Daniel Alfred

Das muss Liebe sein

“Verdammt!“, sagte mein Nachbar Boisenberg.
Ich unterbrach die Gartenarbeit und trat an den niedrigen Holzzaun, der unsere Einfamilienhäuser voneinander trennte. Ich war neugierig geworden und wollte Boisenberg fragen, was er Merkwürdiges mit seinen Gartenmöbeln anstellte.

Er hatte die beiden abgenutzten, weißen Plastikliegen nebeneinander gestellt, auf denen er und seine Frau im Sommer gerne lagen. Die Möbel berührten sich an den Armlehen. Seit etwa einer Stunde konnte man ihn bei einer eigenartigen Übung beobachten: Boisenberg setzte sich auf die rechte Liege und platzierte eine große Münze auf die Sitzfläche der linken. Dann richtete er sich wieder auf und war froh, wenn das Geldstück dabei auf der Liege stehen blieb. Er konnte sich hingegen nicht beruhigen, wenn es umfiel oder von der Sitzfläche rollte.
“Herr Boisenberg. Entschuldigen Sie, was treiben Sie da eigentlich?“, fragte ich.
Mein Nachbar suchte gerade nach der Münze. Er sah auf, lächelte mir zu, tastete das Gras nach dem Geldstück ab, fand den Schatz und kam danach an den Zaun. Er rieb die Zweieuromünze an seinem hellblauen Poloshirt sauber.

“Ich verrate es Ihnen“, sagte er. “Warum auch nicht? Sie behalten aber bitte für sich, was ich hier trainiere?“
Wir hörten eine Trillerpfeife. Das Geräusch war von einem der Nachbargrundstücke gekommen, auf dem Richard Kugler mit seinem Sohn Marc stand. Marc war gerade zehn geworden, war viel zu klein für sein Alter, dürr, kurzsichtig und hatte ein leuchtenes rotes Feuermal über dem rechten Auge. Drei weitere Jungen aus der Gegend standen in Kuglers Garten. Sie reihten sich vor einer gelbroten Kinderrutsche auf. Sie waren größer und stärker als Kuglers Sohn und schienen auf etwas zu warten.
“Der eine ist der Schöfer - Junge“, sagte Boisenberg. “Dass so ein Raufbold sich mit dem kleinen Kugler anfreundet?“
“Von den Jungs sieht keiner so aus, als sei er freiwillig auf dieser Party“, sagte ich.
Ich hatte beobachtet, wie sie von ihren Eltern vorhin zu Kuglers Grundstück gebracht wurden. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Jungen sich an die Beine ihrer Mütter und Väter geklammert hätten, um nicht da bleiben zu müssen.

Ich behielt die Szene im Blick und fragte Boisenberg:
“Was hat das mit der Münze zu bedeuten? Warum stellen Sie das Geld auf die Liege und fluchen, sobald es umfällt, wenn Sie aufstehen? Wollen Sie mit dem Trick ins Fernsehen?“
Mein Nachbar drückte die Hand zusammen, in der das Geldstück lag. Auch er beobachtete Kuglers Grundstück. Richard Kugler lief gerade die Reihe der Jungen vor der Rutsche ab. Er korrigierte ihre Abstände und nahm die silberne Trillerpfeife in den Mund.
“Ich sage es Ihnen, aber Sie müssen das für sich behalten!“
“Ich verspreche selten etwas. Kommen Sie, verraten Sie es mir.“
“Wie Sie richtig beobachtet haben, stelle ich die Münze auf den Rand. Sie fällt so bei der kleinsten Erschütterung um. Es ist übrigens Katjas Liege, auf die ich sie stelle. Sie will immer links sitzen, wenn es draußen warm ist.“
“Warum ist das wichtig? Ich meine, spielt das ein Rolle für ...“
“... eine Blinde?“

Ich schluckte und sah auf die Gießkanne herunter, die ich bei mir trug. Ich hatte etwas außerordentlich Blödes gesagt.
Die Pfeife schrillte und rettete mich vor Boisenbergs beleidigtem Blick.
Boisenberg stand bei der Rutsche und deutete dem ersten Jungen vor der Leiter an, dass er sich sputen sollte. Es war der füllige Schöfer-Junge, den die anderen Kinder Riegel nannten. Riegel kletterte die Sprossen hoch. Man konnte die Rutsche unter seinem Gewicht bis zu uns herüber knarren hören. Das Gestell wackelte, als der Junge sich hinsetzte, doch er war zu schwer und blieb oben sitzen. Kugel pfiff und zog Riegel an den Armen die Rutsche herunter. Riegel landete auf dem harten Rasen und verzog das Gesicht.

“Ist schon OK“, sagte Boisenberg und überspielte meinen Fehltritt.
“Katja würde es stören, wenn sie nicht auf ihrem gewohnten Platz sitzen kann. Sie spürt jede Veränderung, seit sie blind ist. Sie kann genau einschätzen, vor wie viel Minuten ein Herd ausgeschaltet wurde. Katja weiß, wann es regnen wird, Stunden, bevor der erste Tropfen fällt. Sie hat, entschuldigen Sie, ´übernatürliche Kräfte´ seit ihrem Unfall. Sie lacht, wenn sie das sagt, wenn ich das doch auch nur tun könnte.“
“Es ist mir aufgefallen, dass sich Ihre beiden Gartenliegen immer berühren. So ist das, wenn sich zwei wirklich lieben, dachte ich immer.“
Boisenbergs Blick sagte “Wie wahr“, dann wechselte er zu reiner Verzweiflung.
“Sie will es eben spüren können, ob ich neben ihr sitze oder nicht. Dann kann sie mich fragen, wohin ich gehe, wenn ich von meiner Liege aufstehen will. Ich habe ihr nach dem Unfall schwören müssen, sie niemals allein zu lassen.
Sie wollten den Zweck meiner Übung wissen: Wenn ich es schaffe, die Münze auf der Liege stehen zu lassen, wecke ich auch meine Frau nicht auf, wenn sie mal eingeschlafen ist. Dann kann ich sie überlisten und den Garten kurz verlassen.“
“Sie wollen die Frau überlisten, die Sie lieben?“, fragte ich.

“Ich meine es ja nicht böse. Sie müssen nicht Tag und Nacht mit Ihrer Freundin verbringen. Katja klebt an mir seit unserem Unfall und erinnert mich so an mein Versprechen, sie nie alleine zurück lassen. Wissen Sie, wie viel Liebe es kostet, um das aushalten zu können?“
“Wo ist Katja jetzt?“, fragte ich.
“Sie ist zu ihrer Schwester gereist. Sie besucht ihre Schwester einmal im Jahr für eine Woche, bevor der Sommer beginnt. Nur in dieser Zeit kann ich üben.“
Die Trillerpfeife war wieder zu hören. Richard Kugler hatte sie an Marc weitergegeben. Sein Sohn schritt die Reihe seiner Geburtstagsgäste ab, die immer noch vor der Rutsche standen. Er wog die Pfeife in der schmalen Hand und schien an die Macht zu glauben, die sie ihm verlieh.
Kugler flüsterte mit seinem Sohn, ging durch den Garten zum Haus und drehte sich an der Verandatür um. Die drei Jungs verfolgten ihn mit ihrem Blicken und konnten es nicht erwarten, bis er verschwand. Kugler hätte Marc auch in einem Raubtierkäfig zurücklassen können. Marc drehte die Pfeife an einer Kordel um seinen Zeigefinger. Er stellte sich neben die Rutsche und nahm die Trillerpfeife zwischen die Lippen.
“Haben Sie ihre “List“ denn schon mal ausprobiert?“, fragte ich.
“Das habe ich, letztes Jahr, und es hat geklappt“, sagte Boisenberg.
“Ich wartete, bis Katja eingedöst war. Es wurde aufregend, als ich es das erste mal probiert habe. Ein Banküberfall kostet bestimmt weniger Nerven, aber es lohnte sich. Katja hat nicht gemerkt, wenn ich sie im Garten alleine ließ, während sie geschlafen hat. Ich bin auch nie lange fortgeblieben, aber es war jedesmal wie ein Urlaub für mich. Das Haus ist zu hellhörig, da drin klappen solche Tricks nicht.“

“Sie weiß alles“, sagte ich.
“Es ist doch kein Verbrechen, dass ich mal alleine sein will ...
Was sagen Sie da? Was haben Sie gerade ...?“
Boisenberg trat einen Schritt zurück, damit er den Wahnsinnigen besser beobachten konnte, der da plötzlich vor ihm aufgetaucht war.
“Herr Boisenberg, Sie weiß von Ihrem Trick.“
Ich plapperte weiter und war dabei, einen kleinen Hundehaufen in eine Güllegrube zu verwandeln. Boisenberg schüttelte den Kopf und lachte. Sein Lachen war kurz und zynisch.
“Was soll der Blödsinn? Wir mögen immer gute Nachbarn gewesen sein, aber irgendwo ist Schluss ...“
“Sie hat es mir gebeichtet“, sagte ich.
“Im letzten Spätsommer. Sie hatten sich gerade davongeschlichen, da ist sie zu uns an den Zaun gekommen. ´Sehen Sie in meine Augen´, hat sie gesagt. ´Entdecken Sie darin irgendwas Ungewöhnliches?´, hat Katja mich gefragt. Ich habe das verneint, was sollte ich dort entdecken können?
´Ihr Hemd gefällt mir´, hat sie gesagt. ´Das Gelb würde auch meinen Mann stehen, wenn er so schlank wie Sie wäre. Ich hab´ ja eigentlich auch zuviel auf den Hüften. So dünn wie Ihre Freundin werde ich niemals werden.´
Dann hat Katja meiner Freundin zu gewunken. Als sie unser Staunen gesehen, ja, gesehen hat, musste sie lachen.“

Boisenberg war rot angelaufen. Seine unsteten Augen verrieten das Chaos, das nun in seinem Kopf herrschen musste.
“Sie hat Sie sehen können? Aber, wie ...? Hören Sie sofort auf damit.“
Spätestens jetzt hätte ich mich verabschieden und die Stadt verlassen sollen. Stattdessen redete ich weiter. Selbst der dickste Knebel hätte mich nicht stoppen können.
“Ich müsse ihr glauben, hat sie damals gesagt. Sie konnte mir die Gewitterwolken beschreiben, die sich am Horizont auftürmten.
Das Wunder würde aber immer nur so lange dauern, bis Sie wieder auftauchen, Herr Boisenberg. Nach Ihrer Rückkehr wäre Katjas Heilung vorbei. Es würde dann wieder finster werden und Katja müsse sich an Geräuschen, Gerüchen und unheimlichen Ahnungen orientieren.
´Ich kann sehen, wenn er geht. Ich werde blind, wenn er zurückkehrt´, hat sie damals gesagt.“

Boisenberg winkte mit beiden Händen ab. Er wurde ruhiger und versuchte, den Vernünftigen zu spielen. Die langen, unnatürlichen Pausen zwischen seinen Sätzen sorgten dafür, dass ihm das nicht gelang.
“Nehmen wir an, Katja ist tatsächlich letzten Sommer an Ihren Zaun gekommen. Das heißt gar nichts. Sie hat Sie an der Nase herumgeführt, das sage ich Ihnen. Sie kann ganz schön zynisch werden.“
“Wie hat sie dann meine Kleidung und die Gewitterwolken beschreiben können?“
“Katja ist nicht als Blinde geboren worden. Sie hat Sie bestimmt früher in Ihrer Lieblingfarbe gesehen. Und ich habe Ihnen verraten, dass Katja ein aufziehendes Gewitter Stunden vorher spüren kann.“
Boisenberg deutete mit erhobenen Zeigefinger in meine Richtung.
“Sie hat es anfangs auch nicht verstanden“, sagte ich.

“Als es das erste mal passierte, hielt sie es für einen Traum. Beim zweiten mal begriff Katja, warum sie plötzlich wieder sehen konnte und auch, warum das nicht anhielt. Ihre Frau ist dabei gelassen geblieben und ich bewundere sie dafür. Ich hätte die Welt zusammen geschrien.“
“Sie hat gesagt, dass es dann geschieht, wenn ich nicht da bin?“, fragte Boisenberg.
“Katja hat mir erzählt, dass es immer gleich abläuft. Sie stellt sich schlafend. Kaum, dass Sie den Garten verlassen haben, öffnet Ihre Frau die Augen und wird von den ersten Lichtstrahlen geblendet. Alles taucht aus den Schatten auf. Dann sieht sie jedes Blatt und jede Blume, entdeckt die Ameisen, die auf ihrer Liege entlangwandern und erkennt jede Farbe um sie herum. “
Boisenberg hatte sich beruhigt. Er stützte sich auf den niedrigen Gartenzaun.
“Ich habe nie ein Versprechen so bereuen müssen wie das eine, das ich Katja nach dem Unfall gegeben habe. Ich habe kaum eine Minute mehr für mich. Aber ich liebe nun mal diese dumme, dumme Frau. Jetzt kann ich mir den gestrigen Anruf erklären.“
“Hat Katja mit Ihnen telefoniert?“
“Ihre Schwester war am Apparat. Sie hat gefragt, ob mir Katjas Blindsein nicht allmählich auch merkwürdig vorkommen würde. Sie hat mich einen Ignoranten genannt und aufgelegt.
Als ich meine Frau letztes Jahr im Garten zurückgelassen habe und sie das gemerkt hat, muss sie schreckliche Angst bekommen haben.“
“Und sie konnte wieder sehen, weil sie sich vor dem plötzlichen Alleinsein fürchtete. Sie denkt das zumindest, so hat sie es mir erzählt. Wir müssen ihr glauben. Katjas Pupillen haben sich zusammengezogen, als sie damals in die Sonne geschaut hat. Sie ist nicht wirklich blind, ist was mit der Psyche, denke ich.“

Boisenberg drehte sich von mir weg. Die schlanke Zypressen im Hintergrund neigten sich im Wind, als er sich auf die Liege seiner Frau setzte. Boisenberg hockte dort mit offenem Mund und leeren Blick. Seine Hilflosigkeit machte mir klar, was ich eben angerichtet hatte. Katja hätte es ihm selber sagen müssen. Was mischte ich mich in Dinge ein, die mich nichts angingen?

Ein Folge von hektischen Pfiffen wehte von Kuglers Grundstück herüber. Wir sahen in Kuglers Garten. Die drei Jungen hatten Marc in die Höhe gehoben und trugen ihn fort. Ihre Gesichter sprachen von einem unvergesslichen Kindergeburtstag. Marcs Feuermal glühte. Er blies in die Pfeife, so oft er konnte, aber sie hatte ihre Macht verloren und beeindruckte seine Entführer nicht. Kuglers Sohn stand eine Tauchstunde im nahen Baggersee bevor.
Ich würde Marcs Vater alarmieren, sobald ich mich um meinen Nachbarn gekümmert hatte. Es wurde Zeit, dass ich heute mal etwas Nützliches tat und nicht nur Schaden anrichtete.
Boisenberg war aufgestanden und zu mir zurückgekehrt.

“Ich werde Katja bald wieder im Garten allein lassen. Ich möchte, dass Sie dann dabei sind“, sagte er. Er starrte mit in die Augen, während der warme Wind uns umwehte und die Blätter rascheln ließ.
Ich nickte Boisenberg zu und machte mich auf den Weg zu Kugler.






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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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