Germaine Adelt

Das verlorene Lächeln

            Ihre Kondition war nicht mehr die beste. Den Bus hatte sie gerade noch erreicht und das vermutlich nur, weil der Busfahrer Mitleid mit ihr gehabt hatte. Legte sie sonst solch einen Kurzsprint mit Leichtigkeit hin, hechelte sie diesmal noch immer, wie einst in den Presswehen.

            Nie hätte sie sich vorstellen können, einmal derart abzubauen. Kaum noch Energie für die einfachsten Dinge zu haben.

            „Bushaltestelle: Wiesenstraße“, tönte es aus dem Lautsprecher. Stöhnend lehnte sie sich zurück, noch fünf Stationen, dann musste sie aussteigen.

            Es war einfach nicht ihr Tag. Die Müdigkeit lähmte sie und die Kopfschmerzen nahmen immer mehr den Charakter eines Katers an. Dabei hatte sie am Abend vorher nichts getrunken. Aber vielleicht war sie schon beim Entzug angekommen, war längst süchtig, ohne es zu ahnen, ganz einfach, weil sie das abendliche Glas Wein unterschätzt hatte.

 

            Vielleicht aber hätte sie sich nicht in den Schlaf weinen sollen. Schon als Kind hatte man sie davor gewarnt und ihr angeraten sich die Tränen aufzuheben, für das, was das Leben bereithält. Nicht dass sie am Ende keine Tränen mehr habe.

            Eine Sage zwar, aber als Kind hatte sie es so in Angst versetzt, dass sie von dem Moment an unter Aufbringung aller Willenskraft tatsächlich nicht mehr geweint hatte. Es regelrecht verlernt hatte. Der Zwang, den sie sich noch heute auferlegte, nahm ihr oft die Luft zum Atmen.

            Aber ab und zu brauchte sie das Weinen. Wenn sie auch oft nicht wusste, warum. Dennoch tat es ihrer Seele gut, schien es sie vom Ballast zu befreien. Ihr Lächeln hatte sie sowieso verloren, also kam es nicht mehr darauf an, ob sie sich ab und zu die Augen regelrecht ausweinte.

            „Bushaltestelle: Teschstraße.“

            Ihr gegenüber saß ein Mann. Er war sicherlich achtzig Jahre alt, wenn nicht sogar noch älter. Dennoch hatte er die Ausstrahlung eines dreißigjährigen und die Augen leuchteten wie die eines Jungen, der vor Lebensfreude nur so sprühte. Sie beneidete diesen Mann um seine Einstellung. War sie doch sicher, schon jetzt dem alltäglichen Trott nichts Schönes mehr abgewinnen zu können, schon gar nicht in vierzig Jahren.

            In der Hand hielt er einen Blumenstrauß. Es war ein kleiner bunter Strauß, so wie sie es am bezauberndsten fand. Kunterbunt gemischt, wie bei einem Spaziergang gepflückt. Keine edlen Rosen, die heutzutage nicht einmal mehr dufteten, sondern Natur in reinster Vollendung.

            „Bushaltestelle: Lindaustraße.“

            Ein wenig schätzte sie nun doch, dass sie im Bus sitzen und sich fahren lassen konnte. Jetzt im Stadtverkehr mit dem Auto unterwegs zu sein, würde ihr sicherlich den letzten Nerv rauben.

 

            Der alte Mann stand auf und beugte sich zu ihr. Mit ausgestrecktem Arm hielt er ihr den Blumenstrauß hin und lächelte.

            Verdutzt sah sie ihn an. „Ich verstehe nicht.“

             „Schenken Sie mir ein Lächeln“, bat er.

            Für einen Moment wollte sie ihn zurechtweisen, aber dann musste sie tatsächlich lächeln angesichts dieser herzlichen Bitte.

            Noch immer hielt er ihr den Blumenstrauß hin. „Nehmen Sie ruhig.“

            „Aber ich kann doch nicht …“

            „Bushaltestelle: Friedhof“, tönte die blecherne Computerstimme.

            „Er sollte zwar für meine Gerda sein“, erklärte er und sah auf das Gräberfeld, das man nun gut überblicken konnte, „aber ich bin mir sicher, dass sie es verstehen wird.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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