Carsten Maday

Tunnel


Mensch

 

Der Tunnel verschluckte die Bahn, der Tag verschwand. Nicht dass es schade darum gewesen wäre. Es war ein lausiger Tag gewesen, regnerisch, kalt und zu lang. Müde blickte ich in ein trauriges Gesicht, meines, im schmutzigen Glas der Bahn gespiegelt. Ich sah durch mein Spie
gelbild die dahin rasenden Wände des Tunnels.

Endlich durchschaute ich mich selbst. Ha. Ich grinste mich lahm an. Die Narben zogen eine Fratze. Der Tag war verloren. Ich war es auch. Ich wollte nur noch ins Bett und der Zug trug mich dorthin, doch ich war unzufrieden. Ich wollte nicht auf dem Heimweg sein, ich wollte bereits zu Hause sein. Alles Scheiße, dachte ich, als die Bahn sich der ersten unterirdischen Haltestelle näherte. Ich erkannte den heller werden Lichtschein außen. Wenn ich nur endlich da wäre, dachte ich. Und dann? Würde dann alle Last von mir fallen? Oder legte ich sie nur bei Seite, um stupide fernzusehen, um sie mir am nächsten Morgen erneut aufzubürden, ein wenig schwerer nun? Bremsen quietschten, die S-Bahn spie einige aus, schluckte andere. Die Türen schlossen sich, ein Mann setzte sich zu mir, schräg gegenüber. Ich nahm höflich meine Beine aus dem Weg, zog ein Gesicht, als ob mir die Geste mehr Leiden verursachte habe, als dem Sohn Gottes die Kreuzigung. Ich verwarf schnell den Gedanken eine eigene Passion über mein Leben zu schreiben. Die Menschheit konnte nur ein gewisses Maß an unverborgenem Schrecken verkraften. Wir fuhren.

Es hatte geregnet, heute, wie auch die gesamte Woche über. Regen, Regen und noch mehr Regen. Einmal auch Schnee. Es hatte die ganze Woche auf mich eingeregnet. Zuerst regnete es auf die Jacke. Man ignoriert es, bis man einen feuchten Fleck an der Schulter spürte. Die Jacke war durch. Man legte die Gummihaut an. Die war zwar wasserdicht, hatte aber zwei Nachteile: zum einen war sie unbequem, zum anderen sammelte sie das ganze Wasser vom Oberkörper, um es auf die Hose zu lenken. Flecken entstanden auf den Oberschenkeln, vergrößerten sich rasch, bereiteten sich aus, als habe man sich in die Hosen gepisst. Man hatte nicht, denn das wäre ja noch angenehm warm gewesen. Der Regen im März konnte kalt sein. Der Wind, der Regen, die Zeit. Endlich Feierabend und ich saß immer nur noch in dieser verdammten S-Bahn, die stoppte, fuhr, stoppte, während ich betete, dass meine Nerven immer eine Haltestelle weiter reichten. Sie taten es für gewöhnlich, aber heute war es knapp. Ich blickte mich um, starrte in die Scheibe, in der sich die anderen Menschen spiegelten. Ich hasste sie. Warum? Warum nicht, dachte ich. Dieser Grund ist genauso gut wie jeder andere. Sie waren da, sie waren Menschen. Das sollte doch ausreichen.

Die Bahn kreischte auf, als sie in eine scharfe Kurve bog. Soll sie nur entgleisen. Wir werden alle verrecken, und siehe, es ist gut und gerecht. Ich lauschte meinen Gedanken, nahm mich selbst nicht ernst, beschloss aber, dass ich eilends nach Hause gehörte. Die Bahn schrie sich durch die Kurve. Ich sah das Fenster eine Reihe vor mir. Es fuhr in die Halle, während ich noch im Tunnel steckte. Ein kurzer Augenblick, der mich in Verzweiflung stürzte. Das Fenster vor mir erhellte sich. Menschen waren darin. Das Fenster rauschte an ihnen vorbei. Ich konnte Gesichter erkennen, Menschen. Das war also mein Leben. Ich steckte in einem Tunnel fest und konnte das Leben nur durch ein Fenster betrachten, doch nie zu den Menschen im Licht gehören. Ich fuhr aus dem Tunnel heraus. Türen öffneten sich. Der Zauber war vorbei. Er musste es doch sein, denn die Menschen aus dem Licht kamen herein, zu mir, setzen sich und ich hasste sie. Wir fuhren wieder. Mein Hirn hämmerte gegen meinen Schädel, als versuchte es sich verzweifelt zu befreien. Ich sah im Fenster wie meine Stirn sich schmerzhaft in Falten legte. Menschen in meinem Spiegelbild. Es war leichter ihre Reflexionen zu beobachten. Ich wollte ihren Blicken nicht begegnen. Ich schämte mich. Ich wollte weg, nur weg. Ich wollte frei sein. Wollte aufstehen und ihnen ihre Erbärmlichkeit geifernd ins Gesicht brüllen. Ich lächelte mir beruhigend zu. Nein, dachte ich. Das wäre zu leicht für sie. Sollten sie doch in ihrer ekelhaften Unwissenheit verbleiben. Ich rümpfte die Nase. Leider über meine eigene Feigheit.

Ein Knie stieß mich an. Ich zog es weg, machte mich klein. Ich war sicher, denn weinen konnte ich nicht. Also, keine Furcht vorm Wahnsinn, den ich bemitleidete, weil er arm war und sich nur öffentliche Verkehrmittel leisten konnte. Zumindest ich traf ihn dort regelmäßig. Wieder eine Haltestelle. Eine Frau stand auf, ich rückte höflich zur Seite um ihr Platz zu schaffen. Sie bedankte sich. Ich lächelte schüchtern. Guter Mensch, guter Mensch, dachte ich, als wir bereits weiterfuhren. Ich blickte auf meine Finger. Unter den Nägeln war Erde. Es klopfte an der Scheibe. Ich erschrak. Ich schrie auf. „Wa...“, begann ich.

Ich errötete, als ich die Blicke der Passagiere auf mir spürte. Gegenüber klappte die Zeitung herunter. Ein verdutzter Mann starrte mich an. Ich setzte lahm mein bestes Hups-wie-dumm-von-mir-Grinsen auf. Als er sich davon überzeugt hatte, dass ich nicht zu retten war, klappt er die Zeitung wieder nach oben. Ich las. Von Kriegen und Tod, von Attentaten und von Veronika (19), die sich gerne von ihrem Freund massieren ließ. Netterweise war auch ein Photo von Veronika zu sehen. Sie lag am Strand, hatte erstaunlich große Brüste und schien auf ihren Freund zwecks besagter Massage zu warten.

Ich war seit vier Jahren Single. Deshalb möge mir verziehen sein, dass mein Blick etwas länger auf Veronika liegen blieb, als es die Geschehnisse verlangten. Ich schüttelte meinen Blick von Veronikas üppigen Rundungen los. Typisch, dachte ich noch, jede Frau ist bereits vergeben, als ich ES wieder am Fenster vorbei huschen sah.

 

>Ähm...< Ich blickte in mein Antlitz. Mein Zahnarzt hatte gute Arbeit geleistet, dachte ich verwirrt, als ich in meinen vor Staunen weit geöffneten Mund starrte. Ich wischte mir über die Augen, legte die Hände an die Scheibe, um meinen Blick vor dem Licht in der Bahn abzuschotten. Nichts. Dunkelheit und die grauen Schemen der dahinrasenden Tunnelwände.

Arme Veronika. Sie wurde wieder geknickt, als der Mann hinter der Zeitung mich erneut ansah. Er schien darauf zu warten, dass ich irgendetwas seltsames von mir geben oder mich von Krämpfen geschüttelt auf den Boden werfen würde, um seine teueren, schwarzen Lederschuhe mit meinem irren Geifer zu besudeln. Ich entschied mich für erstere Alternative.

>Äh<, sagte ich. >Haben sie das auch gesehen?< Er gab die vorgeschriebene Antwort.

>Was soll ich gesehen haben?<

>Das da draußen.< Ich deutete in die Dunkelheit.

>Wo? Da draußen?<

An dieser Stelle hätte jeder normale Mensch diesen Dialog beendet, doch irgendetwas zwang mich dazu, ihn weiter zu führen. >Ja, genau. Da draußen.< Ich blickte Richtung Fenster, damit auch nicht der geringste Zweifel entstehen konnte.

>Da draußen? Was soll denn da draußen gewesen sein?<, fragte er laut genug, damit auch die Leute zwei Reihen weiter alles mitbekamen.

>Also, ähm< Ja, was? Was hatte ich gesehen. >Ähm, dieses Ding...<

>Ding?<, fragte eine Frau, die neben uns vor der Tür stand, die Hände an den Griff eines dieser monströsen Kinderwagen gelegt. Kutchikutchiku.

>Ja, so ein ETWAS. Ähm...es flog, glaube ich...< Ich lächelte entschuldigend über meine eigene Idiotie. Man verstand nun endlich, was ich sagen wollte. Anscheinend zumindest, denn man nickte nun im gesamten Abteil, blickte sich verständnisvoll an.

>Ach so<, sagte der Mann. >Es flog also. Na dann ist ja alles klar.<

Ich war etwas enttäuscht von dem Niveau seines Sarkasmus. Ich wollte mich ins Land des Schweigens zurückziehen oder vielleicht zu einer demütigenden Gegenrede anheben. Stattdessen hörte ich mich zu meinem Entsetzen fragen:

>Dann haben sie also nicht so eine kleine Gestalt vor dem Fenster fliegen sehen?<

Ich spaltete die Menschen in dem Wagon in drei Lager. Die einen lachten über mich. Die anderen, darunter auch der Mann, den ich mittlerweile hasste wie nur einen unter den Menschen, schenkten mir böse Blicke und murmelten, welche Unverschämtheit von mir, ehrbare Leute zu verarschen. Die letzte Gruppe staunte, schüttelte die Häupter, als wisse sie nicht, ob sie mich bemitleiden oder fürchten sollte...

>Leckt mich doch alle...<, dachte ich, schwieg aber feige, was mich noch mehr deprimierte. War ich wahnsinnig geworden? Die S-Bahn hielt. Zeugen meines Wahns stiegen aus, Unwissende stiegen ein.

Ich hatte ES doch gesehen. Sah aus wie... Ich blickte durch mein Gesicht auf die kleine Frau auf der anderen Seite der Glasscheibe.

 

Ich war Student. Ich arbeitete dennoch. Auf einem Friedhof. Ausschachten, umbetten, Grabpflege und der ganze Hokuspokus. Heute morgen hatten wir eine Bestattung. Brandbestattung. War jetzt schwer im Kommen und wir freuten uns, weil das Loch für die Urne nicht so breit und tief sein muss. Es hatte die Nacht über stark geregnet. Das Wasser stand bis zum Rand in der Grube. Es regnete und regnete, da half kein Abschöpfen. Das Wasser sickerte von unten nach. Leichenwasser von den anderen Gräbern. Ich stand in der Suppe und reichte Heinz einen Eimer nach dem anderen. Es half nichts. Der Trauerzug rückte heran. Ich schaffte es mit Mühe aus dem Loch, sah das Wasser nachlaufen. Heinz und ich schlugen uns diskret in die Büsche und besahen uns die Sache. Schwarze Gestalten unter einem Wald von Schirmen. Links neben dem Loch der Auswurf. Wir hatten Bahnen von grünem Kunstrasen darüber geworfen, damit der Schlamm die Trauernden nicht daran erinnerte, was der Tod war. Ein alter Friedhof. Eng. Mit Seitenwegen. Die Angehörigen drückten sich neben den Priester in einen solchen. Der Priester sprach, ich blickte aufs Gras. Maulwurfshügel. Verdammt! Regenwürmer, vom Regen nach oben gezwungen. Das Leben des Bodens würde den Toten zersetzen. Im günstigsten Fall. Im südlichem Teil des Friedhofs war schwerer Boden. Dort stand fast immer Wasser und die Toten zerfielen nicht. Das war keine schöne Arbeit die Alten umzubetten.

Ein Männerchor stimmte eine traurige Weise an. Da blieb kein Auge trocken. Der Priester redete wieder, so lange, bis das Grab wieder halb voll war mit Wasser. Da gab es nun eine Seebestattung. Nicht schlecht. Ganz ohne Aufpreis. Erde platschte ins Wasser, der Priester war fort, die Trauergäste strömten in den Seitenweg, gaben ihre Beileidsbekundungen ab. Der Seitenweg war eine Sackgasse. Nur Gräber drum herum. Die fertig kondoliert hatten waren gefangen, der Weg nach hinten versperrt von Nachfolgenden, die den Angehörigen die nassen Hände schüttelten. Schupsen, schwarze Schuhe stolperten in Gräber, es staute sich immer mehr. Da kürzte man ab, mitten durch ein Grab. Den Bewohner kannte man ja nicht. Dem schuldete man nichts. Ab durch die Mitte. Einer nach dem anderen trampelte durch den Matsch. Heinz und ich brauchten noch eine Stunde im Regen, um den Flurschaden zu bereinigen. Die Bewohnerin hieß Irmgard und lebte siebenundsechzig Jahre lang.

 

Das war mein Tag gewesen. Nun sah ich durch die Scheibe der S-Bahn in das breite Grinsen einer Fee. Sie trug einen Blaumann. Kleine Flügel auf dem Rücken, die wild schlugen. Schwarzes Kopftuch unter dem sich hier und da eine blonde Strähne zeigte. Schmiere im Gesicht. Sie lächelte, hob ihren Zauberstab samt Stern an der Spitze zum Gruß, setzte sich eine Schweißerbrille auf und flog Richtung Tür. Funken stoben ins Innere, als die kleine Fee sich den Weg hinein schweißte. Mittlerweile saß ich allein in der übervollen S-Bahn. Aufgerissener Mund, entsetze Augen, die ungläubig starrten, gelegentliches Argh-Stöhnen verscheuchen selbst den fußmüdesten Passagier. Ein kreisrundes Stück fiel aus der Tür herab, auf einen Fuß, kam rauchend und scheppernd auf dem Boden zum liegen. Die Fee flog durch den Rauch herein, wich einigen Köpfen aus, kam auf mich zu. Keiner nahm von ihr Notiz. Nur ich sehe sie, dachte ich. Sie landete mir gegenüber auf dem dunkelgrünen Plastikbezug des Sitzes. Sie schob ihre Brille nach oben und blies neckisch den Rauch von ihrem Zauberstab. >Hallo.<, sagte sie mit würdevoller Stimme. Ich wollte schreien, kam aber nicht dazu: Schweißen ist eine anstrengende Arbeit. Da kommt man gut ins Schwitzen. So auch die Fee. Zur Kühlung zog sie den Reißverschluss ihres Overalls ein wenig nach unten. Der Ausschnitt verlieh mir einen tiefen Einblick, tief genug um mein Entsetzen in frohe Erwartung zu wandeln. Ich war ja, wie gesagt, seit vier Jahren Single.

 

Ich habe einmal in einer WG gelebt. Mit einem Mann und einer Frau. Studenten. Wir lebten auf pseudo-freundschaftlicher Basis zusammen. Jeder ging seinen Weg. Meiner führte ins Nirgendwo und steil bergab. War immer ein Verfechter der Nassrasur gewesen. Eines Abends griff ich mir eine Klinge, ließ kaltes Wasser über ein Handgelenk laufen. Ich steckte mir eine letzte Kippe an (Im Bad war strengstes Rauchverbot, aber ich spekulierte natürlich mit der Milde gegenüber Toten). Ich schnitt. Es schmerzte, aber nicht stark. Glatt durch. Es spritzte heraus. Dachte noch, hätte besser den Arm im Wasser gelassen, einfach sauberer. Jeder Herzschlag pumpte es aus mir. Ich bin leer. Ausgepumpt. Ich sackte zusammen. Während ich fiel, suchte ich nach dem Grund. Ich sah ihn nicht mehr. Ich wollte nicht sterben. Ich schrie. Meine Mitbewohner stürmten ins Bad. Er kippte um, Sie presste mit ihren Händen meinen Arm ab, rettete mir das Leben. Als ich entlassen wurde, suchte ich mir eine neue Wohnung. Ich schämte mich und so ein paar Liter Blut waren auch einfach schlecht für ein harmonisches Zusammenleben.
>Warum?<, hatte sie während der Fahrt in die Klinik gefragt. >Warum?<, fragten auch die Ärzte. Selbstmord. Wie kann man nur. Gegen die Natur, den Selbsterhaltungstrieb. Aber rühmen wir Menschen uns denn nicht, mehr zu sein als triebhafte Wesen? Damals, als ich die Kraft aufbrachte, mir die Klinge tief durchs Fleisch zu ziehen, überwandt ich zum ersten Mal mich selbst. Das zweite Mal war in der S-Bahn. Die Räder quietschen, die Türen flogen auf. Ich riss meinen Blick von dem Ausschnitt der Fee los, sprang auf, sah noch einmal hin, hastete zu Tür. Hinaus. Die Treppe. Drei, vier Stufen auf einmal. Weg. Nur weg. Ich sah mich nicht um, rannte nur. Hinaus aus der Erde ans Licht. Das war allerdings recht trübe, denn es regnete wieder. Verdammt. Ich rannte durch den Regen davon.

 

Allzu weit rannte ich nicht. Es war gegen 18 Uhr. Eine schlechte Zeit, um wie von Furien gehetzt durch die Innenstadt zu rasen, auch wenn es recht leer war, da es mittlerweile in Strömen regnete. Nass und vor mich hin triefend saß ich ein einem Cafe. Ich wartete auf die Bedienung. Vor mir Zigaretten. Ich hatte vor Zeiten damit aufgehört. Nun riss ich die Folie auf, fingerte nervös nach den Kippen, brach ein ab. Die zweite lag zitternd zwischen meinen Lippen. Erst das fünfte Streichholz wollte meinem Dasein als Nichtraucher ein Ende bereiten. Die ersten beiden hatte ich abgebrochen. Die anderen brannten zwar, aber das Wasser, das von meiner Nase troff, hatte sie gelöscht. Mein Kreislauf regte sich. Ich zitterte immer stärker, als ich genüsslich den Rauch einsog. Mir wurde schlecht, mein Blut schien sich in eine zähe Masse zu verwandeln. Etwas hämmerte von innen gegen meine Hirnschale. Ich blickte auf die Zigarette, seufzte genüsslich. Die Bedienung kam, musterte mich vollgesogenen Schwamm. Ich bestellte einen Kaffee. Schlaf würde ich heute eh nicht finden.

Die Fee. Ich schauderte, blickte schuldbewusst die Kippe an. Halluzinogene Stoffe? Ein Komplott der Tabakindustrie, um mich wieder zum Sklaven ihres Produktes zumachen? Sollte nach Jahren der Abstinenz eine traumatische Halluzination den vermeintlichen Nichtraucher derart in den Grundfesten seiner geistigen Wahrnehmung erschüttern, dass er dem stets latent vorhandenen Drang nachgab und sich in die kaum zu verleugnende Wirklichkeit einer Zigarette zwischen den Fingern flüchtete?

Möglich, aber unwahrscheinlich. Ich rauchte weiter. Die Fee. Ihr Anblick hatte irgendetwas in mir berührt. Gut, meine Libido, aber da war noch etwas anderes.
Sie schien mir nicht unwirklich zu sein, eher vertraut, wie eine Bekannte aus tiefer Vergangenheit, eine Bewohnerin jener dumpfen Halbwelt, in die Schlaflosigkeit und Schwermut einluden, die einen immer ein wenig von den anderen trennten.

Ich schüttelte den Gedanken aus meinem Kopf. Das Cafe war halb voll. Ich kannte niemanden. Eine Frau am Tisch gegenüber. Allein wie ich, dachte ich und schaute weg. Mein Gesicht glühte, ich blickte verschämt in die Karte. Wo blieb nur die Bedienung. Zweite Zigarette. Wer lange allein gewesen war, würde allein bleiben, denn er sehnte sich so stark nach jemandem, dass er fürchtete, jeden zu nehmen. Besser allein.

Das Bild der Fee schob ich in meine Gedanken. Ich schüttelte den Kopf. Was für eine Art von Fee sollte das denn gewesen sein? Blaumann, Schweißerbrille, Kopftuch, Schmiere. Warum konnte ich denn nicht wahnsinnig werden wie andere Menschen auch? Fee, nettes Kleid, blondes Haar, Locken, ein Diadem.

Die Bedienung kam, stellte einen Kaffee und einen Whiskey vor mich.

>Ich hab keinen Whiskey bestellt...<, begann ich, verschluckte mich aber am Rauch der Zigarette, als eine Stimme über mir sagte:

>Schon in Ordnung, ist für mich.< Die Fee schenkte mir ein zuckersüßes Grinsen und landete neben dem Whiskey auf dem Tisch. Sie verbeugte sich keck, lehnte sich dann lässig ans Whiskeyglas und schenkte mir ein Zucken ihrer Augenbrauen. Ich sah verträumt nach draußen. Es regnete. Es war kalt. Wahrscheinlich hatte die Fee deshalb ihren Ausschnitt geschlossen. Verdammt.

 

Mein Mund war aufgeklappt und die Zigarette fiel von den Lippen auf meine Hand. Autsch. Der Schmerz brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Die Wirklichkeit beinhaltete immer noch die Fee.

>Hallo!<, sagte sie erneut und streckte ihre Hand aus.

>Ähm<, sagte ich, >gehe ich recht in der Annahme, dass es sinnlos ist wegzulaufen, weil du mich sowieso einholen würdest?<

Sie nickte nur.

>Gut<, sagte ich, streckte ihr erst meine Hand, dann denn kleinen Finger entgegen. Sie schüttelte ihn. Sie ist stark, dachte ich.

>Kommt von der Arbeit<, meinte sie.

>Ziemlich anstrengend der Fee-Job, was?<, spekulierte ich.

>Schon, aber nichts im Vergleich mit ´ner Doppelschicht auf der Werft<, meinte sie und tippte sich mit der freien Hand gegen ihre Schweißerbrille.

>Auf der Werft? He... Aua...< Ich hatte selbst einige Schwielen von der Friedhofsarbeit, aber mein Händedruck war nichts gegen den ihren. Ihre kleine Hand (die Fingernägel waren passend zur Schmiere schwarz lackiert) verwandelte sich in eine Schraubklemme. Sie drehte die Innenseite meines Armes nach oben. Gegen meinen Widerstand! Als sie meine Narbe sah, erschlaffte ich.

>Bist Du deshalb gekommen?<, fragte ich sie. Von irgendwo strömte Leben in meine Augen. Wasser sammelte sich darin. Doch weinen konnte ich nie. Die Furche hatte so manchen mitleidigen Blick auf sich gezogen, aber diese seltsame Frau besah sich die Narbe mit eher professionellem Interesse, so als wüsste sie einen sauberen Schnitt durchaus zu schätzen. So wie eine Schweißnaht.

Sie gab meinen Finger frei. >Vielleicht<, sagte die Fee. War das eine Antwort?

Sie sah ernst zu mir auf:

>Vielleicht bin ich auch wegen deines zweiten Selbstm...ähm tötungsversuches hier!<

Ich war entsetzt. Zum einen, weil sie mich zu kennen schien. Ich hatte mir einige hitzige und, wie man mir vorwarf, kontraproduktive Gefechte mit den hilfreichen Psychotherapeuten der geschlossenen Abteilung der Uni-Klinik geliefert. Warum ich denn Selbstmord begehen wollte?, fragten sie mich. Abgesehen davon, dass ich derart persönliche Fragen aus Prinzip nicht duldete, weigerte ich mich, das Wort „Selbstmord“ zu verwenden. Ein durch Jahrhunderte lange kulturelle Engstirnigkeit diffamiertes Wort. Allein der Tatbestand des „Mordes“ impliziert eine Unrechtmäßigkeit, nichts so sehr wohl gegen sich selbst, als vielmehr gegen die Kulturgemeinschaft. Ich war doch kein Verbrecher.

Das andere war, dass ich meines Wissens nur einen Selbstmord, verdammt, Selbsttötungsversuch, unternommen hatte. Ich verlieh meinem Unwissen Ausdruck:

>Äh, zweiter Selbstmord (es gibt nichts quälenderes als die eigenen Prinzipien), SELBSTTÖTUNGSVERSUCH? Weiß jetzt nicht ganz genau, was du meinst, ähm, wäre mir doch irgendwie aufgefallen, wenn ich tot wäre. Na ja, hoffe ich doch zumindest!<

Unter ihren ernsten Augen zeigte die Fee mir ein Grinsen. Mit einem schwarzen Fingernagel tippte sie auf ihre weißen Zähne.

Ich lachte. Ich verstand.

>Ach so, DEN Selbstmordtötungsversuch meinst du! Na klar, hätte ich beinahe vergessen<, log ich kühn.

 

Man hatte mich aus der Klapse, Entschuldigung, geschlossenen Abteilung entlassen. Nicht dass man es auf Grund meiner „völligen Uneinsichtigkeit“ gerne getan hatte, aber was sollten sie machen. Ich wollte raus, versprach auch meine Krankenkasse zu schröpfen, mich in eine Therapie zu begeben und fleißig nach einer positiven Einstellung zum Leben zu suchen. Nach einer reichlich kurzen Suche fand ich ein augenscheinliches „Ja“ zum Leben. Party, Alkohol und Hasch! Wohnte nun allein und ging auch allein auf Partys. Das war ´ne schöne Zeit, glaubte ich. Ich lernte viele Leute kennen und vergaß noch mehr.
Es war am Silvester Abend. Ich war so breit, dass ich noch nicht einmal mehr trinken konnte. Enge. Panik vor den vielen Fremden hatte mich ergriffen, doch es war die EINE, die ich kannte, die mich vertrieb: Meine Mitbewohnerin, meine Retterin. Nun, sie war es wohl nicht, die mich vertrieb, es war meine Scham. Ich entfloh und ahnte doch, dass sie mich gesehen. Meine Tat, all das Blut und endlich meine Verzweiflung holten mich ein. Und schlimmer noch, ich war betäubt am Leib vom Gras, doch in meinem Innern tobte der Drogenorkan den wahnsinnigen Tanz der Selbstzerfleischung. Ich hastete, vielmehr schlich betäubt durch die Strassen. Nur heim, heim, heim. Meine Wohnung. Einsamkeit. Ich schalt mich einen Narren, je hinaus gegangen zu sein, je nach Menschen gesucht zu haben, je dem Orkan die Möglichkeit zum toben geschenkt zu haben.

Derweil ich unbewegt durch die kalten, schneeweißen Strassen schlurfte, schrie ich in meinem Hirn nach Ruhe. Wollte Frieden, keine Gedanken mehr. Ewige Stille.

Ich nahm kaum noch die Kälte wahr, kaum die Strassen der Stadt, kaum die Zwei, die mir entgegen kamen, die mir einfallslos eine Schulter entgegenhielten, mich auflaufen ließen und mit dem erbärmlichen Ritual betrunkener, frustrierter Männer begannen:

>He, kannst Du nicht aufpassen!<

„Arschloch“ war sowohl die durch ewige Rollenverteilung vorgeschriebene, als auch dümmste Antwort.

Tausend Dinge schossen durch meinen Kopf, als einer der Männer streitlüstern fragte, was ich da doch gleich gesagt habe. Ach, ich gefiel mir doch sehr in meiner Rolle als lebender Toter. Und mich einmal bereits so feige ans Leben geklammert zu haben, beschämte mich sehr. Es galt wohl, mir selbst die eigene Gleichgültigkeit zu beweisen.

Ich war stehen geblieben, hatte mich zu den Männern gedreht, trug meine grimmige, dreiste, Schlag-mich-Maske und wiederholte meine Antwort. Konnte ich die beiden erkennen? Wer weiß, vielleicht als ich ihnen damals gegenüberstand. Danach fehlen in meinen Kopf viele Dinge, auch ihre Gesichter. Aber sie waren fein gekleidet und mein Hirn verdächtigt sie noch heute als gesetzestreue Bänker, die abgesehen von gelegentlichen Unterschlagungen, nur im angetrunkenen Zustand körperlichen Zwist suchten.

>Penner! Los, gibt uns dein Geld!<

Das war neu, dachte ich, hatte ich doch nun das rituelle Schupsen des Gegners erwartet.

>Los!<, sagte der eine und schupste mich. Na also!

Denke nicht, dass sie wirklich mein Geld wollten. War nur die ultimative Provokation. Das war reichlich originell, denn nun hatten sie mich zum Handeln gezwungen. Geld geben, was nicht sehr viel war, und damit vor ihrer zwiefachen Mannhaftigkeit zu kapitulieren, oder durch einen abschlägigen Bescheid die Handgreiflichkeiten auszulösen. Da ich mich ihnen zumindest auf dem Gebiete der Originalität nicht geschlagen geben wollte, übersprang ich die „Fick-Dich-Antwort“ und spuckte dem einen ins Gesicht. Folgendes überraschte mich dann doch. Der, der die Gewalt nicht kennt, hat keine Vorstellung ihrer Zügellosigkeit, ihrer Maßlosigkeit, ihrer Sinnlosigkeit, wer weiß, ihrer Lust. Außerdem hatte ich nicht das Wetter bedacht.
Ach, wäre es doch ein lauer Sommerstag gewesen. Dann hätte man sich vielleicht nicht friedlich getrennt, aber nur mit den Fäusten geschlagen, weil man Sandalen oder leichte Stoffschuhe trug. Aber nein, es war Winter und sie trugen ob der Kälte schwere Stiefel.

Ein Hieb ins Gesicht. Ich taumelte an eine Wand. In zweiter. Ich sackte zusammen. Dann traten sie mich. Nicht meinen Magen, nicht den Rücken. Ins Gesicht. Kaum ein Schmerz in meinem Körper dank der warmen Drogen, hier und da ein mittelstarker Stich, als ihre Stiefel meine Lippe zerfetzten und meine Zähne zerbrachen. Vorn und an der einen Seite meines Gesichts. Die andere war von dem Fußweg gedeckt und scharte sich nun durch den Schnee auf den Asphalt. Der riss nur wenig von der Haut weg, als ihre Tritte meinen Kopf zurückwarfen.

Alles gar nicht so schlimm, also. Als man später all die lose Haut und Blut fortwusch, zeigte sich schnell, dass man mein Auge noch retten konnte. Nein, was ich den beiden wirklich verüble, war nicht, dass sie so brutal in mein Leben getreten sind, oder, hahaha, so brutal mein Leben eintraten, sondern dass sie endlich von mir abließen und fortgingen. Ich blieb bewusstlos im Schnee liegen und wäre erfroren, wenn nicht die Zeit sich meiner erbarmt und selbst in meine verlassene Straße fröhliche Menschen zum Jahrewechsel um 12 Uhr herausgelockt hätte. So kann man sagen, dass ich einen sowohl schlechten als auch guten Start ins Neue Jahr hatte.

 

Ich zuckte mit den Schultern und lächelte ein restauriertes Grinsen, dass meinen Zahnarzt reich gemacht hatte.

>Ich denke<, sagte ich zur Fee, >dass man das durchaus als Selbstherrgottnochmaltötungsversuch ansehen kann.<

 

Ich sah die Schmiere auf ihren Wagen. Eine angenehme Wärme zog durch meinen nassen Leib. Ab und an befiel auch mich die Sehnsucht. Dann lag ich an kalten Tagen starr im Bett und derweil aus dem Fernseher Bilder meine Gedanken dämpften, träumte ich von der Liebe und spürte diese Wärme. Und da meine Heizung nur mangelhaft arbeitete, war mir selbst diese Art von Wärme willkommen, mochte sie auch flüchtig und deprimierend sein, wenn man sie mit niemandem teilen konnte.

>Du bist ein seltsamer Mensch.<, sagte die Fee.

>Ich denke, ich darf das als Kompliment auffassen?<, hoffte ich.

Wieder ihr keckes Zucken der Brauen. Sie hob ihren Zauberstab, schraubte den Stern von der Spitze ab, tauchte den Stab in den Whiskey und saugte einen guten Schluck in sich hinein.

Sie gab einen genüsslichen Rülpser von sich, als sie sich gestärkt zu mir wandte.

>Ich heiße übrigens Fee<, meinte die Fee.

>Erstaunlich.<, sagte ich. >Meinen Namen kennst du ja, oder?<

>Ich weiß, wer Du bist.<, antwortete sie mir. Sie lächelte mir zu. Es ging mir unter die Haut. Wer weiß, vielleicht auch bis ins Herz.

 

Ich hatte mir eine weitere Zigarette entzündet, umklammerte gierig die Wärme der Kaffeetasse, als ich der Fee lauschte.

>Ist Alles keine große Sache<, führte Fee aus. Zu meinem Entzücken hatte der Whiskey neben einer gewissen Redseligkeit auch ein Wärmegefühl bei Fee bewirkt. Der Blaumann klaffte etwas auf und ich argwöhnte stark, dass sie nichts darunter trug. Ich mochte vielleicht ein seltsamer Mensch sein, aber eine gewöhnliche Fee war SIE jedenfalls auch nicht.

>Wenn ich irgendwo auf der Welt einen besonderen Menschen finde, der eine gute Tat getan hat, dann gewähre ich ihm einen Wunsch. So einfach geht das.< Sie schraubte den Stern auf dem Stab fest, schwang in zur Probe. Er zog eine Bahn von feinen Sternenstaub hinter sich her.

>Also<, fragte sie mit wunschbereitem Zauberstab. >Wie lautet dein Wunsch?<

Ein Wunsch! Langsam drangen ihre Worte in mein pochendes Hirn.

>Ähm...<, sagte ich. Das gewann leider nicht genug Zeit. Was hatte Sie gesagt? Sie erfüllt einem besonderen Menschen, der eine gute Tat getan hat, einen Wunsch?

>Oh<, strahlte ich sie an. >Dann bin ich also etwa besonderes?<

Das war etwas, von dem ich selbst einigermaßen überzeugt war. Nun, wer glaubt auch nicht, dass er etwas besonderes ist? Und wer hört dies nicht gerne aus dem Munde einer schönen Frau? Gut, sie war nur vierzehn Zentimeter groß und hatte Flügel. Aber wir hatten ja alle so unsere Macken und ich war, wie bereits gesagt, seit vier Jahren Single. Da freute man sich über jedes Kompliment.

Sie ließ den Stab sinken, sah mich durchdringend an und ließ ein spöttisches Lächeln erscheinen, das ich mir oft ersehnt hatte: wenn der Schlaf mich floh und meine Träume in die Wirklichkeit ausbrachen. Unter all den Alpträumen gab es nur diesen einen, der zwar nicht den letzten Funken Hoffnung am brennen hielt, aber zumindest vorgab irgendwo noch ein Streichholz zu haben, mit dem man im gegebenen Fall sicherlich ein hell erstrahlendes Feuer entfachen konnte, wenn es einmal soweit war. Ich träumte, dass jemand mir eines Tages ein spöttisches Lächeln schenken würde, wie es die Fee tat. Ein Lächeln, das in meiner Seele sah, was mir verborgen war, was ich verborgen hatte, was mir Angst machte.

>Nun<, sagte das spöttische Lächeln, >vielleicht nicht unbedingt besonders, aber zumindest seltsam.<

Oh, das hatte ich mir natürlich nicht träumen lassen. Aber sie hatte vermutlich recht, denn seltsamerweise fühlte ich mich geschmeichelt von ihren Worten.

>Gut. Seltsam. Klar. Bin der erste, der es zugibt, wenn er gefragt wird. So weit klar. Aber die gute Tat? Was genau war das noch mal gewesen, ähm?<

Sie tippte sich mit dem Zauberstab gegen die Stirn. >Ich gebe Dir einen Tipp.< Sie winkte mich zu sich heran und legte theatralisch einen Finger an die Lippen, die übrigens immer noch spöttelten.

Ich beugte mich zu ihr herab, sah kurz die staunenden Gesichter der anderen Gäste.

>Können die uns eigentlich hören?<, flüsterte ich.

>Nein!<, antwortete sie leise.

>Gut! Ich hatte mir bereits Sorgen gemacht, man könnte mich jeden Augenblick in einer Zwangsjacke herausschleifen, aber...<

>Sie können nur Dich sehen und hören, nicht mich.< Das Lächeln war zu einem Grinsen übergegangen. >Kein Grund zur Sorge, also.<

>Oh!<

Ich wandte denn Kopf zu den Gästen Einige lächelten nervös.

>Dann halten sie ich also nur für einen Spinner, der Selbstgespräche führt?<

>Ja!<

>Oh! Gut. Ja. Also, was für ein Tipp?<

Sie blickte sich verschwörerisch um und flüsterte mir ins Ohr:

>Es war etwas, was du getan hast, als zu Schüler warst.<

Ich ließ mich zurücksinken, fingerte nach einer Zigarette und riss ein Streichholz an. Es brach ab. Soviel zum Thema, die Hoffnung ist ein Streichholz. Reichlich zerbrechlich.

>Nun<, meinte ich. >Meine Schülerkarriere war wider Erwarten nicht länger und nicht kürzer als dreizehn Jahre. Ein langer Zeitraum. Könntest Du es vielleicht etwas mehr einschränken, bitte?<

>Gut. Es war vor zwölf Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen. Es war ein Montag. 15 Uhr 13.<

>Was?< fragte ich ungläubig. >Du meinst doch nicht etwa die Oma, oder?<

 

Sie meinte sie. Ich hatte am Nachmittag Sport gehabt und wartet gerade auf den Linienbus, der mich zurück in meinen Heimatort bringen sollte. Da musste man lange warten, denn diese Gegend zeichnete sich eher durch ländlichen Charme als durch gute Verkehrsverbindungen aus. Hinter mir lag eine steile Treppe, an deren Fuß ein Weg hinab in den niedergelegenen Teil des Ortes führte. Eine mühsame aber schnelle Abkürzung, wenn man nicht der sich endlos windenden Hauptstraße nach unten folgen wollte. Ich wartete und langweilte mich. Ich hörte schlurfende Schritte hinter mir. Eine alte Frau mit einer Tasche. Die hatte sich den Weg hochgequält und stand nun am Rande der Treppe. Bestimmt fünf steile Meter. Der Knackpunkt also. Ich starrte auf sie hinab. Sie blickte nicht auf, sah mich nicht an, bat mich nicht um Hilfe.

Was tun? War die Tasche schwer? Die erste Stufe, die erste von vielen. Schnell hinunter gesprungen, die Tasche nehmen und der Alten unter die Arme greifen?

Aber, dachte ich, als sie die ersten Stufen schon hinter sich gebracht hatte, wie würde sie reagieren? Würde sie es denn wollen, dass ein junger Mann ihr hilft? Würde ich ihr nicht die Rolle der gebrechlichen, alten Frau aufzwingen, die unser Hilfe bedarf? Vielleicht war sie ja sehr stolz darauf, dass sie noch mit hundertdrei Jahren zwanzig Kilo schwere Einkäufe schleppen konnte. Und nun, nun sollte ich ihr die Last abnehmen, die sie seit Menschengedenken schon diese Treppe hinauf getragen hatte. Würde die Erkenntnis, dass das Alter ihren Körper zu sehr geschwächt hatte, nicht schwerer wiegen als die Tasche? Würde ich in ihren Sinnen nicht den nahenden Tod heraufbeschwören? Würde sie nicht über denn Widerspruch von WOLLEN und KÖNNEN verzweifeln? Sie hatte mühsam die Hälfte hinter sich gebracht. Verdammt! Andererseits sieht diese Tasche höllisch schwer aus. Ich helfe ihr! Oder lieber doch nicht, oder ja, nein, ja, nein. Egal sie war ja bereits oben und schnaufte ermattet, schenkte mir keinen Blick und ging auf dem Fußweg davon. Bergauf, natürlich. Als ich daran zurückdachte, fragte ich mich, was seltsamer war: dass ich für diese Tat einen Wunsch erhalten sollte, oder dass ich mich überhaupt daran erinnerte, schlimmer noch, dass ich mich gelegentlich von selbst daran erinnerte?

 

>Dafür willst du mir einen Wunsch erfüllen? Dafür?<, fragte ich sie ungläubig.

Sie zuckte fast verlegen mit den Schultern: >Na ja, die Zeiten sind halt schlecht. Da findet man keine guten Menschen mehr. Deshalb verdiene ich mir ja auch auf der Werft noch was dazu.<

Die Zeiten mussten wirklich mies sein, wenn man eher auf einer Werft ein Job fand, als einen guten Menschen.

>Gut! Okay! Ähm, Werft...? Gut, lassen wir das. Ich meine, na ja, ich habe schon einigen Omis wirklich geholfen. Und auf eine ganze Menge Kinderwagen in Züge gewuchtet. Warum also die Oma?<

>Was glauben Sie denn?<, hätte mein Psychoanalytiker nun gefragt. Das hatte mich immer maßlos aufgeregt, denn meine Krankenkasse forderte keinen kleinen Selbstkostenbeitrag von mir. Und von den hundert Euro, die der Therapeut pro Sitzung bekam, verlangte ich schon einwenig mehr als alberne pädagogische Spielchen. Wenn ich meinem Unmut Ausdruck verschaffte, fand mein Therapeut das immer sehr aufschlussreich und bezeichnend. Er machte dann einen bedeutungsschwangeren Eintrag in sein Notizbuch. Wahrscheinlich seine Einkaufsliste.

Meine Fee war da von einer erfrischenderen Art.

>Den anderen hast du geholfen und damit hat es sich gehabt. Über die Oma hast du noch lange nachgedacht, tust es noch immer, mal mit Zweifel, mal mit schlechtem Gewissen, mal mit Verwunderung. Aber gedacht hast du an Sie. Das ist mehr, als so manch ein anderer für diese Frau getan hat. Und wenn dich diese Erklärung nicht zufrieden stellt... Bitte, du musst dir ja nicht unbedingt etwas wünschen.<

Sie warf ihre Flügel an, stieg einige Zentimeter auf und tat so, als wollte sie verschwinden.

>Nein, nein. So war das nicht gemeint.<, sagte ich brav. Sie landete.

>Gut, also einen Wunsch. He, warum nur einen? Ich dachte immer, es wären drei und....<

Ich las ihren Gesichtsausdruck. Er ähnelte vermutlich dem meinen, wenn man mir mit dem Ausdruck Selbstmord kam.

>Typisch Mensch!<, seufzt sie. >Ihr saugt euere Vorstellungen aus obskuren Quellen auf und bildet Euch dann ein, die Welt sei so, wie ihr sie Euch vorstellt. Aber ich habe eine Nachricht für dich: Hey, so läuft die Sache nicht! Und...<, sie reckte mir drohend einen Finger entgegen, >Ich bin nicht aus irgendeinem tschechischen Märchenfilm entsprungen, den du als Kind gesehen hast. Ein Wunsch. Mehr gibt es nicht.< Ihr Busen wogte ob ihrer Empörung. Das versuchte mich einen Augenblick, sie noch mehr zu verärgern, aber sie schwang mahnend den Zauberstab.

>Dein Wunsch!<, befahl sie und ich hätte schwören können, dass sich bereits ein kleines Lächeln in ihr hartes Antlitz geschlichen hatte.

Ich musste mich entscheiden zwischen zwei Wünschen, die ich hatte. Ja, nur zwei, denn ich war nicht völlig unvorbereitet. Ich schlief nicht. Das schlimmste daran war nicht, dass ich keinen erquicklichen REM-Schlaf bekam. Es war, dass ich nicht aufhören konnte zu denken. Nicht eine Minute. Immerzu. Man durfte sich nie von sich selbst erholen. Da denkt man an vieles, auch an das, was man sich am meisten wünscht. An das Endergebnis dieses Gedanken hatte mich die Fee erinnert. Ich sah die Fee an. Ihr Blick war schneidend. Nicht kalt. Er schnitt nur alle Deckung von mir und offenbarte ihr meine Seele. Ich senkte den Blick. Die Entscheidung war gefallen. Für den ersten Wunsch fehlte der Mut. Dann sollte es also die Wahrheit sein.

Ich nahm ein neues Streichholz, setzte mich aufrecht hin und schaute der Fee kühn ins Auge.

>Ich wünsche mir<, sagte ich laut. Ich legte das Streichholz an die Reibefläche.

>Ich wünsche mir...<, sagte ich und kramte in meinem Innern die letzten Reste Mut zusammen.
>Ich wünsche...< Ich sah die erwartungsvollen Augen der Fee, ihren Arm, den Stab, der zitterte, begierig nach Erfüllung.

Ein Flegel von nebenan rief:

>Nun mach schon, damit wir endlich in Ruhe unseren Kaffee trinken können!<

Ich ignorierte ihn.

>Ich will GOTT sein für eine Woche!< rief ich hinaus.

Der Zauberstab spürte auf, die Fee senkte den Arm und...hielt an.

>Für eine Woche? Warum nur für einen Woche?<, fragte sie erstaunt.

Ich grinste im fröhlichen Wissen endlich einen großen Schritt in Richtung Wahnsinn getan zu haben:
>Eine Woche! Sieben Tage! Das sollte mir genug Zeit geben, um ein paar Rechnungen zu begleichen!< Ich sah den Flegel durchdringend an. >Außerdem ist es so schön biblisch!<

>So sei es!<, sagte die Fee feierlich und blickte mir ein letzte Mal in die Augen.

Ich sah den Zauberstab gleißend hernieder fahren, dachte für einen Augenblick, ich hätte einen enttäuschten Zug in ihrem Gesicht gesehen, dann war es vorbei. Und das letzte, was ich als Mensch tat, war, das Streichholz über die Reibefläche zu ziehen und zu lächeln. Es brannte auf und es ward Licht.

 

 

 

 

Gott

 

Und als das Gottsein über ihn kam, da sprang Gott von dem Tisch auf und rannte hinaus aus dem Cafe. Und gleich wieder hinein, denn Gott war kein Zechpreller. Er begleich seine Rechnungen. Als Gott hinaus ging, glitt ein Löffel vom Tisch. Gott ging weiter, hob ihn nicht auf, ließ es den jungen Mann tun, von dessen Tisch der Löffel gefallen war. Es gab Dinge, die man selbst tun musste.

Gott weinte, als er hinaus trat. Es regnete noch immer. Und als der Regen die Tränen aus Gottes Gesicht wusch, da sah der Herr, dass es Abend war. Und weil es ein langer Tag gewesen war, beschloss Gott, nach Hause zu gehen.

Gott war ein reicher Mann. Er besaß Häuser überall auf der Welt. So brauchte er nicht weit zu gehen, bis er zu einem kam. Und als Gott die Kirche betrat, da vollbrachte er das erste von drei Wundern, die er innerhalb der sieben Tage zu tun beschlossen hatte. Kraft seiner

Allmacht ließ er unbemerkt seine vom Regen durchnässte Jeans trocknen. In einer klammen, klebrigen Jeans auf knarrender Kirchenbank zu hocken, war selbst für Gott zuviel des Martyriums.

 

Es war ein alternativer Gottesdienst. Mit Gesprächsrunde und abschließendem Gebet. Die Nerven der Pastorin, meiner Hausmeisterin, wenn man so wollte, lagen blank. Ihr Mann hatte die Scheidung gefordert. Wegen einer Jüngeren. Was würde die Gemeinde da sagen? Ein besserwisserischer Student hatte während der Gesprächsrunde irgendwelche kruden, pseudo-marxistischen Thesen auf das Gleichnis vom Verlorenen Sohn biegen wollen. Und zu allem Überfluss kam mitten in der Runde Gott herein. Mit nassem Haar und trockenen Hosen. Und zu spät. Die Pastorin warf Gott einen bösen Blick zu, als er sich setzte. Die Pastorin verabscheute Zuspätkommer.

>Lasst uns den Abend mit einem Gebet beenden.< Müde erhob sich die Pastorin. Sie war froh, wenn der Tag vorbei war. Das kleine Häuflein Gläubiger und Gott erhoben sich.

Die Pastorin hielt einen Korb mit kleineren Steinen. Das hatte sie einmal auf einem Seminar gelernt:

>Bitte nehmt jeder einen Stein. Wandert um den Altar herum und vertraut dem Stein eure Sorgen an. Legt sie dann gleichsam mit dem Stein ab.<

Der Reihe nach nahm sich jeder einen Stein. Gott konnte es sich nicht verkneifen und zwinkerte der Pastorin neckisch zu. Sie gab vor, es nicht zu sehen.

Ich nahm einen Stein und umwanderte den Altar. Ich seufzte und vertraute dem Stein mein Leid an. Als Mensch war ich ein überschlauer Narr gewesen. Ich hätte mir nicht wünschen dürfen, Gott zu sein, sondern wie Gott zu sein. Nun war ich Gott. All die Dinge, die ich als Mensch mit göttlichen Kräften tun wollte, kamen nun nicht mehr in Frage. Es interessierte Gott wenig, dass er beispielsweise alle Frauen nackt sehen konnte. Gott spürte auch kein Verlangen, alle Anbieter irgendwelcher Handy-Sparpakete oder 0190-Betreiber mit einer biblischen Plage heimzusuchen. Und Gott würde auch nicht jene mit seiner Rache bis ins siebte Glied verfolgen, die ihn einst als Mensch zusammentraten.

Ein Narr war ich auch gewesen, weil ich mir gewünscht hatte, sieben Tage lang Gott zu sein. Das war zu lange, denn ironischer Weise erwartete nur der letzte Tag einwenig Arbeit von mir. Nein, viel zu tun gab es nicht, denn Gott konnte, wollte, durfte nichts tun. Er hatte dem Menschen einen freien Willen gegeben. Und jede Einflussnahme Gottes würde diese Freiheit beschneiden. Was wirklich schade wäre, denn das bisschen Freiheit war das einzig besondere am Menschen. Also, keine Sintfluten und keine blutenden Marienbilder, keine Katastrophen, die Gott abwendete und keine Plagen, die er brachte.

Es war eine lange Ewigkeit des Nichtstuns, die aus drei Aspekten bestand. Das erste Drittel sorgte sich Gott um die Menschen, die er liebte und verabscheute zugleich, die ihm täglich das Herz brachen und immer wieder hoffen ließen.

Das zweite Drittel seiner Zeit verbrachte Gott mit der Suche nach der Antwort auf die Frage, woher er selbst stammte. Als er aus dem Nichts das All werden ließ, wie kam er in das Nichts? Hatte ihn, Gott, jemand geschaffen? War Gott so alt, dass er schon Gedächtnislücken hatte? Gott suchte nach der Wahrheit, die es für ich nicht gab, noch nicht einmal eine Antwort, die ihm ausreichte. Und manches Mal fragte ich mich, ob ich die Menschen nicht erschaffen hatte, um nach meinem eigenen Ursprung zu suchen. Sie sind doch meine Geschöpfe. Steckt nicht genug Göttliches in ihnen, um die Fähigkeit zum Verständnis Gottes zu haben? Ich hoffte es, auch dass es mir ebenso erging, dass ich zumindest theoretisch die Möglichkeit hatte, mein Sein und meine Schöpfung zu begreifen.

Und das letzte Drittel? Reine Langeweile. Wirklich, so richtig ausgelastet war ich als Gott nicht. Das Universum hatte ich ganz gut hinbekommen. Viel Wartung brauchte es da nicht. Und die Menschen? Gott musste nicht beobachten. Er sah alles. Den Kindersoldaten und den General, den Papst und den Atheisten. Ach, manchmal wünschte ich...Oh!

Ich blickte auf den Stein. Ich verließ die um den Altar kreisende Runde der Gläubigen und ging zu der Pastorin. Sie sah mich ungehalten an.

>´Tschuldigung<, sagte Gott mit gütigem Lächeln. >Haben Sie noch einen Stein? Der hier ist voll.<

 

>Unverschämtheit<, ging es mir durch den Kopf. Da wird man einfach so aus seinen eigenem Haus geworfen. Ich wunderte mich, in welcher anderen Berufsbranche man wohl seinen Arbeitgeber so ungestraft vor die Tür setzen durfte. Das ging wohl nur in der Kirche.

Sicherheitshalber ging Gott nach Hause, dorthin wo ich als Mensch wohnte.

Ich trug es der Pastorin nicht nach, denn Gott hatte ja schließlich Humor. Vergeben aber konnte ich ihr nicht, denn gegen alle Vorstellungen war Vergebung nicht meine stärkste Seite. Was sollte ich auch vergeben? Der Mensch verließ nicht den rechten Pfad. Er ging seinen eigenen. Wie sollte er davon dann also abkommen? Ich vergab nicht, ich trug auch nichts nach, strafte weder, noch belohnte ich. Ich sah nur zu, war traurig und erfreut über ihre Taten.

Und Vergebung, so wie der Mensch sie sich vorstellte, erforderte aufrichtige Reue. Was war aufrichtig, was war Reue? Wer definierte sie? Ich? Oh, die Menschen wären wirklich erschrocken, wenn sie wüssten, wie klar ich ihre Seelen las.

Gott ging unter die Dusche, machte sich ein Butterbrot und setzte sich mit einem heißem Tee mit Zitrone (gegen die Erkältung. Gott musste morgen wieder zur Arbeit und durfte nicht krank werden) vor den Fernseher.

Als Mensch hatte ich mir oft gewünscht, dass ein Blitz die beiden Schläger beim Kacken erschlagen würde. Nun, ich bin kein gewalttätiger Mensch gewesen. Ich hatte von der Gewalt gekostet. Ihr Geschmack bereitete mir Übelkeit. Vielleicht war es das einzig gute an dieser Erfahrung. Sie hatte mich friedliebend gemacht. Dennoch, wenn es sie beim Kacken erwischt hätte, nun, ich hätte ihren Tod nicht gewünscht, aber wenn es so gekommen wäre, hätte ich gesagt, dass es gut und gerecht war.

Es waren beide normale Menschen mit guten Jobs. Der eine war sogar wirklich Bänker. Ihre Motive? Es gab keine, nur die Gelegenheit. Vielleicht neigte der eine zu streitlüsternem Machismo, der im angetrunkenem Zustand nach prahlerischen Anekdoten Ausschau hielt. Wenn er allerdings berichtete, wie er mir „gezeigt hat, wo es lang ging“, hat er nur seine eigene Schlagfertigkeit unterstrichen und irgendwie vergessen zu erzählen, dass sie mich zu zweit aufgemischt und zum Verrecken im Schnee liegen gelassen haben. Verdrängt hatte er es jedenfalls nicht, obwohl er sich darum bemüht hatte.

Und der andere? Frustration, schlechte Gesellschaft und eine üble Trennung von seiner Lebensgefährtin. Er bereute es, denn es belastete ihn, mich aber mehr. Und als er sich erneut verliebte, in eine Frau, die ihn aus seiner Lebenskrise zog, da ging er den schweren Weg und erzählte ihr von meinem guten Rutsch ins Neue Jahr. Er hätte es ihr nicht erzählen müssen, aber ein Geständnis machte frei. Er war zu lange gefangen. War das Reue? Als er neben ihr auf der Bettkante saß und unter Tränen beichtete, da sah er ihr Entsetzten. Und das Maß ihres Entsetzens änderte seine Geschichte. So war ich es bald, der als erster schlug. Er sagte ihr, dass er glaube, dass es so gewesen sei, denn er wusste, dass es eine Lüge war. Aber wenn er etwas Unsicherheit in seiner Aussage ließ, vielleicht war es dann keine so große Lüge. Und er musste es doch, lügen. Er sah ja ihren Augen, dass sie ihn angewidert verlassen würde, wenn er ihr alles erzählte. Wie sie auf mich eintraten, wie sie mich zurückließen und das schlimmste, wie diese wilde Lust bei jedem Tritt durch ihn lief und für köstliche Augenblicke die Frustration aus seiner Seele vertrieb. Es war nicht fair, dass sie zu zweit auf mich einschlugen, das gab er zu, denn etwas musste er ja zugeben, oder? Und ich? Ich hatte es natürlich überlebt (ansonsten hätte man ja von meinem Tod in der Zeitung lesen können). Schließlich habe man ja auch nicht sooooooooooo schlimm auf mich eingeschlagen. Es war eben keine leichte Zeit für ihn gewesen. Sie vergab ihn, forschte nicht weiter nach. Er hatte nicht alles gebeichtet. Der Rest belastete ihn noch immer. Aber nicht mehr ganz so schwer. Er konnte damit Leben.

Und hätte er alles gebeichtet? Wäre das wahre Reue? Oder hätte er nicht zur Polizei gehen, alles gestehen, vielleicht in den Knast gehen und seine Freundin, Job und alles riskieren müssen? Nein, die Menschen wollten nicht wirklich Vergebung von Gott, denn er sah den wahren Grad ihrer Reue.

Ich schaltete den Fernseher aus und schlief. Das war kein Wunder, obwohl es mir als Mensch so vorgekommen wäre. Gott träumte von einer kleiner Fee im Blaumann.

 

Am nächsten Tag arbeitete Gott mit seinem Kollegen Heinz auf dem Friedhof. Es regnete noch immer, aber Gott war allwettertauglich. Gott arbeitete gerne mit Heinz, denn er war ein guter Mensch. Gott machte eine Stunde früher Feierabend. Als Mensch musste Gott zu seiner wöchentlichen Sitzung bei seinem Psychotherapeuten. Davor hatte es ihm stets gegraut, aber als Gott freute ich mich darauf. Es versprach unterhaltsam zu werden.

Die Fahrt mit der S-Bahn war wie am Tage zuvor. Als Gott aus den Tunnel schoss, gehörte er noch immer nicht zu den Menschen im Licht. Er war das Licht

 

>Nun, Herr ..., haben sie darüber nachgedacht, worüber wir letzte Woche gesprochen haben?< Mein Psychotherapeut schlug ein Bein über das andere und sah bedeutsam auf seinen Notizblock (1x Kasten Wasser und Tampons für Schnucki und Kalzium-Zink Tabletten vom DM-Mark. Es war tatsächlich seine Einkaufsliste). Als Mensch hatte ich zu Beginn meiner Therapie dies anfängliche Rekapitulieren der letzten Sitzung für sehr weise und interessiert gehalten. Später ahnte ich, was ich als Gott nun wusste. Mein Psychotherapeut hatte schlichtweg keine Ahnung davon, worüber wir letzte Woche gesprochen hatten. Das zeugte von einer guten, professionellen Distanz zum Kunden und davon, dass mein Psychotherapeut sein Geschäft beherrschte. Die Therapiefreudigen der ganzen Stadt liefen ihm die Bude ein. Da konnte man schon mal den Überblick über jede Sitzung verlieren. Hauptsache, der Kunde merkte nichts davon und zahlte. Mein Therapeut konnte es gebrauchen. Scheidung, zwei Kinder, neue Lebensgefährtin. Jünger, attraktiv und ein wenig verwöhnt.

>Letzte Woche?<, überlegte ich. Also vor meinem Gottsein. >Wir haben über meine Eltern gesprochen. Sie nannten mein Verhältnis zu ihnen „angespannt“!<

>Richtig. Genau. Wann haben sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen?<

Gott dachte nach. >Vor drei Jahren. Bei ihrer Beerdigung.<

Der Hauch einer verlegenen Röte zeigte sich auf dem Gesicht meines Psychotherapeuten. Die Routine überspielte es souverän:

>Richtig. Eine persönliche Verabschiedung am Grabe ist in vielen Fällen vorteilhaft...<

>Unbedingt<, sagte Gott. >Aber eigentlich möchte ich nicht über meine Eltern sprechen.<

Eine eifrige Notiz: Für Sekretärin: Antrag auf fünfzehn weitere Therapiesitzungsstunden vorbereiteten.

>So, Herr ..., worüber möchten die denn gerne sprechen. Was ist wichtiger als die Beziehung zu ihren verstorben (Notiz: Eltern tot) Eltern?<

>Nun, ich bin sein gestern Gott.<

Mein Psychotherapeut war ein abgebrühter Hund. Wenn er glaubte, einer seiner Kunden verarschte ihn, machte er das beste daraus (Notiz: Antrag auf fünfzig Stunden. Privatpatient. Junge, Junge, da kam was zusammen).

>Sie sind also Gott?<

>Ja.<

>So. Allmächtig sind sie auch?<

>Ja.<

>Aha. Dann können sie mir bestimmt sagen, woran ich gerade denke?<

>Sie denken, dass sie sich die neue Einbauküche für ihre Lebensgefährtin doch leisten können, wenn sie noch zwei Patienten wie mich mehr hätten.<

Notiz: Patient ist Gott. Sonntag Kirchbesuch. Vielleicht nur gut geraten?

>Nein habe ich nicht Es nutzt auch nichts, wenn sie ihre Golfpartie am Sonntag absagen.<

>Sie sind tatsächlich Gott, wie?<

Gott nickte.

Mein Psychotherapeut wusste augenscheinlich nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Daher griff er rettend nach dem, auf das er sich verstand: der Therapie.

>Nun, lieber Gott...<

>Bitte, nur Gott, ja?<

>Gut, Gott. Da Sie...<

>Sie dürfen mich duzen. Das tut alle Welt. Sogar die Deutschen.<

>Gott, da du allmächtig bist, vielleicht solltest du da die günstige Gelegenheit ergreifen, um deine Beziehung zu deinen Eltern ins Reine zu bringen.<

Gott seufzte. Immer die Eltern. Wie abgedroschen. Meine Eltern. Herrje. Ihre Hölle, die andere Leute Ehe nannten, dauerte dreißig Jahre. Lange genug sich hassen zu lernen. Keiner wusste, warum sie noch zusammen waren. Sie am aller wenigsten. Vielleicht stritten sie nur gerne. Das taten sie auch, als sie vor einigen Jahren bei hoher Geschwindigkeit in der Nähe von Münster bei Nacht über die Autobahn jagten. Ein übermüdeter LKW-Fahrer erwischte sie seitlich. Sie kamen ins Trudeln und krachten über den Seitenstreifen die Böschung hinab. Mein Vater war sofort tot. Meine Mutter schnitten sie heraus. Sie starb im Krankenwagen. Ein kleines Kreuz, überwachsen nun, markierte die Stelle. Münster war seiner Tradition treu geblieben und hatte erneute einem dreißigjährigen Krieg sein Ende bereitet.

Aber warum nicht? Wenn man es konnte, musste man es dann nicht tun?

Ich erhob mich. Ich reichte meinem Psychotherapeuten die Hand. Er ergriff sie. Gott vollbrachte das zweite Wunder. Wir reisten in die Welt der Toten.

 

Ein nördlicher Wind wehte durch die ewige Nacht. Muskulöse Männer arbeiteten schweigend an den knarrenden Riemen, schoben den Bug des Schiffes durch das dunkle Meer. Nebel lag über der Wasseroberfläche. Nur hie und dort schimmerte das Wasser schwarz darunter hervor. Schweigend stand Gott neben seinem Psychotherapeuten an Deck. Der war besorgt, aber nicht furchtsam. Warum auch? Wenn Gott einen durch ein finsteres Tal führen konnte, warum nicht über ein dunkles Wasser?

>Das Meer...<, stammelte mein Psychotherapeut.

>Der Okeanos<, sagte ich. >Der Weltstrom!<

>Ah<, seufzte der Therapeut. >Das Land der Kimmerier. Homer!<

Ich nickte anerkennend. Der Mann verstand sein Geschäft. >Odyssee. Elfter Gesang.<

Mit einem Ruck setzte das Schiff auf dem Kiesstrand auf. Die Männer sprangen von Bord und zogen das Schiff aufs dunkle Land. Der Therapeut und ich machten uns auf den Weg ins Landesinnere. Ich ging voran. Er wandelte in meinen Fußstapfen. Nach einer zeitlosen Weile gelangten wir an eine tiefe Kluft im Gebirge. Gott und sein Therapeut knieten nieder und scharten mit ihren Händen eine Mulde in den Boden. Gott zog eine Blutkonserve hervor.

>Schlachtet man für gewöhnlich nicht ein Schaf?<, warf der Therapeut ein.

>Das arme Schaf<, sagte Gott. <Es geht auch so.<

>Irgendwie beruhigend, dass Gott noch nicht einmal ein Schaf tötet<, meinte der Therapeut. Gott enthielt sich einer Antwort. In einer beschwörenden Geste erhob ich die Blutkonserve.

>Sollen wir es wagen<, frage ich.

>Nun, was glauben Sie denn?<, antwortete der Psychotherapeut instinktiv. Er errötete.

>Verzeihung. Ist einfach eine Berufskrankheit.<

Gott riss die Konserve auf und goss das Blut in die Mulde. Nach einer Weile erschienen die blassen Schemen der Toten am Rand der Kluft.

>Da<, rief der Therapeut. >Agamemnon, Aias, Thereisias. Mein Gott…<

>Ja?<

>´Tschuldigung, nur ein Ausruf des Erstaunens. Dort ist Achill!<

Der schnelle Renner trat aus der Schar der Toten und nähere sich. Er sah nicht glücklich aus und blickte mich vorwurfsvoll an.

>Gott, warum ist es im Hades so schrecklich? Ach, lieber der ärmste Tagelöhner auf Erden, als der geehrteste Fürst in der Unterwelt.<

Mein Psychotherapeut geriet ins Schwärmen.

>Ach, Homer. Ich wünschte, meine suizidgefährdeten Patienten könnten Achill hören. Das würde ihnen die Flausen austreiben,. Nicht wahr, Aias?<

Der hünenhafte Sohn des Telamon scharte verlegen mit dem Fuß im Sand und nickte beklommen.

>Huhu<, kam ein Ruf aus der Schar der Toten. >Lassen sie uns bitte durch. Wir sind die Eltern Gottes. Danke sehr.< Die Toten wichen achtungsvoll vor meinen Eltern.

>Hier! Wir sind´s, Klaus. Deine Eltern!<

Mein Psychotherapeut sah mich an.

>Klaus? Ich dachte du heißt...<

>Klaus ist mein Bruder<, seufzte Gott. >Mutter verwechselt uns ständig.<

Der Therapeut wollte eine Notiz machen, ließ es aber. Tote waren wohl nicht privat versichert, oder?

Endlich standen meine Eltern vor mir. Sie waren bleich. Ihre Augen gierten nach dem Blut. Mit einer Geste hielt Gott sie von dem Trunk fern. Der Therapeut nickte mir ermutigend zu.

Gott seufzte.

>Mutter. Vater. Ich möchte mich bei euch entschuldigen.<

Die Eltern sahen überrascht auf.

>Ich war euch gegenüber ungerecht und vielleicht habe ich euch nicht so geehrt, wie ihr es verdient hättet. Als ich Mensch war, habe ich euch nachgetragen, dass ihr eure Kinder nicht anständig abgesichert hab. Nun da ich Gott bin, sehe ich, wie viel das ist, was mir einst wenig schien. Ihr gabt mir Kleidung, Nahrung und die Möglichkeit einer guten Schulausbildung.<

Meine Eltern nickten eifrig. Gott seufzte erneut.

>Global gesehen kommen nur die wenigsten in den Genuss einer solchen Erziehung. Obwohl, nun ja, irgend eine Art der finanziellen Absicherung, einen Bauspar- oder Ausbildungsvertrag hätte ich mir als Mensch schon gewünscht. Oder vielleicht Unterstützung beim Studium. Ihr habt noch nicht mal eine Lebensversicherung gehabt, als ihr...<

>Ach<, sagte Mutter. >Das tut uns leid. Die haben wir uns auszahlen lassen, um den Wagen zu kaufen.<

Vater nickte mürrisch. >Verfluchter LKW-Fahrer. Der Wagen ist völlig im Eimer.< Er zuckte mit den Schultern. >Ich hätte euch gerne mehr hinterlassen, aber als kleiner Beamter...<

Gott nickte. Kleiner Beamter? Eher gehobener. Aber bei der eklatanten Misswirtschaft, die Gottes Eltern seit jeher betrieben hatten, war wirklich nichts auf die hohe Kante zu bringen gewesen.

>Das ist schon in Ordnung<, log Gott. >Ich wünschte mir nur, dass ihr auch einmal Vertrauen zu mir gezeigt hättet. Stolz auf mich gewesen wäret.<

>Aber das waren wir doch<, sagten die Toten.

>So? Warum habt ihr es dann nie gezeigt?<

>Haben wir!<

>Nein, habt ihr nicht!<

>Doch, haben wir!<

Ich sah meinen Therapeuten an. Er sah ratlos zurück. Gegen ein überzeugtes „Doch, haben wir!“ kam selbst Gott nicht an.

>Hör mal, Junge<, sagte Vater, als er bemerkte, wie geknickt Gott aussah. >Deine Mutter und ich sind wirklich sehr stolz auf dich. Wir wussten schon immer, dass was aus dir wird.<

>So? Wirklich?<

>Ja, schon seit der Schule.<

>Aber ihr habt doch immer gesagt, dieses Jahr würde ich sitzen bleiben. Ihr habt sogar prophylaktische Anträge zur Wiederholung der Klasse gestellt. Obwohl ich nie sitzen geblieben bin!<

>Sah aber auch wirklich immer knapp aus<, warf meine Mutter ein.

>Wirklich, Sohn<, sagte der Vater. >Ich meine, du bis nun Gott, oder? Da ist man als Elternteil natürlich stolz drauf. Ich meine, viel höher geht es doch nicht mehr, was?<

>Genau<, sagte Mutter. >Und dieser Josef und seine Frau, wie heißt sie? Maria! Genau. Also die führen sich auf, als wären sie die Könige hier. Dabei sind sie nur die Eltern von deinem Sohn...<

Gott winkte ab. >Trinkt<, sagte er zu seinen Eltern.

>Endlich<, sagten die Toten. >Gott sei Dank.< Sie Toten warfen sich gierig aufs Blut.

>Keine Ursache<, sagte Gott und Gott sah wieder zu seinem Therapeuten:

>Sie sehen, die Kommunikation mit meinen Eltern ist nicht ganz leicht. Nun, sie sind meine Eltern. Und ich liebe sie. Vielleicht muss das reichen. Wollen wir gehen?<

So einfach wollte der Psychotherapeut nicht aufgeben.

>Gott, wirklich. Du hast hier eine einmalige Chance. Wen man die Gelegenheit hat, die Verhältnisse mit seinen toten Eltern ins reine zu bringen, dann sollte man sie auch ergreifen.<

>Wirklich?<

Der Therapeut nickte überzeugt.

>Gut<, sagte Gott und gönnte sich ein Lachen.

Ich krächzen kam aus der Gruppe der Toten. Ein alter Mann schob sich nach vorn. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen. Trotz Falten und Leichenblässe.

>Junge!<, krächzte der Greis. Der Psychotherapeut wurde bleich.

>Vater?<

>Ja, Sohn. Ach es gibt so vieles, was ich dir sagen...<

Der Psychotherapeut sah erst auf mich, dann auf seine Uhr:

>Oh, schon so spät? Ich fürchte, ihre Stunde ist bereits um!>

Wir kehrten zurück. Als wir übers schwarze Meer glitten fragte mich der Therapeut.

>Gott, sehen wir uns nächste Woche zum normalen Termin wieder?<

Ich schüttelte den Kopf.

>Nein. Nächste Woche bin ich wieder Mensch.<

>Ah. Dann als Mensch vielleicht?<

>Nein. Ich kenn nun die Antworten.<

Mein Psychotherapeut nickt und lachte.

>Wer kann das schon von sich behaupten, was? Ich werde mich wohl nicht an unseren Abstecher erinnern können, oder?<

Ein Kopfschütteln.

>Also ein Lebwohl.< Er reichte mir die Hand. Ich nahm sie.

>Eine Frage hätte ich noch, Gott.<

>Ja?<

>Der Hades? Ist das Leben nach dem Tod wirklich so?<

Gott schüttelte den Kopf. >Nein. Nur eine Frage des Stils.<

Mein Psychotherapeut wusste e zu schätzen.

>Aber wie ist das Leben nach dem Tod dann? Gibt es überhaupt ein Leben danach?<

Gott lächelte

<Nun, was meinen sie denn?<

 

Gott schlief, sah fern, arbeitete und aß. Endlich nahte die Zeit des letzten Wunders.

Gott hätte das Wunder vertuschen können, bis seine Einflussnahme gegen Null strebte. Hätte Gott in dem Kaffee den Löffel für den jungen Mann aufgehoben, dann wäre die Kellnerin nicht über ihn, sondern Gott gestolpert. Die beiden hätten keinen gefallen aneinander gefunden. Der junge Mann hätte sie nicht zum Abendessen eingeladen. Sie hätten die Nacht nicht gemeinsam verbracht. Und der junge Mann hätte am nächsten Tag seiner Lebensgefährtin den Seitensprung nicht beichten können. Die Beziehung wäre auch so erloschen, aber ein wenig später. Denn der junge Mann fühlte so sei langem keine Liebe mehr, er wusste es nur noch nicht. Der Seitensprung war ein willkommener Katalysator. Ohne in wäre er noch mit seiner Lebensgefährtin in den Urlaub geflogen. Zwei Tage darauf. Er wäre an jenem Abend bei seiner Freundin gewesen, als es dunkel war am Strand und der Tourist in einem Gebüsch auf ein Opfer lauerte. Und der Tourist hätte sie nich überfallen, denn ein Mann war dabei. Das traute er sie nicht. Obwohl sie eins dieser jungen Dinger war, die ihn wild machten. Aber davon gab es hier viel. Er würde die nächste vergewaltigen. Wäre das besser gewesen?

Also ließ Gott den Löffel. Und die Junge Frau flog ohne ihren untreuen Lebensgefährten ins Paradies und zog die Blicke des Touristen auf sich, als sie allein durch die schöne Nacht spazierte.

 

Und als der Tourist sein Glück nicht fassen konnte, die Frau näher und näher an sein Versteck kam, da trat Gott hinter ihn und legte die Hand auf seine Schulter. Der Tourist drehte sich um und sah seinem Schöpfer ins Gesicht. Er erschrak nicht. Der Tod kam zu schnell. Es lag auch keine Erkenntnis in den Augen des Touristen. Für Erkenntnis war er zu geil gewesen. Der Körper sank leblos in den Sand.

Der Tod war sauber. Doch weinte Gott bitterlich. Er liebte auch den Touristen. Was hätte ich tun sollen? Den Touristen einsperren, Beweise manipulieren? Oder gar das Verlangen aus dem Geist des Touristen tilgen? Ja, warum nicht? Warum nicht auch den Wunsch nach Weltfrieden in den Seelen der Menschen verwurzeln?  Weil es nicht viel vom Menschen übrig ließ? Nein, besser einen sauber Schnitt machen, wenn es sein musste.

Es gab viele Vergewaltiger. Und viele Opfer. Ich konnte nicht jedes beschützen, nur dies eine. Gott mischte sich zwar nicht ein, er begleich aber auch seine Rechnungen.

 

Gott trat aus dem Gebüsch. Die junge Frau hörte es, drehte sich erschrocken um. In dem Sternenlicht dauerte es einen Moment, bis sie mich erkannte. Ein überraschtes Lächeln. Angst hatte sie keine. Die hatte ich ihr nie gemacht.

>Was machst du denn hier<, sagte meine ehemalige Mitbewohnerin.

>Urlaub? Ich sah dich am Strand. Dachte, die kenn ich doch.<

>Mensch, Wahnsinn. Die Welt ist wirklich klein, was?<

Gott gab ihr recht. Sie unterhielten sich. Was sie machten, was sie waren. Gott ließ sein Gottsein diskret unter den Tisch fallen. Gott führte sie fort vom Gebüsch. Als sie weit genug entfernt waren, setzten wir uns in den Sand. Das Meer rauschte sanft. Sterne leuchteten. Irgendwo erlosch eine Welt.

>Ich habe dir nie gedankt<, sagte Gott nach einem Schweigen zu seiner Mitbewohnerin.

>Ach weißt du...<

>Nein, wirklich. Du hast mein Leben gerettet. Ich danke dir.<

>Schon okay. Warum has du dich nie wieder gemeldet?<

>Ich habe mich geschämt! Ich war so dumm!<

Sie nickte. >Warum, ich meine, warum hast du damals...?<

>Unwissenheit.<

>Und jetzt?<

>Nun, ich habe wohl dazu gelernt.<

>Ich habe das mit dem Überfall gehört. Ich habe versucht dich zu erreichen.<

>Ich weiß. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe.<

>War es schlimm?<

>Ja. Gewalt verändert, weißt du? Das wünsche ich keinem.<

Gott erhob sich.

>Ich muss dann mal.<

>Wirklich?<, sagte sie enttäuscht. >Sehen wir uns morgen?<

Gott schüttelte den Kopf.

>Morgen reise ich ab.<

>Schade. Dann lass uns heute noch einen trinken gehen.<

Da Gott keine gute Ausrede einfiel, ließ er sich breit schlagen und verbrachte einen schönen Abend.

 

Die Fee zu finden, war mit einer Schwierigkeit verbunden, aber mit keiner großen. Gott las in jedem Geschöpf auf Erden, nur in der Fee nicht. Ich wusste nicht einmal, wo sie sich aufhielt. Da Gott aber wusste, dass die Fee auf einer Werft jobbte, brauchte Gott nur in den Lohnabrechnungen aller Werften zu stöbern. Da! Fee! Weder Vor- noch Zuname. Gott ging in die Werft und fragte sich durch. Fee sah ihn kommen und winkte mit dem Schweißgerät.

Gott wartete geduldig bis Fee ihre Arbeit beendet hatte. Fee war bekannt für ihre feinen Schweißarbeiten. Als Fee fertig war, nahm sie ihre Schweißbrille ab und lächelte mir fröhlich zu.

>Na, wie ist es als Gott?<

Ich zuckte mit den Schultern. >Ganz okay.<

>Ja?< Fee sah auf die Uhr. >Nur noch ein paar Minuten, dann bist du wieder ein Mensch.<

>Kann ehrlich sagen, das ich mich darauf freue.<

>Kann ich mir vorstellen<, sagte Fee und zwinkerte mir wissend zu.

>Was wirst du als Mensch aus deinem Gottsein denn mitnehmen?<

>Viel, denke ich. Das Geheimnis der Schöpfung und so. Ich hab mir auch ein paar Adressen von Frauen herausgesucht, mit denen ich eine wirklich erfüllte Beziehung haben könnte. Das sind global gesehen sogar jede Menge potenzieller Partnerinnen.< Ich zeigte Fee meine Favoritin.

>Bezaubernd<, sagte sie. >Vielleicht solltest du dein Suaheli etwas aufbessern. Was noch?<

>Die Erkenntnis, dass ich nie allein bin, dass es jemanden gibt, der mich immer lieben wird.<

>Das ist schön. Was noch?<

>Reicht das nicht?<

Die Fee sah mich spöttisch an.

Gott seufzte.

>Dass ich mir das richtige aus einem falschen Grund gewünscht habe. Mein eigentlicher Wunsch wäre, na ja, irgendwie bist du so, als würde ich dich bereits kennen. Was wollte ich? Liebe, einen Kuß? Vielleicht ein Date? Ich war zu schüttern, mir das zu wünschen.<

>So? Und was ist mit deiner Liste von Traumfrauen. Steht mein Name darauf?<

>Nein.<

>Warum?<

>Weil ich von all diesen Menschen weiß, wer sie sind. Sie werden zu mir passen und ich zu ihnen. Wer du bist, weiß ich aber nicht?<

>Warum? Bist du nicht Gott?< Die Fee sah auf ihre Armbanduhr. >Zumindest noch für drei Minuten.<

Gott sah die Fee an:

>Es ist die alte Frage, ob Gott einen Stein erschaffen kann, der so schwer ist, dass nicht einmal er ihn heben kann. Er kann. Und er kann nicht. Es ist eine Frage des Willens und nicht des Steines. Und Gottes Wille ist nicht allmächtig. Aber mächtig doch. Vielleicht schafft er es für sieben Tage, den Stein nicht heben zu können. Und vielleicht schafft er es auch, sieben Tage lang nicht die Gedanken einer Fee lesen zu können.<

Wir schwiegen eine Zeit lang.

>Und warum sollte Gott nicht in mir lesen wollen<, frage Fee endlich.

>Damit es, wenn er wieder Mensch ist, jemanden gibt, den er nicht kennt, den er erst kennen lernen darf wie alle anderen Menschen auch.<

>Und das wäre dir lieber? Die Ungewissheit?<

Gott nickte. >Und werden wir...?<

Fee sah auf ihre Uhr und lächelte mir zu:

>Wer weiß?<

Sie schwang ihren Zauberstab und ich war wieder Mensch.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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