Elyot

Das Drehbuch

Minutenlang saß Jerril einfach nur da. Die Knie angewinkelt. Den Kopf hatte er darauf gelegt. Er saß auf den Steinstufen vor der Leichenhalle des städtischen Friedhofs und dachte nach. Über sein Leben. Über seine Probleme. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen Joint, den er gelangweilt hin und her rollte. Er war 17 und ein Gothic. Schon seit drei Jahren. Und seit einem Jahr Kiffer. Vor einem Jahr hatte auch alles begonnen. Da hatte sein Vater begonnen zu trinken und das hatte ihn fertig gemacht. Er war ständig besoffen, hatte nie zeit zum Reden und schlug ihn wegen Kleinigkeiten. Er hatte begonnen Texte zu schreiben. Zu erst waren es nur Gedichte. Dann schrieb er Geschichten. Und schließlich entwarf er sie für seinen Kumpel Eye, der jede von ihnen in die Tat umsetzte, ganz gleich wie verrückt sie auch sein mochten. Eye war krank, behauptete seine Lehrerin. Er ist ein Psycho, sagten die Klassenkameraden. Eye der Grufti, der sein halbes Leben auf dem Friedhof verbrachte.
Vielleicht war es Zufall, dass sie beide hier waren. Vielleicht war Eye aber auch einfach schon zu lange hier, um es einen Zufall zu nennen. Früher oder später wäre Jerril sowieso hier her gekommen. Einfach nur so wegen der Atmosphäre. Wegen den flackernden Grablichtern im Dunkeln. Sie haben etwas geheimnisvolles, fand Jerril.
„Hey Jerril“, sagte Eye, der plötzlich vor ihm stand.
Jerril hob den Kopf. Er grinste. Wusste selbst nicht warum. Ihm gings doch eigentlich scheiße. Aber er fühlte sich nicht mehr so. Er fühlte sich gut und die Grablichter schimmerten in intensiven Rot. Er drückte den Joint aus.
„Ich hab deine Geschichte jetzt fertig. Alles vorbereitet.“, meinte Eye. „Willst du mitspielen?“
Sie grinsten sich an.
Eye trat an die Türe der Leichenhalle. Der Friedhof war lehr. Sie waren allein.
Eye stocherte mit einer Haarnadel in dem Türschloss herum.
Jerril gesellte sich zu ihm. Wäre er in normalem Zustand gewesen, hätte er gesagt, Eye soll sich einen anderen Helfer suchen. Doch das war er nun mal nicht. Außerdem war das sein Manuskript, dass sie hier nachzuspielen begannen.
War schon spannend irgendwie, als Eye die Türe öffnete und sie im Inneren verschwanden, die Tür hinter sich zugezogen und von innen wieder abschlossen.
Hier drinnen herrschte völlige Finsternis. Die Fenster waren mit Tüchern verdunkelt.
Eye zündete die Kerzen an, die um die beiden Särge herum standen, während Jerril den Sargdeckel öffnete. „Wow“, staunte er. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Es war eine Frau mitte Dreißig. Sie war schon komplett hergerichtet. Die Haare zurecht gekämmt und für den Tod geschminkt. Das Hochzeitskleid für den Sensenmann hatte sie angelegt und an ihren Ohren hingen kostbare Diamantohrringe mit einem Hauch von Blau. „Wow“, sagte Jerril wieder. „Die würden Sabrina gefallen.“ Sabrina war eine Freundin.
Eye beugte sich über die Leiche. „Aber die mitzunehmen steht nicht im Drehbuch.“
„Hatte ich auch nicht vor“, antwortete Jerril.
„Nimm du die Füße“, bestimmte Eye und hob den Kopf der Frau an.
Das war verrückt was sie da machten. Was machten sie da eigentlich? Scheiße bauen? Ja. Das konnte Jerril gut. Er nahm die Füße und sie trugen die Leiche auf den Dachboden des Leichenhauses.
„Vielleicht sollten wir nen Zettel schreiben, dass die beiden oben sind“, überlegte Eye.
„Gute Idee“, nickte Jerril. Er zog einen Zettel aus der Tasche. Schrieb: „Auf dem Dachboden“, drauf und klebte den Zettel mit Wachs auf die Innenseite des Sargdeckels. Das selbe machten sie bei der anderen. „Die beiden liegen schon genau drei Tage hier drin. Ich hab mich informiert, genau wie du geschrieben hast. Gleich morgen früh ist die Beerdigung und wenn der Pfarrer die Worte „Am dritten Tage auferstanden von den Toten zu Ende gesprochen hat, dann kommen wir aus den Särgen und erschrecken sie.“
Sie lächelten sich noch einmal zu, ehe Jerril die Kerzen löschte und sie sich selbst in die Särge legten, die Deckel schlossen und dort einschliefen.
 
 
 
Ein angenehmes Schaukeln und gedämpfte Stimmen ließen Jerril aus der Traumwelt erwachen. Um ihn herrschte völlige Dunkelheit. Ein Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Er wusste nicht wo er war und diese Ungewissheit jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Doch dann wusste er es wieder. Die Erinnerungen kamen. Diese scheiß Erinnerungen an gestern. Scheiße! Was hatte er getan. Er war gestern ziemlich breit gewesen. Hatte nicht gewusst, was er tat. Er hätte sich doch nie in einem Sarg schlafen gelegt, wenn.... wenn....
Er presste die Lippen aufeinander. Gut, es war eine verlockende Vorstellung die Trauergäste zu erschrecken. Es war so gesehen ein genialer Plan. Aber er hatte Angst, vor eventuellen Anzeigen. Wie sollten die denn aussehen? Anzeige wegen Störung der Totenruhe. Chris sagte immer man sollte Respekt vor den Toten haben. Sabrina sagte das auch. Aber irgendwie erschien Jerril das nicht respektvoll.
Aber jetzt war es schon zu spät. Er verschmolz mit den schaukelnden Bewegungen des Sargträgers. Sie waren beruhigend. Liesen ihn runter kommen von der Nervosität, die an ihm nagte.
Weihrauch drang an seine Nasenflügel und er schnupperte daran. Weihrauch roch gut. Aber hier im Sargesinneren war es stickig.
Seltsam. Dass die Bestatter und die Pfarrer und wer da alles für die Beerdigung zuständig war, nicht mehr in die Särge geschaut hatten, um abzuchecken, ob mit den Toten alles in Ordnung war. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, wer da eigentlich in den Särgen liegen sollten. Sie waren doch so gleichgültig, die Menschen.
Jerril dachte an Eye, der wahrscheinlich grinsend in seinem Sarg lag und sich unter aller Anstrengung das Lachen verkniff. Ja. So war Eye drauf. Er wurde nicht um sonst von manchen Leuten Psycho gerufen. Nur gut, dass er sich an Jerrils Drehbücher hielt. Sonst würde ihm vielleicht noch was schlimmes einfallen.
Der Sarg wurde abgesetzt. Die Bewegungen hörten auf und Jerril lag nun einfach nur noch so da. Wenn hier nur ein bisschen Licht wäre. Nur ein kleines bisschen.
 
 
 
Susanne und Johannes weinten bitterlich. Warum musste das nur passieren? Warum musste Maria nur sterben. Und warum zur gleichen zeit wie Großvater Henri? Die Kinder hatten schrecklich geweint. Um ihre Tante, die sie doch so geliebt hatten und Opa Henri. Die beiden Särge, die diese beiden wundervollen verstorbenen Menschen borgen, standen jetzt vor dem Familiengrab auf der Erde. Das Grab war ausgehoben. Der Pfarrer läutete die Glocken und die Beerdigung begann. Susanne klammerte sich an ihren Mann und weinte. Johannes nahm sie in den Arm. Die Kinder waren bei der Oma. Sie sollten das nicht mit bekommen. Oma wollte nicht kommen. Sie hätte es auch gar nicht geschafft. Sie war zu schwach. Sie saß im Rollstuhl.
Jemand schnäuzte sich. Der Pfarrer sprach besinnliche Worte. Ein Ministrand schwenkte den Weihrauchbehälter und starrte gelangweilt über die Friedhofsmauer hinweg.
„Rosen werde ich auf das Grab pflanzen“, dachte Johannes. „Ja Rosen. Die hätten meiner Schwester gefallen.“
„Ich werde ihn nie vergessen, meinen Vater. Er war immer so gut zu mir“, waren Susannes Gedanken, während der Gottesdienst immer weiter Fortschritt.
Der Pfarrer redete: „Oh trauernde Gäste, verzaget nicht. Denn heute werden sie auferstehen, von den Toten. Wie auch Jesus Christi am dritten Tage von den Toten auferstanden ist. Oh ihr schweren Herzen, lasset euch sagen....“ Der Pfarrer verstummte. Die beiden Särge begannen zu wackeln.
Die Trauergäste erstarrten. Susannes Gesicht färbte sich kreideweiß, als sich die beiden Sargdeckel plötzlich anhoben und sich zwei jugendliche Körper in schwarzen Gewändern und leichenblasser Haut wie Zombies aus ihnen erhoben. 
„Am dritten Tage auferstanden“, zischte der eine mit einer Stimme, die so unnatürlich kratzend klang.
„Wir leben!“, rief der andere und einen Moment lang, hätte man wirklich denken können, es wären Tote, die wieder lebendig geworden waren.
Einzelne Gäste wurden ohnmächtig. Sie kippten einfach um, oder wurden von ihren Begleitern aufgefangen, soweit diese im Stande waren.
„Ihr krankes Teufelspack“, rief der Pfarrer und der Ministrant schwenkte aufgeregt das Weihrauchgefäß schneller. Seine Augen hetzen von einem zum anderen „Satanisten“ und wieder zurück. Der Pfarrer stürmte auf sie zu. Genau wie die beiden Bestatter.
„Weg hier!“, rief der eine der beiden Totenentehrer.
Die beiden Jungen lachten hysterisch und ergriffen die Flucht. Die drei Verfolger hinter her.
„Zum Zaun! Zum Zaun!“, lachte der eine.
Die Jungen sprinteten über den Friedhof. Einer von ihnen rammte Susanne und stolperte weiter. Ein Bestatter stellte sich ihm in den Weg. Der Junge schlug einen Hacken und stürmte auf einem anderen Weg weiter.
 
 
 
Jerril konnte sich das Lachen kaum verkneifen. So nen Lachflash hatte er ohne Hilfsmittel lange nicht mehr gehabt. Diese verdutzten Gesichter der Gäste. Wie sie der Reihe nach ohnmächtig geworden waren. Und nun der fette Pfarrer, der ihnen in seinen weiten Klamotten hinterher stolperte und sich immer wieder darin verfing.
Eye war zum Zaun geflohen und war nun in Sicherheit, nachdem er sich durch das Loch gequetscht hatte. Jerril hatten sie den Weg abgeschnitten. Er sprang über die Gräber hinweg. Rannte zum Ausgang. Aber der blonde Bestatter war verdammt schnell.
Das stand so nicht im Drehbuch. Sie hätten durch den Zaun verschwinden wollen. Beide. Jetzt hetzte Jerril durch die Straßen und musste sich anhören, wie der Bestatter den Leuten dort zurief: „Haltet den Leichenschänder!“
Dabei hatte er doch gar keine Leichen geschändet. Die Leute drehte sich nach ihm um und wenn er ihnen zu nahe kam, streckten sie die Hände nach seinem Mantel aus und versuchten ihn zu greifen.
Er wusste nicht wo hin. Er überlegte fieberhaft und nun meldete sich auch noch seine Lunge. „Ich kann nicht mehr“, flüsterte sie ihm zu. „Du hast mich zu kaputt gemacht. Jetzt kann ich nicht mehr.“
Das Lachen verflüchtete sich von Jerrils Gesicht und es verwandelte sich in eine angstverzerrte und gehetzte Miene. „Scheiß!“, dachte er und rannte weiter.
Der Bestatter kam ihm näher. Dieser scheiß Bestatter hatte wohl noch nie geraucht. Er war immer noch genau so schnell wie am Anfang und Jerrils Tempo wurde immer schleppender. Sein Atem ging keuchend.
Er rutschte das Geländer zur U-Bahn runter. Wenn er glück hatte. Ja, wenn er ganz viel Glück hatte, würde jetzt eine weg fahren. Aber nein. Das Schicksal spielte gegen ihn. Der Bahnsteig war vollgestopft mit Leuten. Keine U-Bahn weit und breit.
Es war verrückt, was er jetzt machte, doch er konnte nicht mehr. Seine Lunge brannte schon richtig. Sein Herz hämmerte in seinem Brustkorb, als würde es gleich zerplatzen. Der Schweiß durchnässte seine Kleider. Großteils aus Angst und auch weil der endlos lange Sprint so anstrengend war. Er sprang auf die Gleise. Die Leute sahen ihm erschrocken nach, als er in den U-Bahntunnel stürmte.
Verdammt, wie lange war der Tunnel? Zwei Kilometer, oder doch nur ein halber? Was stand auf der Tafel? Wann würde die nächste Bahn kommen? Zwei Minuten. Zwei Minuten! Er rannte durch den Tunnel.
Die Gedanken schwirrten durch seinen Kopf wie Hornissen, während sein Herz immer heftiger pochte.
„Lass mich ausruhen“, rief seine Lunge. Sie rief um Hilfe. „Das kannst du nicht mit mir machen. Setzt dich hin und warte ein paar Minuten. Dann kannst du von mir aus weiter rennen.“
Nein, dachte Jerril. Dann würde er sterben. Wenn er jetzt aufhörte zu rennen, wäre er das letzte mal gerannt?
Wie viele Minuten noch? Was sagte sein Zeitgefühl? Eine Minute? Eineinhalb? Wie lange sollte er noch rennen? Wann kam endlich das Licht am Ende des Tunnels? Es war jetzt so finster. So finster wie in dem Sarg vorhin. Er sah die Hand vor Augen nicht, doch er sprintete weiter. Wie ein gehetzter Fuchs bei einer Jagt.. Bei diesen unmenschlichen Jagden, die die Menschen mit den Tieren veranstalten. Am Ende stirbt das Tier immer.
„Wenn du nicht gleich anhältst, dann höre ich auf zu Arbeiten“, drohte ihm die Lunge. Jerril wurde langsamer. Er sah verzweifelt nach vorne. Er hörte etwas. Ein rattern. Wo hin? Er schleppte sich gehend weiter. Er kam um eine Kurve. Dahinter war das Licht. Er atmete erleichtert auf. Schöpfte neuen Mut. Nur noch ein paar Schritte. Er begann wieder zu rennen. Seine erschöpften Glieder wieder zu beanspruchen.
Seine Lunge begann wieder zu schimpfen. Das Rattern kam zu Jerrils Erschrecken näher. Er spürte hinter sich eine Flut von Licht und wirbelte herum. Vor ihm ragte eine, von seinem Stadtpunkt gewaltige Bahn auf. Im letzten Moment schaffte er es sich auf den Bahnsteig zu werfen und blieb dort für Sekunden keuchend liegen.
Er fühlte Erleichterung in sich. So unendlich viel Erleichterung. „Das stand nicht im Drehbuch“, dachte er. Er erhob sich von dem schmutzigen Boden. Sein Körper zitterte vor Erschöpfung. Ihm war unglaublich heiß. Seine Wangen drohten Feuer zu fangen. Er berührte sie. Sein Haar klebte ihm an der Stirn. Ihm war schwindlig. Er lehnte sich an eine Säule. Noch ein paar Sekunden verweilte er so. Doch er wusste, dass er hier weg musste. Hier war er nicht sicher. Wie ihn die Leute anglotzten. Und jetzt kam auch noch der Schaffner aus der U-Bahn und bewegte sich auf ihn zu. Jerril konzentrierte seine Reserven und floh.
Er befand sich an der Haltestelle Gymnasium. Seine Schule. Dort versteckte er sich zwischen den Müllcontainern. Um zehn vor acht Uhr betrat er das Schulgebäude, um sich auf dem Jungenklo zu waschen und danach zum Unterricht zu gehen, so als wäre nichts gewesen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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