Birgit Wolf

Eine italienische Dezembernacht

 

Kalt war es an diesem trüben Nachmittag im Dezember, darüber konnten auch die flackernden Lichter in den Fenstern nicht hinweg täuschen. Es wirkte, als würde der kleine Ort in der Nähe von Triest einen erschöpften Winterschlaf halten. Die meisten Cafés, Gaststätten und Geschäfte hatten bereits geschlossen, denn im Winter gab es hier keine Urlaubsgäste und nichts zu verdienen.

Anna zog den grauen Baumwollschal enger um ihren Hals und rieb gedankenverloren über die Ärmel ihres dunklen Mantels, als würde die Bewegung ihrem Körper die nötige Wärme geben. Während sie auf den Bus wartete, der sie seit so vielen Jahren am Ende des Tages nach Hause brachte, beobachtete sie die Leute aus der gegenüberliegenden Apotheke, die ihre Jacken und Mäntel anzogen, die Türen verschlossen, das Licht löschten und sich auf den Weg nach Hause machten. Nach Hause, dachte Anna, nach Hause... wo ist das eigentlich?

Sie schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken, und ihre schmalen Finger wickelten sich gedankenverloren um eine Strähne ihrer schwarzen Haare, die in den letzten Jahren mehr und mehr von zarten silbergrauen Strähnen durchzogen wurden.

Fast unmerklich setzte sich ein großer, schmaler Mann auf die Bank an der Bushaltestelle.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Anna zunächst nur eine hoch gewachsene Gestalt in einem schmal geschnittenen grauen Stoffmantel, schwarze hohe Stiefel und einen Kopf, der sich in einen dunklen Schal vergrub, als wäre er voller Trauer oder unendlich müde.

Irgendetwas an dem Mann, etwas Unerklärliches, ließ Anna aufmerksam werden. Sie spähte verstohlen zu dem Unbekannten hinüber.

Himmel, dachte sie und spürte etwas in ihrem Herzen, was sie seit über 30 Jahren vergessen geglaubt hatte, genau so hat Marcello damals neben mir gesessen, an dem Tag, an dem er aus Triest weg ging.

Sie schluckte und fühlte etwas Schweres in ihrer Brust, als würde ein Knoten ihr den Atem nehmen. Dummes altes Mädchen, schalt sie sich selbst, Marcello ist schon so lange fort, das ist nur so ein kindischer Gedanke, die Erinnerung spielt dir einen Streich.

Sie schüttelte sich ein bisschen und starrte in den feinen Nieselregen, der den kleinen Ort mit einem weichen Film überzog. Den vorsichtigen Seitenblick den großen Mannes am anderen Ende der Bank schien sie nicht zu bemerken.

Zäh und unendlich langsam vergingen die Minuten des Wartens auf den Bus.

Vielleicht sollte ich den Herrn einfach ansprechen, schlich sich ein vorwitziger Gedanke voller Hoffnung in ihren Kopf, vielleicht sollte ich ihn fragen... wenn er es ist, wer weiß, vielleicht ist er es wirklich... der Mann, den ich geliebt habe wie keinen anderen vor oder nach ihm, vielleicht sitzt die Liebe meines Lebens neben mir auf der Bank, jetzt, am Ende meiner Zeit, jetzt, wo ich schon alt bin... Wer weiß...

Annas Augen wurden schmal und ihre Lippen pressten sich zusammen, als der Bus mit einem quietschenden Bremsgeräusch hielt und sich die Türen öffneten.

Es war nicht der Bus, auf den sie wartete, sondern die Linie 5, die immer kurz vorher in Richtung Triest fuhr.

Ihr Herz begann heftig zu pochen, als der Mann am Ende der Bank aufstand und auf den Bus zu ging. Er lief langsam und ein wenig mühselig, als würde er ungern fahren.

Wie Marcello damals.

Anna legte im Schutz der Dunkelheit ihren Kopf ein wenig auf die Seite und beobachtete ihn beim Einsteigen. Schade, dachte sie, als sich die Tür mit einem dumpf zischenden Geräusch hinter ihm schloss, die Straßenlaternen spiegeln sich in den Fensterscheiben, und ich kann ihn gar nicht mehr sehen. Nun ist es zu spät.

Jetzt fährt der Bus ab, und ich werde nie erfahren, ob er es war – aber er war es sowieso nicht, Anna, altes Mädchen, bilde Dir nichts ein, die Fantasie hat dir einen Streich gespielt,

das muss wohl an der Weihnachtszeit liegen und daran, dass du zu lange allein warst...

Behäbig setzte sich der Bus in Bewegung und rollte blinkend zurück auf die Landstraße.

Anna stand fröstelnd auf, um ein paar Schritte zu laufen und sich aufzuwärmen, aber im Grunde war es ein Reflex, um dem Wagen hinterher zu sehen.

Es war nur ein winziger Augenblick, den der Bus brauchte, um seinen Standplatz zu verlassen, und doch spürte Anna die Hitze der aufsteigenden Tränen in ihren Augen.

Als das Heck des Wagens zur Seite rollte, rieb sie sich ungläubig die salzigen Tropfen aus dem Gesicht. Auf der anderen Seite, mitten auf der Straße, stand eine große, schmale Gestalt und sah sie an.

Es brauchte keine Worte und keine Gesten.

Vor 30 Jahren bist Du gegangen, sagte Annas Herz, und es war, als hätte es diese Zeit nie gegeben. Aber heute bist Du geblieben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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