Gesa Birkel

Welten

Der letzte Ton verklingt. Er blickt von seinem Flügel hoch und schaut aus dem großen Fenster hinaus in den hellblauen Morgenhimmel. Mit drei großen Schritten erreicht er das Fenster, öffnet es, schließt die Augen und nimmt einen tiefen Atemzug.

Unwillkürlich breitet er die Arme aus, als wollte er den Tag umarmen, noch mehr von dieser köstlich klaren und schon wärmenden Märzluft in sich aufnehmen, sie nie wieder loslassen. Er blinzelt ein wenig in die Morgensonne, auf seinen Lippen verspürt er diesen leicht salzigen Geschmack, wie immer, wenn der Wind vom Meer kommt. Das Haus steht in den Dünen, ein Brettersteg führt durch sie hindurch zum Meer. Es ist diese Weite, die nahe Unendlichkeit, die ihn inspiriert, die raue Sanftheit, die ihn berührt, die Ruhe, die ihn besänftigt.

Manchmal, nachts, war sie noch da, seine Vergangenheit. Dann wälzte er sich unruhig hin und her, schwitzend, schwer träumend. Noch vor einem Jahr befand er sich auf dem Grunde seiner Existenz, in einem einzigen Wahnsinn zwischen Unordnung, Termindruck, Wut, Hass, Verzweiflung und der gefühlten Unfähigkeit, sich auch nur einen Millimeter bewegen zu können, ohne dass auch noch der letzte Rest seines Lebens zusammenbrechen könnte.

Er ist ein Kämpfer, ja, und er kann durchhalten, ist stark, sogar sehr stark. Zu stark?

Er sehnte sich doch so sehr danach, sich auch einmal fallen zu lassen, aufgefangen, gehalten und getragen zu werden. Lange Zeit gestand er sich diesen Wunsch selbst nicht ein. Er hatte es gelernt, immer stark zu sein. Er gab den Menschen und dem Leben immer mehr, als er für sich nahm. Innerlich spürte er aber, dass das Leben ihm eines Tages alles zurückgeben würde.

Er zuckt leicht zusammen, als sie sanft seine Schulter berührt. Da steht sie, so schön und lächelnd, mit einem Espresso in der Hand. Seit sie täglich zusammen waren, verstanden sie sich fast ohne Worte.

„Schatz, der Postbote war schon da", sagt sie beschwingt und wedelt mit einem unscheinbaren Brief aufgeregt vor seiner Nase. Augenblicklich schießt ihm das Blut in den Kopf und durch den ganzen Körper, ein Adrenalinstoß wie tausend Nadelstiche unter der Haut, sein Herz rast laut hämmernd. Zitternd nimmt er den Brief in die Hände, fast ehrfürchtig versucht er mit den Fingern zu erfühlen, was der Inhalt sein mochte und öffnet ihn vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen.

Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet? In seinem Kopf war das Manuskript seit Jahren fertig und er verfeinerte es immer mehr. Nur zu Papier brachte er es nicht. Es war nie der richtige Zeitpunkt. Sein Leben gestaltete sich als der Wahnsinn auf Erden, seine letzte Beziehung lag zerrüttet und in Trümmern, die Arbeit fraß ihn auf, er war auf der Suche nach einer neuen Existenz.

Damals - das klang wie eine kleine Ewigkeit her. Damals vor etwas mehr als einem Jahr sah er immer wieder die andere Seite, diese Seite, des Lebens. Nach jedem Mal, wo er diese Seite betreten hatte, fiel ihm die Rückkehr in sein altes Leben schwerer, es wurde unerträglich, er begann zu kränkeln, verfiel in Depressionen.

Auch ihr fielen die Trennungen furchtbar schwer, sie tauchte , nachdem er fort war, jedes Mal ab in verzweifelte Selbstzerfleischungen. Ja, es war furchtbar schwer für ihn, sie auch noch aufzufangen. Er spürte aber, dass sie es war, für die er es immer wieder tun würde, weil nur sie noch zu seiner Seele durchdringen konnte. Er wusste nicht, wie sie es machte, aber sie berührte ihn, streichelte seine Seele. Vielleicht war es ihre unschuldige Naivität? Von ihr fühlte er sich nicht bedroht, sie stand nur neben ihm, empfindsam, fühlend und mitfühlend, sie konnte er zulassen.

Kurz vor dem Jahreswechsel, nach seinem Besuch bei ihr, begann sie das erste Mal zu schreiben, schickte ihm nachts volltrunken einen Link zu einer Internetseite, auf der sie ihre Kurzgeschichten hochgeladen hatte. Später gestand sie ihm, dass sie es nüchtern wohl niemals getan hätte und im Morgengrauen noch überlegte, als der Rausch nachließ, die Inhalte ihrer Geschichten zu löschen. Andererseits waren es nur Geschichten, halbe Wahrheiten. So beließ sie es dabei.

Dass sie es tat, stellte sich kurze Zeit später als Wegweiser für ihn heraus. Für ihn stand fest, dass nichts im Leben durch Zufall geschieht, sondern dass sich das Ziel des Weges irgendwann zeigen würde, sofern er nur aufmerksam auf die Zeichen achtete. Um nüchtern vom Leben zu werden betrank er sich an jenem Abend im Januar mit seinem Lieblingswhiskey, er hasste sich dafür. Er hasste sich jedes Mal, wenn er trank, verachtete sich fast dafür. Aber das Trinken schärfte seinen Verstand, ließ seine Gefühle verstummen, ließ ihn die Realität auf das Wesentliche reduzieren. Noch während er trunken auf die Trümmer seines Lebens schaute schlich sich aus dem Nichts heraus dieser Gedanke und dieses Gefühl in sein Bewusstsein: Es war an der Zeit, dass er schreiben sollte! Wenn nicht jetzt, wann dann? Dann war nie der richtige Zeitpunkt. Nein, jetzt sollte es sein! Gut, jetzt sofort ging nicht, denn er brauchte ein Mindestmass an Ordnung - in seinem Arbeitszimmer, im Haus, in seinem Leben, in sich selbst. Wo sollte er anfangen? Der erste Gedanke war, einfach alles, was er besaß, loszulassen und bei Null anzufangen. War das möglich? Rückblickend möchte er fast sagen: „Ja!" Zwar nicht bei Null, aber bei 50% war er neu gestartet. Nicht eine Sekunde bereute er seitdem die wohl wichtigste Entscheidung in seinem Leben.

Wie sagte sie so oft? „Zum Glücklichsein brauche ich kein Geld der Welt, nur eine gesunde Seele." Er wollte damals weg, er wollte glücklich sein, sich leicht und frei fühlen, sich in Sicherheit wiegen und schwach sein dürfen, auffangen und selbst aufgefangen werden. Diese Freiheit hatte er gefühlt, jedes Mal, wenn er bei ihr war. Es war eine unbeschreibliche Ruhe bei ihr zu spüren, als tickten die Uhren anders. Warum hatte das Leben ihm diese Frau gezeigt? In dem Moment begriff er. Sie war es, die das Leben ihm gezeigt hatte, sie war es, die ihn neue Wege erblicken ließ, und sie war einfach nur da – sie fing ihn auf, fing seine Seele aus dem freien Fall auf. Schlimmer konnte es zum damaligen Zeitpunkt für ihn nicht mehr werden, nur noch besser! Was würde sie wohl sagen zu seinem Plan?

Innerhalb von zwei Monaten löste er sich von seinem bisherigen Leben, nahm nur die wenigen Dinge mit, die ihm wirklich etwas bedeuteten und machte sich auf den Weg. Sie mieteten sich dieses Haus in den Dünen, standen bei Sturm auf dem Deich und lehnten sich in den Wind.

Hier begann er zu schreiben, endlich! An manchen Tagen sahen sie sich kaum, weil er nachts schrieb, während sie tagsüber arbeitete– und doch wuchs die Nähe zwischen ihnen zu einem Band, das nichts und niemand jemals wieder würde trennen können. Ihre Seelen standen dicht beieinander.

Seine Finger entfalten diesen erlösenden Brief und ein Gefühl unbeschreiblichen Glückes überwältigt ihn. "Mein Manuskript, sie haben es angenommen", sagt er mit bewegter Stimme und küsst sie zärtlich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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