meine Tochter, verstarb bei der Geburt. Sie wurde vom Kapitän des Schiffes großgezogen. Ach, ein Wunder!“ Sie drückte den Brief an ihre Lippen und Tränen rannen ihr über die welken Wangen. Dem Brief beigelegt war ein kleines ovales Medaillon, mit einem vergilbten Bild darin. Es war das Bild von Norma und ihrem Mann.

Ich mußte mich setzen, Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Wie war das möglich? Hatte hier eine Zeitverschiebung stattgefunden?
Ich werde dieses Geheimnis nie lösen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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