Jutta Schwarz

Goldene Schleier

Sie meinen es gut. Sie tun es mit den besten Vorsaetzen, aus ganzem Herzen.
Geschenke fuer alle, die sie lieben. Es gibt derer viele, und man braucht
reichlich Geschenke. Ausgewaehlt mit Herz und Verstand, damit keiner
enttaeuscht ist. Denn es ist ja das Fest der Liebe.
 
Sie laufen emsig, ausser Atem durch die Strassen. Wieder einmal spaet, 
sehr spaet. Wie jedes Jahr. Dabei hatten sie sich geschworen, es dieses Mal
anders zu machen, ganz anders. Sie sehnen sich schon so lange zurueck in
eine andere Zeit, wie in ein verlorenes Leben, das sie einmal hatten vor
einer Ewigkeit.
 
Die geheimnisvollen Geraeusche aus dem verschlossenen Zimmer, Mutters
verheissungsvolles Laecheln, Vaters wichtige Miene, die Duefte nach Brat-
aepfeln, Plaetzchen und Punsch, die Stille vor der Tuer, in der man die Schnee-
floeckchen wispern hoerte, wenn man ganz still war. Der helle Stern, der sei-
ne Bahn zog ueber einen fernen Himmel. Klopfende Herzen, glaenzende
Augen, atemlose Erwartung.
 
Die Erinnerung webt Schleier aus goldenen Faeden...
 
Vielleicht rennen sie deshalb alle so, weil sie jene Schleier suchen, die laengst
zerrissen sind, irgendwann. Ohne dass sie es bemerkten. Schleier, so fein, so
zart wie Engelshaar. Schleier, die man hueten muss mit leisen Stimmen und
sanften Haenden. 

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