Mario Hedemann

Schicksal der Gier

 

 

Der alte Mann hatte seinen Garten für den Winter fertig gemacht. Nichts deutete mehr darauf hin, dass er vorm Frühjahr den Garten noch einmal betreten würde. Er hatte das Obst was auf dem Boden lag eingesammelt und zu Mus verarbeitet, er hatte die Sträucher und Bäume  beschnitten, als sie die Blätter verloren hatten und den Rasen ein letztes mal gemäht.

Die Gartengeräte standen sauber und eingeölt, damit sie nicht über dem Winter anfingen zu rosten, im Schuppen.

 

Das kleine Gewächshaus konnte nun bis zum Frühjahr ruhen und brauchte auch nicht beheizt werden. Es gab nur eine kleine Sache, die der Mann noch übersehen hatte. An dem einen Apfelbaum hing noch ein einziger Apfel.

 

„Hm,“ räusperte sich der Mann, streichelte mit der einen Hand seinen Ziegenbart und sah zu dem Apfel auf. „Wie konnte ich dich bloß übersehen? Ich hab doch letzte Woche die Bäume geschnitten und da hing doch weder Laub noch Obst dran. Du bist sicher ein Nachzügler. Na, wie dem auch sei, ich werde dich pflücken und zum Abendessen als Nachspeise verzehren.“

Als der Mann den Apfel pflücken wollte, hörte er eine leise Stimme, die von irgendwo her kam.

 

„Bitte, verzehre mich nicht. Ich würde dir sonst im Hals stecken bleiben.“

Der alte Mann hielt mit seiner Bewegung, den Apfel vom Baum holen zu wollen, einen Moment inne und drehte sich um. Niemand war da. Weit und breit kein Mensch. „Ich bin doch nicht verrückt,“ murmelte er in seinem Bart.

 

„Wenn du mich nicht pflückst, dann hast du einen einzigen Wunsch frei,“ sprach die Stimme.

Dann blickte er zu dem Apfel hinauf. „Du kannst sprechen?“ fragte er.

„Ich kann dir einen Wunsch erfüllen, aber nur, wenn du mich nicht von der Linie meines Lebens reißt. Ich sterbe schon von selber.“ Die Stimme war kaum zu hören.

 

„Das glaub ich nicht,“ rief der Alte.

„Warum nicht?“ rief die leise Stimme. Sie hörte sich an, als würde eine empörte Frau sprechen. „Glaubt ihr Menschen vielleicht, dass es außer euch nichts mehr gibt, was noch Gefühle oder ein Wissen haben könnte?“

 

„Ich darf dich nicht pflücken?“ rief der Mann. „Und ich habe einen Wunsch frei? Was darf ich mir denn wünschen?“

„Was dein Herz begehrt,“ flüsterte die Stimme.

 

Der alte Mann runzelte die Stirn und überlegte. Wann hatte schon mal jemand die Gelegenheit, sich den Wunsch zu erfüllen, was er immer schon mal haben wollte.

„Kann ich mir bis morgen Zeit lassen?“ fragte er den Apfel, wobei er sich nicht wirklich sicher war, ob die Stimme wirklich von dem Apfel kam.

 

„Du hast Zeit bis Morgen,“ verkündete die Stimme.

„Aber eins will ich noch wissen. Bist du es bestimmt, der spricht?“ fragte er den Apfel direkt.

„Warum zweifelst du?“ ermittelte der Apfel.

„Ich wollte mich nur vergewissern,“ sagte der Mann. „Ich denke mal, ich werde jetzt mal herein gehen und mich hinter den warmen Ofen setzen.“

Als er im Bett lag, konnte er die halbe Nacht nicht schlafen, weil er hin und her überlegte, was er sich mit diesem einen Wunsch erfüllen könnte. Satt zu essen und zu trinken hatte er immer. Geld brauchte er auch nicht, weil er nichts davon hielt, was auf der hohen Kannte zu haben. Eine Frau wollte er auch nicht haben. Er war schon oft unglücklich verliebt und hatte von Frauen die Schnauze voll. Ein Auto bräuchte er mal wieder, um sich mal aus seinem kleinen Ort herausbewegen zu können. Aber wenn er sich jetzt ein Auto wünschen würde, dann wäre der Wunsch ja schon aufgebraucht. Was wäre denn, wenn er sich jetzt noch andere Dinge im Leben mal wünschte und er konnte sie sich nicht leisten?

 

Schließlich hielt er es für das beste, sich mit dem einen Wunsch, tausend neue Wünsche zu erfüllen. So würde er am besten damit klar kommen und wenn der vorletzte Wunsch mal aufgebraucht war, konnte er sich mit dem letzten Wunsch wieder neue Wünsche wünschen.

 

Am nächsten morgen stand er vor dem Baum und sagte zu dem Apfel: „ Ich weiß jetzt, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir mit dem einen Wunsch tausend neue Wünsche.“

 

In diesen Augenblick fegte ein heftiger Sturm über den Garten hinweg, Donner und Blitze grollten vom Himmel. Der alte Mann blickte sich um und erschrak, als er das sah.

Ungefähr hundert Meter über ihn tauchte eine riesige dunkle Wolke auf, die sich zu einem Gesicht formte. Das Gesicht sah finster auf ihn herab und drohte mit lauter Stimme: „Du Unhold, du Nimmersatt. Das war so nicht abgemacht. Dafür sollst du auch jeden Tag mit deinen Wünschen eine gute tat vollbringen. Wirst du es nicht tun, wirst dich der Donner holen.“

 

Dann verschwand die Wolke und die Sonne kam wieder zum Vorschein, so, als ob nichts geschehen wäre.

„Du hast es gehört,“ flüsterte der Apfel. „Denk immer daran, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen und anderen in ihrer Not zu helfen.“

 

Der alte Mann wollte gerade schon gehen und den ersten Wunsch ausprobieren, da sagte der Apfel: „Oh, und noch eines wollte ich dir sagen. Ich hätte es beinahe vergessen. Mit diesen tausend Wünschen, hast du jetzt ein Handicap, nämlich mich. Sollte mir etwas zustoßen, so wirst auch du sterben müssen, denn du hast uns mit deinen habgierigen Wunsch vereint. Hättest du dir nur einen Wunsch erfüllt, so wäre alles gut gewesen, aber jetzt?!“

 

Der alte Mann schenkte dem Apfel keinen glauben, sondern verschwand ins Haus, wo er sich hinter dem warmen Ofen setzte und überlegte, was er sich als erstes wünschen könnte, womit er auch eine gute Tat vollbringen könnte?

Ihm fiel nichts ein und so beschloss er, seine tausend Wünsche auf zu heben und nicht zu vergeuden.

 

Er beschloss ein wenig in die Stadt zu gehen und ein paar Läden zu besuchen. In der Vorweihnachtszeit hatten sie immer schön dekorierte Schaufenster und den teuersten Weihnachtskitsch. Der alte Mann liebte Kitsch. Sein ganzes Leben lang, sammelte er irgendwelche weggeworfenen Teller, Blechdosen, Tageszeitungen, Spielzeug aller Art und so weiter. Er konnte sich nun mal von nichts trennen.

 

Als er in die Stadt kam, saß vor einem Schaufenster ein Bettler, der sein Hut vor sich liegen hatte, wo einige Geldmünzen drin waren und der nun nicht gerade die wärmste Kleidung für diese Jahreszeit hatte.

Der alte Mann kam nun daran vorbei und blieb bei dem Bettler stehen. „Du ärmster,“ sagte er, denn mit den Leuten die auf der Straße leben mussten, hatte er immer schon mitleid gehabt. „Kannst du dir vorstellen, ein Dach über den Kopf zu haben, statt jeden Tag hier zu sitzen und zu betteln?“

„Ich bettle nicht,“ sagte der Landstreicher. „Das ist mein Job. Und was soll die blöde frage, ob ich nicht lieber ein Dach über den Kopf hätte? Was zum Teufel glaubst du wohl, warum ich hier sitze? Damit ich mir ein Dach über den Kopf leisten kann. Aber warum fragst du mich das?“

„Nun, ich wünschte, dass dein Hut voller Geld wäre und du nie mehr betteln müsstest.“

 

In diesen Augenblick gab es einen kurzen Knall und in dem Hut des Bettlers befand sich ein Haufen Geldscheine.

 

Der Plattenbruder schaute zu seiner Kopfbedeckung und staunte mit offenem Mund. Dann stand er auf hob seinen Hut hoch und starrte auf die Geldscheine. „Wie zum Teufel hast du das gemacht?“ fragte er den alten Mann.

„Ich hab keine Ahnung,“ erwiderte er. „Manchmal kann ich das eben und manchmal nicht.“

 

Der Pülcher fühlte in seinen Taschen etwas Schweres. Als er hineinfasste, um sich zu versichern, was er da drin habe, waren auch diese voller Kleingeld.

 

„He das gibt’s doch nicht,“ rief er den alten Mann hinterher, als er sich auf den Weg ins Geschäft machte. „Bist du ein Zauberer?“ Aber der alte Mann reagierte nicht mehr. Der erste Wunsch war ihm also gelungen.

 

Von nun an wünschte der alte Mann und wünschte und wünschte. Dem einen wünschte er ein neues Haus, dem anderen ein neues Fahrrad, Autos, Kinder, Geld, was sich die Menschen in seiner Umgebung gerade wünschten.

 

Eines Tages ging er in seinem Garten zu dem Apfelbaum. Der Apfel hing ganz einsam und alleine da.

„Mach ich das so zu deiner Zufriedenheit?“ fragte der alte Mann den Apfel.

„Ausgezeichnet. Ganz hervorragend. Aber sieh dich vor, du hast nicht mehr so viele Wünsche über.“

„Und was geschieht dann mit mir?“ fragte er.

„So lange mir nichts geschieht, trägt sich bei dir auch nichts zu,“ sagte die leise Stimme.

 

Dann verschwand der Mann wieder. Er saß im Wohnzimmer in seinem Sessel und grübelte vor sich hin. Jedem hab ich bisher geholfen. Dachte er. Nur ich selber komme zu kurz. Das muss aufhören. Ab jetzt, wünsche ich nur noch Dinge, die mir zu gute kommen.

 

Gleich am nächsten Morgen fing es schon bei dem Postbote an. Der Postbote wünschte sich ein neues Auto, weil er mit dem alten ewig Schwierigkeiten hatte. Der alte Mann war mittlerweile Bekannt mit dem erfüllen von Wünschen von anderen. Auch der Postbote wusste davon, aus diesem Grunde hatte er das vor dem alten Mann ausgesprochen.

 

„Vielleicht fährt Ihnen ja eines Tages eins über dem Weg,“ sagte der Alte boshaft. Der Briefträger gab dem alten die Post und verschwand enttäuschend.

Ne richtige alte Schrottkarre sollte er bekommen, mehr ist der auch nicht wert.

 

Im nächsten Augenblick rauchte es furchtbar bei dem Alten auf dem Hof. Alles war in einem schwarzen Nebel gehüllt. Nichts konnte man sehen. Nach ein paar Minuten verschwand der schwarze Rauch und der Postbote stieg in sein Fahrzeug, das eher einer Kutsche mit Hilfsmotor glich und fuhr davon.

 

Als der alte Mann nun in die Stadt kam, kamen Kinder an und fragten ihn, ob er sich ein paar Bonbons für sie wünschen könnte? Ein paar Regenwürmer können die Blagen fressen, dachte er. Es gab einen kleinen Donner und aus der Hand des Mannes schossen schwarze Rauschschwaben. Als sie verschwanden, lag eine kleine spitze Zuckertüte auf der Hand des Mannes. „Hier bitte,“ sagte er und übergab den Kindern die Tüte. Der alte Mann drehte sich um und ging davon. Er hörte die Kinder im Hintergrund kreischen und „Iiiiii Regenwürmer,“ rufen.

 

Eine Frau, die Schwanger war, wollte das Kind nicht haben. Sie bekam ein paar Monate später Drillinge. Ein Kind wünschte sich eine ganz liebe Katze zu Weihnachten und bekam ein Stofftier. So ging das immer weiter. Was sich die Leute wünschten, verwandelte der alte Mann ins Gegenteil.

 

Eines Nachts lag er im Bett und fühlte sich elendig. So als müsste er sich übergeben und einfach nur liegen bleiben. Zuerst dachte er an einer leichten Grippe, aber als es dann schlimmer wurde und er nicht mehr laufen konnte, wünschte er sich, dass es ihm besser gehen würde. Aber zu seinem Entsetzen geschah nichts.

 

Er fühlte sich immer schlechter und schlechter. Im Spiegel stellte er fest, dass seine Haut sogar am schrumpeln war, wie Obst, dass am verfaulen ist.  Zum Glück hatte er ein paar Krücken in der Wohnzimmerecke stehen, die er von seinem damaligen Krankenhausaufenthalt mitgebracht hatte, als er sich den Fuß mal gebrochen hatte.

 

Er kroch von seinem Badezimmerspiegel zu den Krücken und stützte sich auf sie.

Nun wollte er im Garten mal nach dem Apfel sehen, wie es ihm ging. Er erreichte den Garteneingang.

 

Draußen lag derweil viel Schnee und der Mann fror. Als er am Eingang stand, konnte er sich auf den Krücken nicht mehr halten und viel im Schnee. Trotzdem wollte er sehen, wie es dem Apfel ging. Mit zitterndem Körper bewegte er sich mühsam im Schnee wie ein Regenwurm fort, bis er zu dem Apfelbaum kam. Er schaute hinauf und sah keinen Apfel mehr dort dran hängen.

„Wo bist du?“ rief der Mann. „Was ist geschehen?“ Dann machte der alte Mann eine Wendung und wollte ins Haus zurück, als sein Blick plötzlich auf etwas fiel, das am Boden lag.

Es war der Apfel. Aber diesmal schien er wie ein gewöhnlicher Apfel aus zu sehen.

„Hey,“ sagte der alte Mann. „Antworte mir. Was ist geschehen? Warum kann ich mich auf einmal nicht mehr richtig bewegen?“ „Antworte mir du verdammtes Stück Obst.“

Aber nichts geschah. Alles blieb still.

Langsam verschwammen die Konturen des alten Mannes und sein Blick fiel bald in eine Finsternis, die seinen Verstand raubte. Der alte Mann wurde von Sekunde zu Sekunde immer älter und konnte nicht mal mehr einen Finger bewegen. Schnee bedeckte ihn und bald war der Mann, von dem sich die Leute etwas wünschen konnten nur noch Legende. Niemand  hatte ihn richtig gekannt und wusste nicht wo er wohnte, weil sich niemand wirklich für ihn interessierte.

 

 

                                                           Ende  

 

 

 

 

 

         

  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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