“Kennst
du die Geschichte von dem Mann, der...”
Frederik
verdrehte die Augen und seufzte leise. Sein Freund konnte zu einer
waschechten Nervensäge werden, wenn er einige Bier intus hatte.
Natürlich kannte er die Geschichte des Mannes, der...
Er
kannte sie alle. Sämtliche Geschichten von Männern, die...
So
fingen alle Witze seines Freundes an. Nicht “Kennst du den...”
oder “Was ist der Unterschied zwischen...”. Nein, immer waren es
“die Leute, die...”.
Als
Ludwig in schallendes Gelächter ausbrach (er selbst war übrigens
der Einzige, der über die eigenen Witze noch lachen konnte),
wusste Frederik was er zu tun hatte. Belustigt, wenn auch nur
vorgetäuscht, schlug er seinem Freund auf die Schulter und
fragte, ob er noch einen kannte. Das tat er immer und wie immer
bereute er es einen Herzschlag später. Der Kahle neben ihm an
der Theke war ein wahres Sammelsurium an “Geschichten von Männern
oder Frauen, die...”.
“Warum
erzählst du denn nicht mal was?”
Ludwigs
Frage traf Fred völlig unvorbereitet und er wußte im
ersten Moment nicht was er antworten sollte. Sein Freund bat ihn
darum etwas zu sagen. Was war los? Waren dem guten, alten Ludwig die
Geschichten ausgegangen? Kannte er niemanden mehr, der...?
Fast
war er versucht von seinem Barhocker aufzuspringen und lauthals zu
verkünden: “Mein Kumpel möchte, dass ich rede. Mein
Kumpel kennt keine Geschichten mehr von Leuten, die... Halleluja, die
Labertasche Ludwig ist sprachlos. Ein dreifach Hoch auf seine
beschränkte Intelligenz.”
Statt
dessen zuckte Frederik lediglich mit den Schultern, widmete sich
seinem Bier und meinte: “Du weißt doch, dass ich kein großer
Komiker bin. Das überlasse ich lieber den Menschen, die dazu
geschaffen wurden.”
“Tja,
an mir ging ein großes Talent verloren”, entgegnete der Kahle
mit sorgenvoller Stimme. “Wenn damals nicht...”
Oh
nein. Bitte, lieber Gott, nein. Ludwig philosophierte über das
Wenn und Aber seines verkorksten Lebens. Seine Witze konnten einem
schon den letzten Rest Hoffnung auf eine bessere Welt rauben, aber
dies hier war der absolute Partykiller. Scheinbar war der Mann dazu
geboren, jede noch so gute Stimmung zu vermiesen. Entweder brachten
seine Geschichten über Leute, die... oder sein Selbstmitleid
jede lustige Gesellschaft an den Rande des Nervenzusammenbruchs.
Frederik
hatte sich einmal gefragt, warum man sie beide nicht mehr einlud,
warum sich die anderen Freunde von ihnen abgekapselt hatten. Nun, es
war eindeutig. Die Nervensäge an seiner Seite lieferte ihm den
einzig wahren Grund dafür.
Ludwig
ratterte seinen Frust zur Hälfte herunter, stand dann wortlos
auf und ging zur Toilette. So tat er es immer. Mitten im Gespräch
- auch wenn es niemanden gab, der sich tatsächlich für das
Gesagte interessierte - merkte der Glatzkopf grundsätzlich, dass
ihn die Blase drückte.
Besonders
ärgerlich war das, wenn man einmal selbst zu Wort kam und etwas
wirklich Bemerkenswertes zu erzählen hatte. Solange der gute
Ludwig Witze machen konnte, schien das Bier seinen Inneren Organen
nicht einmal aufzufallen. Doch wurde die Unterhaltung ernst, verzog
er sich auf sein über alles geliebtes Klo - und das alle fünf
Minuten.
Ein
wahrhaft seltsamer Kauz.
Ohne
einen weiteren Gedanken an sein tristes Leben und die Blase seines
Freundes zu verschwenden, widmete sich Frederik seinem abgestandenen
Bier und genoss die Ruhe. Aber die hielt nicht lange an.
Ein
schmaler Kerl mit dem Gesicht einer verhungerten Ratte setzte sich
neben ihn und starrte ihn aus riesigen Augen an, die durch
unglaublich dicke Brillengläser nur noch gewaltiger erschienen.
Sein Mund war nicht ganz geschlossen, die mächtigen
Schneidezähne verhinderten es wahrscheinlich. Rabenschwarzes
Haar glänzte schmierig im dämmrigen Kneipenlicht und sein
dunkelblauer Anzug mochte auch schon bessere Zeiten erlebt haben.
So
saß nun Rattengesicht neben ihm, betrachtete unablässig
den immer nervöser werdenden Frederik.
Was
wollte der Idiot von ihm? Suchte er etwa Streit?
Nein,
mit Sicherheit nicht. Fred war groß, breitschultrig und
muskulös. Er könnte den Nager ungespitzt in den Holzboden
rammen. Vom anderen Ufer war der Typ bestimmt auch nicht. Fred hatte
den Typen beim Hereinkommen schon kurz bemerkt als er mit einem
unglaublich schönen Mädchen an einem der Tische gesessen
und sie inbrünstig geküsst hatte. Wer ein solches
Rattengesicht liebkoste, war unweigerlich eine perverse Sodomistin,
waren seine Gedanken gewesen.
Nun
musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und
mit dem widerlichen Kerl eine Unterhaltung starten. Langsam wurde die
Situation unangenehm. Trotz allen Unbehagens, obwohl der kleine Wicht
die gesamte Atmosphäre zerstörte, entschloss sich Fred, ihn
nicht weiterhin zu ignorieren. Dazu war der Nager zu aufdringlich.
Seine Blicken taten ja beinahe schon weh. Frederik fragte gereizt und
etwas lauter als beabsichtigt: “Was ist los, Mann?”
Ratte
verzog die Mundwinkel zu einem blöden Grinsen, das vermutlich
ein Lächeln darstellen sollte, blieb jedoch stumm.
Fred,
der die ganze Zeit einen direkten Blickkontakt gemieden hatte, drehte
sich um und schaute den dürren Mann drohend an.
“Hören
Sie, auf diesem Stuhl sitzt mein Freund und der kommt bald zurück.
Er steht nicht besonders gerne und ich sorge dafür, dass er
nicht stehen muss. Also sagen Sie schnell was Sie wollen oder mit wem
Sie mich verwechselt haben und dann - VERSCHWINDEN SIE!”
Der
abstoßende Kerl neben ihm machte keine Anstalten, sich zu
bewegen, sondern grinste einfach weiter. In Fred breitete sich das
Gefühl aus, dass sich Ratte nur über ihn lustig machen
wollte.
Drohend
erhob er sich langsam, hielt aber in seiner Bewegung inne, als er die
dünne, piepsige Stimme des unliebsamen Barnachbarn hörte:
“Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der jenseits des grauen
Meeres lebt?”
Nein,
nicht noch so ein nervtötendes Individuum. Nicht ein zweiter
Ludwig Salber. Wie konnte Gott so grausam sein und mehrere von dieser
Sorte fabrizieren?
Eigentlich
wollte Fred das Gespräch schnell beenden und war gerade dabei,
sich resigniert abzuwenden, als Ratte abermals in sein Ohr quiekte.
“Warten
Sie, hören Sie mir zu. Es könnte ihrem Freund das Leben
retten.”
“Was
soll der Scheiß? Ludwig geht es gut!”
“Dieser
Ludwig, ihr Freund, ist eine ziemlich graue Maus und für den
Mann jenseits des grauen Meeres genau das Richtige.”
Im
Grunde wollte Frederik nichts hören. Schon gar nicht von einem
Verrückten der aussah, als würde er jeden Abend an einem
Stück Käse knabbern und in einem winzigen Loch schlafen.
Der Spinner hatte es jedoch geschafft, seine Neugierde zu wecken. Das
hörte sich nicht wie der Anfang eines bescheuerten Witzes an.
Entgegen seiner Überzeugung ermunterte er Ratte fortzufahren,
auch wenn es sich mehr als Drohung anhörte.
Dieser
hätte auch ohne Ansporn weitergesprochen. Ihm schien Ludwigs
Wohlbefinden tatsächlich am Herzen zu liegen.
“Die
Sache ist ganz einfach. Jenseits des grauen Meeres lebt ein alter
Mann und sammelt schlechte Witze. Er mag verdorbene Pointen und
Späße, über die kein normaler Mensch lachen kann,
weil sie zu platt sind, zu primitiv oder einfach nur nicht
komisch.
In
seiner Welt gibt es keine Farben und Leute, deren Seelen grau und
eintönig sind, ziehen ihn an. Ludwig kommt da gerade recht. Er
ist der perfekte Verlierer und versucht, sich mit Albernheiten in ein
besseres Licht zu rücken. Mit Witzen die keiner lustig findet,
weil Ludwig nicht lustig sein kann.
Heute
ist der Alte wieder auf Jagd und ich weiß, dass er ganz in der
Nähe ist. Bleiben Sie bis zum Morgen immer in der Nähe
ihres Freundes. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.”
Fred
musste lachen. So einen Schwachsinn hatte er in seinem ganzen Leben
noch nicht gehört. Bildete sich Ratte etwa ein, er würde
den Quatsch ernst nehmen?
“Wir
sind doch sowieso die ganze Nacht hindurch zusammen und es kommt
selten vor, dass wir vor Morgengrauen nach Hause kommen.”
“Ach”,
meinte der Nager anklagend, “und wo ist ihr Freund jetzt?”
Ein
lauter Seufzer entrann Freds Kehle: “Mein Gott, er wird doch wohl
noch alleine aufs Scheißhaus gehen dürfen.”
“Wie
Sie meinen. Das graue Meer kann nur selten überquert werden und
der alte Mann wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Vielleicht hat er Ludwig schon erwischt. Aber Sie müssen mir
natürlich nicht glauben.”
Es
war absurd. In Frederiks Magen rumorte es gewaltig. Ihn überkam
beinahe panische Angst. Die Geschichte war mehr als absurd und völlig
hirnrissig. Ein Schauermärchen, das man naiven Kindern auf die
Nase binden konnte.
Trotz
allem verließ der große Mann die Bar und machte sich auf
den Weg zu den Toiletten. Seine Schritte wurden immer schneller und
als er die schmutzige Schwingtür erreichte, auf der billige
Aufkleber befestigt waren, glaubte er aus dem Innern des Raumes ein
leises Rauschen hören zu können.
All
seine Sinne rieten ihm, die Tür auf gar keinen Fall zu öffnen,
aber die Sorge um seinen besten Freund (auch wenn er nervte)
veranlasste ihn zu einer wahren Heldentat. Was sollte ihn schon
dahinter erwarten? Graues Meer. So ein Scheiß.
Mit
Schwung stieß Frederik die Tür auf und sah vor sich ein
ganz normales Klo. Nur die linke Wand fehlte. An ihrer Stelle sah man
auf einen gewaltigen Ozean, grau und bedrückend düster. Der
Himmel war schwarz und sternenlos. Nebel ließ die Szenerie
gespenstischer erscheinen als sie ohnehin war. Weit entfernt
entdeckte er eine kleine Insel mit drohend wirkenden Felsen,
skelettartigen Bäumen und den Lichtern eines ziemlich
bescheidenen Häuschens.
Dieser
Anblick allein hätte genügt einen gestandenen Mann aus den
Schuhen kippen zu lassen, aber zu seiner Rechten spielte sich ein
weitaus schrecklicheres Geschehen ab.
Ludwig
lag bäuchlings auf den ehemals weißen Fliesen, die durch
unzählige Fußabdrücke mehr zu einer bräunlichen
Farbe übergegangen waren und zuckte gleich einem Fisch, den man
aus seinem natürlichen Lebensraum gerissen hatte. Über ihm
stand ein greiser Mann mit langem, schlohweißem Haar.
Der
Alte beugte sich über Ludwig und fummelte in seinem geöffneten
Schädel herum. Er riß die graue Hirnmasse aus dem
blutbesudelten Kopf, betrachtete sich das Gebilde eingehend und
suchend, drehte sie im Licht der flackernden Neonröhren hin und
her, fand schließlich die Stelle, die er gebraucht hatte und
biß hinein.
Das
schmatzende Geräusch, als sich Teile des Gehirns lösten und
in seinem - trotz des Alters nicht zahnlosen - Mund verschwanden,
drehte Fred endgültig den Magen um. Er übergab sich auf der
Stelle.
Kauend
wandte sich der alte Mann ihm zu und lächelte.
“Das
wirkliche Lachen kommt aus dem Bauch”, sagte er, drehte den bereits
verschiedenen Ludwig mit einem kräftigen Fußstoß auf
den Rücken und stieß seine Hand tief in den reglosen Leib.
Scheinbar
fand er nicht gleich das, was er suchte. Knochen barsten, Sehnen
rissen, rosafarbenes Fleisch, das irgendwie wie Zuckerwatte aussah,
wölbte sich nach außen und dann hielt der Weißschopf
einen langen Schlauch in der Hand. Um welchen Darm es sich dabei
handelte, wußte Fred nicht zu sagen. Es interessierte ihn auch
nicht im Geringsten. Ihm machte vielmehr die Übelkeit zu
schaffen, die einfach nicht weichen wollte.
Das
triumphierende “HAHA” weckte abermals die Neugierde des von
eigenem Erbrochenem bedeckten Mannes. Sein Blick richtete sich auf
den Alten, der siegessicher den Magen des toten Kneipenbruders und
einstigen Freundes empor hielt.
Mit
seiner Beute ging der Mann, der jenseits des grauen Meeres lebte, auf
sein Boot zu, das halb auf den Fließen lag. Pfeifend stieg er
ein und ruderte davon.
Fred
sah ihm nicht mehr nach. Er sank auf die Knie, sein Verstand floh in
eine andere Welt, aus der er niemals wieder zurückkehren wollte.
Wenn dies die Realität war, erschien ihm der Wahnsinn weitaus
gemütlicher und beruhigender.