Christine Herrmann

Am Nikolausabend

Vor vielen, vielen Jahren stand ich an dem kleinen Fenster in unserem Kinderzimmer unterm Dach und schaute hinaus. Zusammen mit meiner älteren Schwester drückte ich mir die Nase platt an dem kalten, dünnen Glas, das von innen mit Eisblumen bedeckt war. Der Rahmen war aus Holz und oft gestrichen worden, und unter dem Fenster war eine Rinne, in der des morgens Eis war. Wir hauchten gegen die Eisblumen, die daraufhin kleiner wurden und spähten in die Sternennacht.

„Ist bald Weihnachten?“ fragte ich die Schwester, sie war ja alt und klug. „Das dauert noch, heute ist ja erst Nikolausabend“ verkündete sie. Dabei versuchte sie, über die diamantglitzernden Tonpfannen des Daches weit hinaus zu spähen, als suchte sie jemanden. „Hmmm“ meinte ich, „der Nikolaus kommt doch nicht hierhin, oder?“ und langsam stieg so etwas wie Angst in mir auf. Wenn er wirklich, wirklich kommen würde, würde er ja wissen, daß ich ab und zu, aber nur ab und zu, mal nicht brav gewesen war. Genau genommen schon öfter.

„Weiß nicht“ zuckte sie mit den Achseln, „letztes Jahr war er ja auch nicht da, dann kommt er vielleicht auch dieses Mal nicht.“ Draußen fing es leise an, zu schneien und die eine und andere Flocke perlte gegen das dünne Fensterglas und rutschte dann langsam daran herunter. Es war schon sehr beschlagen von unserem heißen Atem und unsere Gesichter wurden immer kälter. Gerne malten wir Bilder mit den Fingern in die nasse Scheibe und stupsten unsere Nasenspitzen daran. „Ich gehe dann lieber gleich schlafen“ -  meinte ich, denn wenn ich schlief, würde mich der Nikolaus doch nicht wecken.


Foto © Christine Herrmann

Es klingelte an der Haustüre und das Herz rutschte mir immer tiefer. Schritte kratzten auf dem Linoleumboden, jemand öffnete die Haustür und Kälte zog hinauf durch das Treppenhaus. Ich hörte eine laute, tiefe Stimme und nun stieg pure Angst in mir hoch. Zu spät, Mama rief schon nach uns, wir sollten kommen.

Wie gut, daß meine Schwester bei mir war, als wir vor dem riesigen dicken Nikolaus endlich ankamen. Sein weißer, glänzender Bart quoll aus dem roten Gesicht, als wäre er ein Wasserfall. Er lächelte und seine Augen waren gütig. Ich fing an, mich wohler zu fühlen, aber halt, wer war denn die schwarze Gestalt neben ihm? „Das ist Knecht Ruprecht, der bestraft die bösen Kinder mit der Rute!“ donnerte der Nikolaus und ich wurde immer kleiner. Halb hinter der Schwester war es etwas sicherer als davor und ich starrte  zu Boden auf den abgetragenen Linoleum.

Dann sah ich die Schuhe von Knecht Ruprecht, es waren rote halbe Stiefelchen, sie waren zierlich und klein. Knecht Ruprecht war überhaupt nicht groß und sah ich da nicht eine goldene Locke unter seiner schwarzen Mütze? Ich traute meinen Augen nicht, Knecht Ruprecht war eine Frau!

„Aber der Knecht Ruprecht ist doch eine“ - „Sei still!“ zischte meine Schwester und gab mir einen Knuff. „auaua“ - kam es nur noch leise von mir. Mit viel Pomp klappte der Nikolaus sein großes Buch auf und blätterte darin, daß es knisterte und raschelte. Ich wagte nicht, näher hinzusehen, denn das war alles vielleicht ein Trick. Außerdem können Frauen auch sicher gut mit der Rute umgehen, so dachte ich vor mich hin. „Was?“ fragte ich, denn der Nikolaus hatte wohl etwas gesagt und ich hatte nicht zugehört. „Ich sehe hier, daß Du nicht immer ohne Murren zu Bett gehst und mit dem Zähneputzen ist es auch ein Kreuz. Außerdem hörst Du oft nicht zu“ murmelte er in den weißsilbernen Wasserfallbart, aber so laut, daß wir es deutlich hören konnten. „Ansonsten warst Du wohl recht brav und deshalb bekommst Du nun etwas von mir“. Meine Erleichterung kannte keine Grenzen und ich trat ganz vor meine Schwester. Knecht Ruprechts blaue Augen blitzten freundlich zu mir herüber. Sah ich da nicht ein Lächeln? Er/sie wischte sich übers schwarze Gesicht. Das war nun dort, wo er/sie gewischt hatte, nicht mehr ganz so schwarz, aber ich wußte ja, warum.

Die Auflistung der Vergehen meiner Schwester war nicht so schnell zuende, wie die meine, aber endlich bekam auch sie ihr Geschenk. Ich hätte zu gerne gesehen, wie die nun deutlich erkennbare Nachbarstochter mit der Rute auf meiner Schwester herumpeitscht, aber den Gefallen tat sie mir nicht.

Der Nikolaus und die Nachbarstochter bekamen noch ein paar liebe Worte und gingen dann hinaus in den Winterabend. Der Schnee fiel stärker und nur ab und zu sah man den roten Lack von Knecht Ruprechts kleinen Stiefelchen im Laternenlicht aufblitzen, als sie beide knirschend durch den Abend fortgingen.

Beim Aufschreiben der Geschichte spürte ich den Geruch von frisch gefallenem Schnee und das Gefühl großer Geborgenheit. Erinnerungen an eine Zeit, als die Sorgen noch klein waren und das warten auf Weihnachten endlos schien. Christine Herrmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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