Yvonne Wacker

Gitarristen weinen nicht

Wie er sie hasste, wie er sich selbst für das hasste, was er war. Sammy ließ sich auf sein Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kopfkissen. In der Schule und vor seiner Mutter hatte er die Tränen noch zurückhalten können, aber jetzt, wo er allein war, gab er den verzweifelten Kampf auf. Heiß liefen sie über seine Wangen und versiegten im Kissens. Die Worte seiner Mitschüler hallten ihm noch immer in den Ohren. „Mädchen, Mädchen,“ hatten sie gerufen, als er am Schultor an ihnen vorbei gegangen war. Streber hatten sie ihn genannt, als er wieder einmal eine eins bekam und der Lehrer den 14 Jährigen in den Himmel lobten. Warum konnten sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Er hatte ihnen doch nie etwas getan und was konnte er für das, was er war?
Seit er in die Schule ging, musste er die Hänseleien seiner Mitschüler aushalten. Jeden Tag aufs Neue und seit seine Lehrerin ihn zu einem IQ-Test geschickt hatte, bei dem er weit überdurchschnittlich abschnitt, war es noch schlimmer geworden. Aber nicht nur seine guten Noten und seine Fähigkeit alles Neue in sich aufzunehmen, machten ihm das Leben schwer. Auch sein Aussehen ließ ihn immer wieder zum Opfer der bösartigen Späße seiner Mitschüler werden. Seine recht große, aber dabei zierliche Figur ließ in zerbrechlich wirken. Das kinnlange schwarze Haar unterstrich seinen leicht femininen Gesichtszüge. Sicher, er hätte sich abschneiden können, aber dann würde er auch den einzigen Schutz vor den Blicken seiner Mitschüler verlieren. Außerdem wusste er, wie sehr seine Mutter die langen Haare hasste. Sie waren für Sammy die einzige Möglichkeit ein wenig Wiederstand zu leisten, denn die Angst seiner Mutter, ihrem kleinen Lieblings könnte etwas passieren, glich schon Hysterie. Sie wolle ihn fördern, sagte sie immer. Doch der wahre Grund für die unzähligen Aufgaben, die sie ihm gab, war ein anderer. Sie wollte ihn von seinem 6 Jahre älteren Bruder Francis fernhalten, der in ihren Augen der schlechteste Umgang für ihren kleinen Sammy war. Mit 18 hatte er die Schule abgebrochen und war mit seiner Band in ein altes Funkhaus gezogen. Er hatte schon immer ein großes Herz für die Musik gehabt. Das Abitur hatte er nie gewollt und engagierte sich nun im sozialen Bereich. Die Brüder hatten sich immer gut verstanden und da Frau Clerent für den jüngeren schon ganz genaue Zukunftspläne hatte – er sollte Arzt werden – versuchte sie mit allen Mitteln zu verhindern, dass Sammy auch nur auf den Gedanken kam seinem Bruder nachzueifern.
Nach einer Weile schlief Sammy ein. Er war am Ende, körperlich und seelisch. Der Junge wachte erst wieder auf, als er einen Streit auf dem Flur hörte. Die beiden Stimmen erkannte er sofort. Es waren seine Mutter und Francis. Der Streit wurde lauter, zumindest von Frau Clerents Seite. Sammy hielt sich die Ohren zu. Er wollte es nicht mehr hören und er konnte auch nicht mehr. Jahrelang hatte er die Auseinandersetzungen der beiden mit anhören müssen, fast jeden Abend hatten sie sich angeschrieen, wenn Sammy im Bett lag. Das Thema war immer das Gleiche gewesen. Francis war nach der Mutter faul, strengte sich nicht genug an und hatte nur seine Musik im Kopf. Sammy hatte sich oft gefragt, ob sie gewusst hatten, dass er alles durch die dünnen Wände hören konnte. Nach einer Weile verstummte der Streit und es trat eine merkwürdige Stille ein. Er überlegte, ob er die Tür einen Spalt öffnen sollte, um sehen zu können, was auf dem Flur los war, ließ es dann aber bleiben. Er mochte Francis. Er war nicht nur sein großer Bruder, sondern auch der einzige Freund, den er hatte und er wusste, dass er es nicht ertragen würde, wenn er sehen musste, wie seine Mutter ihn zur Tür hinaus schickte.
„Also gut, 20 Minuten“, hörte Sammy seine Mutter sagen. Ihren wütenden Unterton in ihrer Stimme versuchte sie dabei nicht zu verbergen.
Sammys Herz machte einen Sprung, als wenige Sekunden später die Tür aufging und sein Bruder eintrat. Francis sah Sammy sehr ähnlich, war allerdings kräftiger und sein Haar war bereits schulterlang – ein weiterer Punkt, der Frau Clerent an ihrem ältesten Sohn störte. Francis musterte seinen Bruder besorgt, schloss dann langsam die Tür und setzte sich zu ihm.
„Was ist passiert?“, fragte er mit sanfter Stimme, auch wenn er die Antwort bereits kannte. Sammy hatte ihn oft heimlich angerufen, um sich seine Last von der Seele zu reden. Der Jüngere schaute zu Boden und wieder tobte eine Welle aus Tränen in ihm hoch, als er an die Schule dachte. Er kämpfte dagegen an, biss sich auf die Lippe. Er wollte nicht schon wieder weinen, nicht vor seinem Bruder. Doch es gelang ihm nicht. In seiner Verzweiflung fiel er seinem Bruder in die Arme und wieder rannen Tränen über sein Gesicht. Zunächst war Francis erschrocken über die Reaktion auf seine Frage. Er hatte nicht geahnt, dass es Sammy so schlecht ging. Wenige Minuten später hatte sich Sammy ein wenig beruhigt, aber bei dem Versuch seinem Bruder von dem Vormittag zu erzählen, versagte seine Stimme.
„Du musst nicht reden“, sagte Francis und hielt weiter die Hand des Jungen. Er wollte ihm helfen und es tat ihm in der Seele weh, dass er im Moment nichts weiter für ihn tun konnte, um ihm den Halt zu geben, den Sammy jetzt brauchte.
„Ich hasse mich“, murmelte Sammy leise.
„Wofür?“, fragte Francis einfühlsam.
Sammy stand auf und ging ans Fenster. Einige Minuten starrte er auf den grauen Hinterhof der Plattenbausiedlung, beobachtete eine Frau die in großer Eile ihre Wäsche in einen Korb legte, um sie vor dem beginnenden Regen zu schützen. Die Jungs, die auf dem kleinen Rasenplatz Fußball spielten, störte der Regen nicht. Eifrig schossen sie sich den Ball zu. Sammy konnte ihre Lebensfreude sehen, ihr Lachen fast hören.
„Ich hasse mich für alles, was ich bin. Dafür, dass ich ständig der Beste bin, immer von allen als Genie bezeichnet werde. Dafür, dass ich schwach bin und nicht einmal diese verdammten Tränen zurückhalten kann“, er drehte sich zu seinem Bruder um und fügte mit bitterer Stimme hinzu: „Warum sehen alle in mir immer nur das Wunderkind? Ich bin doch noch mehr, als nur eine Anhäufung von Hirnzellen, die in einem Körper integriert wurden. Verdammt ich habe eine Seele!“
„Du musst dich nicht hassen. Weißt du, als ich etwa in deinem Alter war, habe ich auch oft geweint. Meistens nachdem ich mit unserer Mutter gestritten habe. Dann lag ich im Bett, schaute aus dem Fenster und weinte. Ihre Worte waren manchmal sehr verletzend. Aber das hörte auf, als ich die Gitarre zum Geburtstag geschenkt bekam.“
Sammy sah verwirrt zu seinem Bruder. Er verstand nicht, was eine Gitarre damit zu tun hatte. Wie konnte ein Instrument Tränen versiegen lassen? Schließlich waren es doch nur Saiten, die auf einen Holzrahmen gespannt waren.
Sein Bruder lächelte, als er den fragenden Blick in Augen des Jüngeren sah. „Komm morgen nach der Schule ins Funkhaus. Dann werde ich dir zeigen, was ich meine.“
Auch wenn Sammy wusste, dass er seine Mutter dafür anlügen musste – und er hasste Lügen noch mehr als sich selbst – sagte er zu.
Wenige Minuten später verließ Francis die Wohnung und noch beim Abendessen musste Sammy sich die Worte seiner Mutter anhören, dass er sich auf keinen Fall von seinem Bruder beeinflussen lassen dürfe.

Als Sammy am nächsten Tag vor dem Funkhaus stand, drang laute Musik ins Freie und er wartete ab, bis die Band einen kleine Pause einlegte, bevor er klingelte. Kurze Zeit später öffnete Francis die Tür und bat ihn in den Proberaum, indem die anderen Mitglieder der Band dabei waren ihre Instrumente an die Wand zu stellen. Danach verließ einer nach dem anderen den Raum, bis nur noch Sammy und Francis zurückblieben.
„Setz dich“, sagte Francis und zeigte auf das leicht durchgesessene Sofa in der Ecke des Raumes. Dann verschwand er in einem kleinen Nebenzimmer und als er zurückkam hatte er einen Gitarre bei sich. Sammy erkannte sie sofort wieder. Es war jene Gitarre, die er vor acht Jahren von ihren Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, wenn auch unter starkem Protest der Mutter. Man sah ihr das Alter deutlich an, das Holz hatte unzählige Kratzer und an einigen Stellen blätterte bereits die schwarze Lackierung ab.
„Du erinnerst dich an sie?“
Sammy nickte.
„Ich habe sie damals Melody getauft und so nenne ich sie auch heute noch, auch wenn ich nur noch selten auf ihr spiele. Ich möchte dir ein paar einfach Griffe beibringen, dann wirst du verstehen, was ich dir gestern gesagt habe.“
Die beiden Brüder verbrachten fast vier Stunden in dem kleinen Proberaum. Hatte Sammy den Raum am Anfang noch als kalt empfunden und das Verlangen gehabt in das obere Stockwerk zu gehen, so fühlte er sich jetzt wohl und genoss die sanften Klänge der alten Gitarre. Er lernte seine ersten einfachen Melodien und kurze Lieder.
Kurz bevor Sammy aufstand und nach Hause gehen wollte, sagte er zu Francis: „Ich frage mich, was das für ein seltsames Gefühl ist.“
„Wie fühlst du dich denn?“, fragte sein Bruder mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Irgendwie befreit“, antwortete Sammy.
„Das ist genau das, was ich versucht habe dir gestern zu erklären. Während du Melody gespielt hast, hast du mit ihr gesprochen. Du wirst es niemals schaffen an zwei Tagen genau gleich zu spielen, denn deine Gefühle spiegeln sich in der Musik wieder. Melody wird daher immer wissen, wie du dich fühlst, auch wenn du es anderen nicht zeigen willst oder kannst. Sie hat mir immer sehr geholfen und sie hat auch für mich geweint. Ich denke es ist an der Zeit, dass sie dir zur Seite steht und ich bin davon überzeugt, sie wird die ebenso helfen wie mir.“
„Willst du damit sagen, dass...“
„Ja, sie gehört jetzt dir. Du kannst immer hier her kommen und sie spielen.“
Sammys Augen leuchteten. Nicht nur weil er sich unbeschreiblich über die Gitarre freute, sondern auch, weil er nun verstanden hatte, was sein Bruder ihm einen Tag zuvor gesagt hatte.
Von dem Tag an kam Sammy regelmäßig ins Funkhaus und erzählte Melody von seinen Gefühlen und sie ließ ihre Töne als Antwort erklingen. Manchmal weinte sie auch ganz leise für ihn.
Gitarristen weinen nicht, ihre Gitarren tun es für sie.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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