Arno Erol

Pits of the Devil´s Lair

Sie hießen alle Joe.

Sie wischte sich schniefend die Tränen aus dem Gesicht und verschmierte dabei ihr Makeup. Ein Polizeigleiter flog mit heulenden Sirenen und blinkenden Lichtern durch die endlos tief erscheinende Häuserschlucht. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie vorgab, mit ihren Blicken interessiert dem Gleiter von ihrem Platz auf dem Balkon aus zu folgen. Doch der Schmerz in ihrer Brust blieb unverändert.

Wütend fuhr sie sich erneut mit ihrem bereits triefendnassen Ärmel über das Gesicht, als sie wieder von einem Heulkrampf geschüttelt wurde.

Zum Teufel mit allen Kerlen! Ob Garen, Steve, Evander oder all die anderen, allesamt waren sie Arschlöcher gewesen, genauso wie der letzte, Joe.

Sie trat gegen die Balustrade.

Wieso nur war das Leben so unfair?

Joe war weder übermäßig gutaussehend, noch war er kognitiv ein Stephen Hawking. Aber wieso konnte selbst so ein durchschnittlicher Mann nicht wenigstens die Attribute treu und ehrlich besitzen? Wieso gelang es selbst solchen 08/15 Kerlen, eine Geliebte aufzutreiben, mit der sie ihre Freundinnen hinter ihrem Rücken nach Strich und Faden betrügen konnten? Wieso glaubte sie ein ums andere Mal, bei diesem Typen würde nicht das selbe passieren, wie schon so oft davor? Und wieso musste es jedes Mal aufs Neue so beschissen weh tun?

Sie zog ihre Beine wieder an und vergrub ihr Gesicht schluchzend zwischen den Knien, während ein leichter kühler Windhauch, schwanger mit dem Geruch verderbender Abfälle, das kleine Spielzeugwindrad aus Plastik antrieb, dass in dem verdorrten Blumenkasten am Balkon steckte.

Sie hasste alle Joes dieser Welt!

Sie lehnte sich mit dem Kopf an die Wand und starrte in den schmutzig grauen Nachthimmel. Die Wolkendecke, an der sich das Leuchten der Stadt reflektierte, kroch träge dahin, wie ein alles bedeckender Schlamm, der das Firmament umhüllte und das Leben unter ihr in Tristesse und Monotonie begrub.

Und ihr Leben war eines davon. Ein kleines Licht inmitten der endlosen Gruben des Stadtmolochs. Eine zaghaft flackernde Flamme, die wie alle anderen versuchte, im erstickenden Strom der Unbedeutsamkeit zu überleben und gegen die verführerischen klebrigen Wunschträume und Versuchungen anzukämpfen, die tagtäglich Hunderte in den Abgrund riss, um sie schließlich ins Verderben zu stürzen.

Sie wischte sich ihre Nase an ihrem Ärmel ab, strich sich durch das zersauste Haar und schob sich eine widerspenstige Strähne, die in ihrem Gesicht klebte, hinters Ohr.

Sie holte tief Luft und räusperte sich.

Es tat so verdammt weh!

Und dann war da dieses tiefe Gefühl gähnender Leere in ihrem Innern.

Gar nicht mal so sehr wegen Joe. Ihr Leben selbst schien ihr einfach verquer und sinnlos, als habe sie ein Puppenspieler entworfen, sie dann aber einem Kind zum Spielen gegeben, das keine Ahnung hatte, wie man diese Puppe richtig lenkt.

Ihre Hand tastete suchend an ihrem Hals nach der dünnen Silberkette die sie trug und fand schließlich das kleine silberne Kreuz. Abwesend in ihren Gedanken versunken, die irgendwo dort unten durch die dunklen Tiefen der Stadt trieben, spielte sie mit ihren Fingern damit, drehte es und strich immer wieder über die Form entlang.

Wie mochte das Leben jenseits dieses grauen Dunstvorhangs aussehen, befreit von jeder irdischen Begrenztheit, dort oben in den Sphären purer Freiheit? Gab es ein Reich jenseits dieses Daseins? Jenseits des Schmerzes?

Plötzlich verspürte sie den Drang ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen, ihm eine Form, ein Bild zu geben, ein Gesicht.

Sie griff nach ihrer Tasche und kramte, immer noch schniefend, nach ihrem Block und dem Kasten mit den Federn, Pinseln und Farben. Eifrig legte sie den großen Block in ihren Schoß und begann hektisch zu zeichnen.

Zunächst entstand ein Sammelsurium aus zusammenhangslosen wilden Strichen und Farbstreifen. Sie wusste gar nicht, was sie eigentlich malen wollte. Sie spürte nur, wie ihr Wille sie zwang, all ihre Verzweiflung, aber auch all ihre Hoffnung in jeden einzelnen Strich fließen zu lassen. Während ihre Hand über das Papier flog, schien sie sich selbst dabei zu beobachten und neugierig zu zusehen, was auf dem Blatt allmählich Gestalt annahm. Zwischen den hellen Streifen von Blautönen wurde zunehmend eine menschliche Figur erkennbar. Ein Gesicht formte sich aus Linien, Punkten und Schraffierungen, dessen Züge Unschuld und Weisheit zugleich waren, geprägt von einem tieftraurigen Ausdruck. Wie besessen malte sie weiter, verlor sich in den Details von Federn, tunkte ihre Pinselspitze in Blutrot und musste sich immer wieder übers Gesicht wischen, weil sie nicht aufhören wollte zu weinen. Es war ein Akt der Verzweiflung, ein Befreiungsschrei, ein Opfergang des Schmerzes zugleich. Farben flossen, Tränen flossen, rissen ihr schwarzes Masquara mit, klatschten auf das Papier, vermischten sich in das Bild, hinterließen Spuren der Pein, wurden aufgesogen. Ganze Wirbel entstanden, das Bild selbst schien mit ihr zu weinen und zu bluten, tränkte sich in ihrer Trauer. Und doch war da auch Hoffnung, war Schöpfungskraft, die aus ihrem Innersten hervorging, war Trotz, ein strahlendes Licht, das den Schatten in seine Schranken verwies. Ein göttliches Scheinen, dass der Engel in seinen Händen hielt. Ein Geschenk, dass das Leben selbst war.

Unvermittelt brach sie ab und legte ihr Handwerkszeug zur Seite. Sie lehnte sich erschöpft zurück, als hätte dieser Prozess all ihre Kraft beansprucht. Erst langsam lichtete sich der Schleier vor ihren Augen und sie begann nur Stück um Stück ihr Werk bewusst wahrzunehmen.

Beinahe plastisch erhob sich aus dem Blatt Papier eine Engelsgestalt, strahlend hell mit ausgebreiteten Flügel, das makellosen Gesicht voller Trauer, die sich in den Tiefen seiner braunen Augen verlor. Auf dem Kopf, eine Dornenkrone. Das Blut rann ihm über die Stirn. Die Hände, fast wie zum Gebet gefaltet, nur leicht geöffnet, trugen ein gleißendes überirdisches Licht.

Aus irgendeinem Grund verströmte dieses Bild in ihrem Innern Frieden. Es war, als sei der Schmerz in dieses Gemälde gebannt und würde vom Licht getilgt.

Sie wusste nicht, woher ihr dieses Bild gekommen war und was es bedeutete, aber sie gab sich mit seiner Wirkung zufrieden und saß so, es noch lange betrachtend, auf dem Balkon, bis der Morgen dämmerte.

 

*

 

Sieben Wochen später

Marlin drängte sich durch die Menschenmassen, die alle versuchten, sich möglichst dicht an den Wänden und Überdächern entlang, vor dem schmutzigen Regen zu schützen. Ihr war der Regen egal. Sie hatte ihre Kapuze tief übers Gesicht gezogen und ärgerte sich immer noch über den Idioten, der sie, weil er hinter seinem großen Regenschirm nichts sehen konnte, in eine große Pfütze gestoßen hatte, weshalb sie jetzt in klatschnassen Schuhen nach Hause stapfen musste, bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch verursachend.

Dieser Tag würde wahrhaftig nicht zu ihren Highlights zählen.

Nicht dass es bei der Arbeit schon stressig genug zuging, so hing derzeit wieder der große Geier der Entlassungen über der Agentur. Sie war bei einem Callcenter angestellt, einem der letzten, dass noch menschliche Servicemitarbeiter anstellte. Die meisten anderen waren mit Bots ausgestattet, die mit ihren Routinen die selbe Arbeit inzwischen besser und viel wichtiger, wesentlich kostengünstiger leisten konnten. Dennoch hielten sich einige rein menschlichen Servicedienstleister, da es reiche Klienten gab, die immer noch Wert darauf legten, von realen Menschen persönlich betreut zu werden und sich dies auch entsprechend kosten ließen, auch wenn sie sicherlich keinen Unterschied mit einem der Bots bemerkt hätten.

Dennoch war es ein hartes Pflaster und der Konkurrenzkampf groß, weshalb immer wieder im Rahmen von Einsparungsrunden, Wellen von Entlassungen über die Abteilungen schwappten. Bislang war Marlin stets verschont geblieben, aber eine Sicherheit gab es nie. Erst vor einigen Monaten war eine gute Freundin von ihr nach acht Jahren im Betrieb fristlos entlassen worden und saß seitdem mit zwei kleinen Kindern auf der Straße.

Sie spürte das Wasser bei jedem Tritt zwischen ihre Zehen spülen.

Es war wie immer. Das Leben war scheiße und ungerecht.

Wenn es nach ihr ginge, würde sie liebend gern freiwillig kündigen und mit ihren Bildern ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das Problem bestand nur darin, dass von den zwanzig Milliarden Menschen auf diesem Planeten, den wenigsten der Sinn nach Kunst stand, geschweige sie sich leisten konnten. Wie sollte man sich auch für die Schönheit eines Gemäldes oder einer Skulptur begeistern, wenn man einzig von der Sorge durchs Leben getrieben wurde, für sich und die Seinen, gerade das Nötigste zum Überleben zusammen gekratzt zu bekommen?

Nur eine Handvoll Superreicher konnte sich überhaupt den Luxus erlauben, sich mit Kunst zu beschäftigen oder besser, zu schmücken, da selbst von denen, die es sich leisten konnten, die wenigsten sich mit der Kunst als solche befassten, sondern vielmehr das Ansammeln von Werken, als dekadenten Zeitvertreib und Wettbewerb untereinander betrieben.

Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als weiterhin darüber glücklich zu sein, einen Job zu haben, der monatlich die Miete für ihr winziges Einzimmer-Appartement (hey, sie hatte immerhin Bad und Küche extra) und die sonstigen Ausgaben für die Notwendigkeiten des Lebens bestritt und sich vielleicht mit etwas Glück ab und zu mit einem ihrer Bilder, die sie in einer Online Gallerie zum Verkauf anbot, etwas zusätzliches Taschengeld zu verdienen.

OK, das Leben war vielleicht Scheiße, aber sie stapfte wenigstens nur mit den Füßen darin herum und sie stand ihr nicht bis zum Hals.

Marlin seufzte. Es ging doch nichts über das Wunder der autosuggestiven Selbstmotivation. Sie überlegte sich, dass sie sich zuhause mit einem Bad belohnen würde, um die ganze Sache abzurunden.

Sie musste schmunzeln über diesen Selbstbetrug, dachte dann aber an die armseligen Kreaturen, die in den untersten Gefilden der Straßenschluchten ihr Dasein fristeten. Im Vergleich dazu schien ihr Leben tatsächlich paradiesisch.

 

Das Hellgrau des Tages ging bereits in das Dunkelgrau der Nacht über, als sie ihren Wohnblock erreichte.

Der Fahrstuhl hatte auch schon bessere Tage gesehen und rumpelte stotternd und ächzend die Stockwerke aufwärts, während Marlin von einem Bein aufs andere trat, weil ihren nassen Füßen allmählich ziemlich kalt wurde. Zitternd nestelte sie ihre Schlüsselkarte aus der Jackentasche und wartete, dass der Fahrstuhl endlich quälend langsam ihre Etage erreicht hatte und sich die knarrenden Türen öffneten.

Eilig zog sie ihre Karte durch den Scannerschlitz und warf ihre Tasche in die nächstbeste Flurecke, nachdem sie durch die Tür war, knallte diese hinter sich zu, hüpfte einbeinig durch den Flur, im Versuch sich die Schuhe von den Füßen abzustreifen und gleichzeitig schnellstmöglich ins Bad zu kommen, um das Wasser in die Wanne laufen zu lassen.

Sie schnappte sich ein Handtuch und die nassen Schuhe und wechselte ins Wohnzimmer. Sie hängte die durchnässten Schuhe vor die Zimmerlüftung, schaltete im Vorbeigehen ihr Notepad ein und ließ sich aufs Bettsofa fallen. Sie begann ihre tauben Zehen mit dem Handtuch zu rubbeln und massieren und bemerkte erst jetzt, wie sehr sie wirklich fror. Ein heißes Bad würde ihr wirklich gut tun. Leise summte sie vor sich hin, als der Rechner hochfuhr und plötzlich ein vertrautes >pling< von sich gab.

Neugierig rutschte Marlin an den Rand des Sofas, um zu sehen, was für eine Nachricht sie erhalten hatte.

Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als sie sah, dass es sich um eine weitergeleitete mail der Online Galerie handelte. Mit flinken Fingern gab sie ihr Passwort ein und öffnete das Schreiben.

Sie überflog die ersten Zeilen und stockte abrupt. Las die Zeilen noch mal. Ihre Augen weiteten sich. Sie las die Zeile wieder und wieder und traute sich nicht, einen Laut von sich zu geben in der Befürchtung, sie würde aufwachen. Sie konnte es einfach nicht fassen, aber die Zahl, die sie gelesen hatte, stand tatsächlich schwarz auf weiss dort auf dem hellerleuchteten Display. Vergessen waren ihre kalten Füße und die heiße Wanne, die unbeachtet Anstalten machte überzulaufen.

Immer noch ungläubig starrte sie das Notebook an und schüttelte den Kopf.

Preise über die Online Galerie wurden in der Regel direkt zwischen Künstler und Käufer ausgehandelt, von denen eine Provision für die Galerie abfiel. Dabei gab es einen pauschalen Minimumpreis, der für alle Werke galt und von der Galerie festgesetzt wurde, um nur ernsthafte Interessenten zu zulassen. Über diesen Minimumpreis hinaus konnte nun ein Interessent dem Künstler direkt ein Angebot machen, dass dieser dann ablehnen oder annehmen konnte. Sofern der Künstler aber nicht eine etablierte Größe war, lagen diese Gebote meist nur wenig höher als der Galeriebasispreis.

Die Summe, die jetzt aber vor ihr aufleuchtete war absurd für eine unbekannte kleine Künstlerin, wie sie eine war. Selbst berühmte zeitgenössische Maler täten sich schwer, daran zu reichen, höchstens antike alte Meister wurden heutzutage in diesen Kategorien gehandelt.

Nachdem der erste Schreck verflogen war, prüfte Marlin erst ein Mal die Daten. Welches ihrer Bilder sich überhaupt hinter der Gebotsnummer verbarg und wer der Bieter war.

Es war ihr trauernder Engel.

Und der Bieter war als ein gewisser Clay Nihil angegeben.

Clay Nihil. Von diesem Mann hatte sie noch nie etwas gehört. Auch die Adresse schien ihr merkwürdig. Angegeben war nicht etwa eines der superreichen Viertel, sondern der alte Memorial District im Süden der Stadt. Immerhin fand sie eine Vidfon Nummer.

Nervös kaute sie auf ihrer Lippe.

Es konnte sich immer noch um einen Irrtum oder ein Missverständnis handeln.

Das Freizeichen klingelte weiter.

Wahrscheinlich war das ganze nur ein Scherz.

Immer noch keine Antwort.

Sie war schon versucht wieder aufzulegen, als das Freizeichen plötzlich aussetzte und auf dem Bildschirm das schwarz sich langsam lichtete, um das lächelnde Gesicht eine dunkelhaarigen Mannes mittleren Alters zu zeigen.

„Ah, Miss Hedgecoe. Wie freundlich von ihnen, mich so zügig zu kontaktieren.“

Marlin perplex, dass der Unbekannte sie anscheinend sofort erkannt hatte fragte: „Sie kennen mich?“

„Aber ja natürlich. Ich kenne ihre Kunst und bei wahren Künstlern ist deren Kunst nur ein Spiegelbild des Menschen dahinter.“

Für Marlin machte das nicht sonderlich mehr Sinn, aber sie fragte nicht weiter.

„Sie haben mir ein Angebot für eines meiner Bilder unterbreitet.“

„Ich hoffe doch, dass es angemessen ist. Ich wäre aber im Zweifel auch bereit mehr zu bezahlen.“

Sie musste schlucken und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Stattdessen nannte sie ihm die Zahl seines ursprünglichen Angebotes und fragte vorsichtig nach, ob es korrekt sei.

Selbstverständlich sei es das, erklärte Nihil und tat fast empört, wobei seine Mundwinkel aber eine Winzigkeit nach oben zuckten, als amüsiere er sich über ihre Zweifel.

Marlin hingegen hatte Mühe, all ihre Selbstbeherrschung aufzubieten, um nicht lauthals jubelnd los zu brüllen und wie wild in ihrer Wohnung herum zu hüpfen.

„Wenn sie damit einverstanden sind, leite ich die Zahlung auf ihr Konto umgehend ein, so dass sie den Betrag innerhalb einer halben Stunde in ihrer Balance haben sollten.“

Marlin konnte kaum noch atmen, so angespannt war sie. Trotzdem versuchte sie so geschäftsmäßig wie möglich zu bleiben und fragte Nihil, ob sie ihm das Gemälde mit einem speziellen Securitykurier senden sollte.

Hatte sie schon damit gerechnet, dass sie an diesem Abend nichts mehr überraschen könnte, wurde sie mit seiner Antwort eines Besseren belehrt.

Clay Nihil lächelte sie jovial durch den Bildschirm an und entblößte dabei zwei makellose Zahnreihen.

„Ich würde mich sehr viel mehr darüber freuen und geehrt fühlen, wenn sie sich bereit erklärten mir das Bild persönlich vorbei zu bringen und bei der Gelegenheit gleich zum Abendessen blieben.“

Marlin, vollends aus der Bann geworfen, brachte nur noch ein Krächzen über die Lippen und ein bejahendes Kopfnicken zustande.

Nihil nannte ihr eine Zeit und wieder nickte sie nur stumpfsinnig. Als er sich auch schon von ihr verabschiedete und das Display erlosch, saß sie noch immer mit offenem Mund auf dem Sofa und starrte den dunklen Bildschirm an, während im Bad bereits das Wasser über die Türschwelle schwappte.

 

Wie Nihil versprochen hatte, war das Geld tatsächlich innerhalb einer halben Stunde auf ihr Konto übertragen worden und seit dem hatte Marlin die ganze Nacht damit zugebracht, wahrscheinlich im fünf Minuten Takt, immer wieder ihren Kontostand aufzurufen und zu prüfen, ob dort tatsächlich das ganze Geld war oder es sich so plötzlich wie es gekommen war, wieder in Luft aufgelöst hatte und sich das Ganze als ein delirantes Gespinst ihres Hirns herausstellen würde.

Am nächsten Morgen war sie dann völlig übermüdet in Panik verfallen, weil sie zunächst das Bild im Chaos ihrer Wohnung nicht hatte finden können und war nur haarscharf einem Unfall entronnen, als sie ins Badezimmer gestürzt war und beinahe verhängnisvoll auf dem überschwemmten Boden ausgerutscht war.

Das Gemälde hatte sie schließlich am Fußende ihres Bettsofas gefunden, überhangen mit der Bettdecke zum Lüften.

Glücklicherweise hatte sie ihre Verabredung mit Nihil erst am folgenden Tag, wieso sie sich völlig ausgelaugt schließlich einen Lacciato aus dem Kühlschrank holte und sich danach auf ihr Bettsofa fallen ließ und glücklicherweise bevor sie noch auf die Idee kommen konnte, doch noch mal nach ihrem Kontostand zu schauen, eingeschlafen war.

 

*

 

Sie blickte von dem Zettel auf und schaute einen altehrwürdigen Wohnblock empor. Das Haus war einer der alten Stadtriesen, sicher schon zweihundert Jahre alt, noch aus der Goldenen Ära der Wolkenkratzer. Obwohl auf der Straße davor recht reger Betrieb herrschte, schien das Gebäude selbst verlassen, als sie eintrat.

Die Vorhalle, deren Decke mindestens drei Stockwerke hoch aufragte, war mit rotem Marmor ausgekleidet, durchsetzt von Art Déco Elementen aus Messing. Gegenüberliegend dem Eingang fanden sich zwei große Aufzüge über denen eine gigantische Wanduhr thronte von der goldene Messingstrahlen bis zur Decke verliefen.

Marlin hatte solch eine antike Pracht bisher nur in ihren Kunst und Design Lexika gesehen. Nie hätte sie geahnt, dass sie sich inmitten der Stadt, so unscheinbar, verborgen finden lassen würde.

Sie betätigte den massiven Rufknopf des Aufzugs und sofort öffnete sich eine der beiden Kabinen fahrbereit vor ihr. Mit einem letzten tiefen Luftholen stieg sie ein und drückte den obersten Knopf auf der Etagentafel.
Sie strich nervös über ihr neues Abendkleid, die erste Anschaffung von ihrem astronomischen Honorar, und betete inständig darum, dass es dem Anlass angemessen war.

Die messingbeschlagenen Türen fuhren lautlos auf und sie stand in einem eher unspektakulärem Vorraum dessen Wände mit rotem Samt bespannt waren, passend zum dicken roten Teppichboden und den ebenfalls roten Vorhängen mit schweren Goldbordüren durchwirkt.

Marlin, die unsicher war, wohin sie sich nun wenden sollte, schaute sich um, als plötzlich nur von einem leisen zischenden Geräusch angekündigt, eine junge Frau mit dunkelblonden Haaren, die sie in einem Pferdeschwanz trug, und beeindruckend glänzenden Augen, vor ihr stand, ohne dass sie hätte sagen können, woher diese Frau eigentlich den Raum betreten hat.

Die junge Frau lächelte sie an und umgehend verspürte Marlin ihr gegenüber eine immens starke Anziehung. Diese sinnlichen Lippen schienen regelrecht nach einer leidenschaftlichen Liebkosung zu rufen und wie sie so da stand, ihn ihrem figurbetont geschnittenen schwarzen Jumpsuit mit hochgeschlossenem Kragen, hätte Marlin schwören können, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben jemandem begegnet war, der sexier gewirkt hätte. Verwirrende Gefühle tobten durch ihren Bauch und ihrem Kopf. Bilder und Gefühle, die Marlin in ihrer strikt heterosexuellen Ausrichtung eigentlich als abstoßend empfunden hätte. Die junge Frau machte nur einen Schritt näher auf sie zu, aber sie hatte das Gefühl, als sei sie unvermittelt vor ein riesiges Lagerfeuer getreten, dessen Hitze sie auf ihrer Haut brennen spürte, die sich in ihren Eingeweiden fortsetzte. Sie fühlte sich wie in einem Strudel hilflos gefangen, der sich immer schneller und schneller drehte... sie schloss ihre Augen.

Und dann war alles vorbei.

Sie öffnete wieder ihre Lieder und blickte der immer noch lächelnden jungen Frau entgegen, ohne jegliches Anzeichen der verheerenden Wirkung wie erst vor einigen Augenblicken. Bevor sie auch nur den Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, glitt die Wand hinter der Frau auf und ein gutaussehender Mann im schwarzen Anzug und dunkelrotem Hemd trat ein und gewinnend lächelnd auf sie zu. Er warf der jungen Dame einen kurzen Blick zu, die sich mit der Andeutung einer Verbeugung einige Schritte zurück zog. Dann wandte er sich Marlin zu, nahm ihre Hand und küsste sie.

„Es ist mir ein besonderes Vergnügen, dass sie meine Einladung angenommen haben, Miss Hedgecoe.“

 

Während des Dinners redeten sie nicht sonderlich viel. Nihil versuchte sie zwar hin und wieder in Smalltalk einzubinden, aber Marlin, ohnehin nervös, blieb meist sehr einsilbig in ihren Antworten, mehr damit beschäftigt, dem merkwürdigen roten Schalentier vor ihr, dass Clay ihr als einen Hummer vorgestellt hatte, mit Messer und Gabel zu Leibe zu rücken, ohne dass ihr womöglich der Großteil in hohem Bogen über den Tisch flog und zum Beispiel in den schweren extrem wertvoll aussehenden Wandteppichen landete, mit denen der Esssaal dekoriert war. Ihr war es bereits peinlich genug, dass Nihil offensichtlich erkennen konnte, dass sie noch nie zuvor solch ein Tier gesehen, geschweige denn verspeist hatte, trotzdem er keinerlei Aufhebens darüber machte, weder, dass er Anstoß an ihren fehlenden Tischkünsten nahm, noch dass er sich über ihr Unvermögen amüsierte.

Bemerkenswert war auch, das Nihil, der zweifelsohne sehr vermögend sein musste, offenbar keinerlei Bedienstete beschäftigte. Er hatte persönlich jeden einzelnen Gang aufgefahren und brachte ihr auch jetzt, nachdem sie mit dem Essen fertig waren, eine mittelgroße Schale mit heißem Wasser und ein kleines Handtuch, um sich die Hände waschen zu können. Ebenfalls auffällig fand Marlin, dass sich die junge Dame, die ihr im Foyer begegnet war, seit dem bislang nicht wieder hatte blicken lassen. Stattdessen saß sie allein mit Nihil in dem großen Saal, während er sie nun von der anderen Seite des Tisches nachdenklich ansah.

Jetzt, wo sie sich nicht mehr auf den Hummer konzentrieren musste, wurde ihr die Stille zwischen ihnen unangenehm. Überhaupt fragte sie sich, wieso sie dieser Mann unbedingt zum Abendessen hatte einladen wollen. Sie rutschte nervös auf ihrem breiten Stuhl herum und überlegte, wie sie sich schnellstmöglich wieder verabschieden konnte, ohne allzu unhöflich zu sein, als Nihil plötzlich aufstand.

„Kommen sie. Ich möchte ihnen etwas zeigen.“

Er kam um den Tisch herum und streckte ihr seine Hand entgegen.

Zögerlich griff sie nach ihr und ließ sich von ihm hochziehen. Seine Hand fühlte sich angenehm warm und weich in der ihren an und sie fühlte unmittelbar, wie diese wohlige Wärme von ihr Besitz ergriff, wie sie zugleich von einem Gefühl der Vertrautheit gegenüber diesem Mann durchflossen wurde und sich auf diesem Fluss einfach hinter ihm her treiben ließ. Verschwunden war der Wunsch sich zügig zu verabschieden und wieder in die beengte Geborgenheit ihres Appartements zu flüchten. Stattdessen spürte sie viel mehr einen leisen Durst nach mehr. Wovon, das wusste sie selbst gar nicht zu sagen. Es war lediglich ein schwaches Ziehen, ein unbestimmtes Verlangen, das erfüllt werden wollte.

Sie betraten einen riesigen Salon, der wie alles andere auch in Rottönen gehalten war. Edles Seidenbrokat bedeckte die Wände und dicke antike Teppiche bedeckten das Parkett. Die Wand links des Eingangs bestand aus einer Fensterfront, die einen atemberaubenden Blick über die Stadt gewährte, die um diese späte Abendzeit voll von buntem Leben pulsierte. Wie Blutbahnen zogen sich die Gleiterkorridore durch ihre Straßenschluchten, durch die der Verkehr, leuchtendhelle Linien hinter sich ziehend, strömte. Im Zentrum der Megacity leuchteten Strahlenfinger in den Himmel hinein, zuckten in unwillkürlichen Mustern über die dichte Wolkendecke hinweg. Die Stadt hatte ihren ganz eigenen Rhythmus. Ihre Aura schien sich regelmäßig vor und zurück zu ziehen, wie der Pulsschlag eines lebenden Organismus. Der Moloch Stadt erschien von hier oben, wie ein einziges Geschöpf in dem die Menschen in ihr, nichts anderes als Zellen des Ganzen waren, bemüht ihre Aufgabe zu erledigen ohne sich darüber bewusst zu sein, einem übergeordneten Zweck zu dienen.

So faszinierend der Ausblick auch war, so sehr empfand ihn Marlin als Unruhe. Unruhe, die sich aus den Tiefen der Gruben zwischen den Häuserblöcken erhob. Angefüllt mit der Pein und der Qual derer, von denen sich der Riese ernährte. Die geopfert und zu seinem Fundament wurden. Marlin begriff nicht, weshalb sie diesen Anblick plötzlich so erschreckend fand, wieso sie ihn plötzlich in solch einem Licht sah, wieso er ihr Angst machte.

Sie wandte sich ab und bemerkte erst jetzt den großen Kamin gegenüber dem Eingang in dem Feuer knisterte und flackerte. Und in dessen Schein Clay Nihil stand und sie aus seinen unergründlichen braunen Augen ansah, als er einen weiteren Holzscheit hineinwarf.

Für einen Augenblick schnürte sich Marlin die Kehle zu, als sie die Schatten über sein Gesicht flackern sah. Angst ihr kalt über den Rücken lief und sie trotz des Feuers fröstelte als sie in die Dunkelheit in seinem Antlitz starrte, bis er sich aufrichtete und sich vor ihren Augen wieder ganz in den freundlichen, charmanten Gentleman verwandelte, den sie bislang kennen gelernt hatte.

Marlin schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Diese Schübe von strudelgleichen Gefühlen, die sie heute schon zum zweiten Mal in Nihils Nähe erlebt hatte, gingen doch weit über eine simple Nervosität hinaus? Verwirrung schwirrte in ihrem Kopf, wie eine in einem Glas eingefangen Hummel.

Sie fühlte sich erschöpft. Vielleicht hatte sie sich auch nur erkältet, als sie gestern klatschnass durch die Stadt marschiert war? Sie begegnete Nihils Blick, der sie vom Kamin aus beobachtete.

Ja, das musste es wohl sein, eine sich anbahnende Erkältung, aber auf den Gedanken, deshalb sich frühzeitig von Nihil zu verabschieden und sich schnellstmöglich in ihr heimisches Bett zu begeben, kam sie schon nicht mehr. Denn abgesehen, von Nihils jetzt wieder beruhigender Ausstrahlung, wurde ihr Blick plötzlich von dem Bilderrahmen rechts neben dem Kamin gefangen.

Sie hatte keinen Zweifel, dass Gemälde musste ein Werk des Meisters Salvador Dali sein, das Seltsame daran war nur, dass sie sich nicht erinnern konnte, dieses Bild jemals gesehen zu haben, obwohl sie sein Gesamtwerk studiert hatte. Eindeutig stammte es aus der 1920/30er Schaffensperiode, beinhaltete es doch einige der berühmten Elefanten mit den Stelzenbeinen, aber der Rest, eine surrealistische Ansammlung von christlichen Kreuzsymboliken und einem dürren Mann inmitten einer Einöde voller schwebender Kugeln, die jede ein anderes verzerrtes Spiegelbild zeigten. Und in seinen Händen umschloss der Mann ein Licht, dass zwischen seinen Fingern hindurch strahlte.

Marlin wollte Nihil nach der Herkunft des Bildes fragen, als sie aus dem Augenwinkel weitere Bilderrahmen aller Größen rechts von ihr, sich ins dunkle der rechten Salonhälfte erstreckend, bemerkte. Mit vor Erstaunen offenem Mund und Ungläubigkeit in den Augen durchwanderte sie die Galerie und ging an einem unbekannten Werk nach dem anderen vorbei, die aber alle von den großen Meistern zu stammen schienen. Wäre sie sich sicher, dass diese Bilder Originale waren, dann stünde sie vor der größten Sammlung unbekannter Werke aller Größen, die die Malerei jemals hervorgebracht hatte, sei es Rembrandt oder Picasso, Monet oder Matisse, Kadinsky oder Da Vinci, jeden individuellen Strich schien sie hier wieder zufinden und jedes Werk zeugte von einem starken emotionalen oder religösen Ausdruck Nur zwei Bilder waren ihr bekannt. In einer dunklen Ecke hing ein Triptychon, dass sie aus der Erinnerung heraus als Hieronymus Boschs Das Jüngste Gericht identifizierte und natürlich das Bildnis des lichttragenden Engels, ihres eigenen Werkes, dass erstaunlicherweise bereits den Weg, in einem angemessen Rahmen aufgezogen, in die Galerie gefunden hatte.

„Das... das ist unglaublich!“

Nihil, der lautlos an ihre Seite getreten war und ihren Engel betrachtete lächelte.

„Das können doch nicht alles Originale sein!“

Immer noch betrachtete Nihil den Engel.

„Oh, doch, meine Liebe. Ich habe sie selbst von den Meistern erhalten.“

Marlin, viel zu sehr von der Erkenntis gebannt, dass dies alles echt war, entging die viel schockierendere Bedeutung Nihils Worte Ich habe sie selbst von den Meistern erhalten.

Eine Frage drängte sich ihr stattdessen auf, eine Frage, die sie ihm schon den ganzen Abend stellen wollte, ja eigentlich schon seit dem sie sein Angebot für ihr Bild erhalten hatte.

„Wieso...“

„Wieso mir ihr Bild soviel wert war und es jetzt zwischen all diesen Meisterwerken hängt?“

Marlin nickte nur stumm und blickte ihn aus ihren großen blauen Augen an.

„Nun“ Nihil wandte sich ihr zu „weil es nur sehr selten vorkommt, dass ein Künstler den Pfad der Selbstauflösung in einem seiner Werke beschreitet. Sich selbst so weit öffnet und in sein Werk fließen lässt, dass für den Moment der Entstehung, der Schaffende sich innerhalb seines Werkes  aufgibt und von diesem nicht zu trennen ist. Nur dies, das in einem solchen Prozess ins Leben kommt, vermag es dieses Leben unverfälscht und rein wiederzugeben, mit allem was den Menschen ausmacht, seine Ängste, seine Hoffnungen und seinem Schmerz.“

Marlin starrte gedankenverloren auf ihr eigenes Werk „das Spiegelbild des Menschen dahinter“

Sie blickte Nihil an und sah in plötzlich in einem völlig neuen Licht. Ihn schien eine dünne bläuliche Aura zu umgeben und als ob sie ihn zum ersten Male richtig betrachtete, bemerkte sie in seinen Zügen eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Antlitz des Engels in ihrem Bild, konnte sogar irgendwo dort tief in seinen Augen die uralte Trauer und Sehnsucht erkennen.

Sie öffnete ihren Mund und wollte etwas sagen, aber er setzte ihr seinen Finger auf die Lippen.

„Sschhh. Ich möchte Ihnen vorher noch ein Geschenk machen, dass wirklich dem Wert ihres Werkes entspricht.“

Er packte sie bestimmt am Handgelenk und führte sie tiefer in die rechte Seite des Raumes bis sie, nur noch in schwachem Dämmerlicht, vor einer weiteren Fensterwand standen. Hinter der sich aber kein Stadtbild offenbarte, sondern nur schmutzig matte, von Außen vermooste Scheiben, durch die schwach ein grauer Glimmerschein drang. Mit einem kräftigen Stoß schwangen zwei alte knartzende Glastüren auf und Nihil und Marlin standen inmitten eines dampfenden wildwüchsigen und wenig einladend wirkenden Gartens, der trist und grau wie versteinert wirkte. Kaum ein Lichtstrahl erhellte die wabernden Nebeldünste, die über die schlapp hängenden Ästen strichen und tauschwer an ihren Blättern zerrten.

„Schauen sie!“ Clay wies mit seiner Hand nach oben und plötzlich als Marlin seinem Zeig folgte, blickte sie einem strahlend blauem Himmel entgegen, in dem die Sonne hell im Zenit stand und sie mit ihrem goldenen Licht übergoss. Marlin hatte noch nie zuvor in ihrem Leben den Himmel so klar und blau gesehen, hatte die unverfälschte Wärme der Sonne auf ihrer Haut gespürt, ungefiltert von den Smogschwaden die seit Jahrzehnten den Planeten umwölkten.

Sie wandte sich Nihil zu, wollte ihn fragen, wie das möglich sei, aber brachte kein Wort heraus als ein Schmetterling an ihrem Gesicht vorbeiflatterte und sie sah, wie der Garten plötzlich in vollem Leben aufblühte. Die Blätter und Gräser von Hell- bis saftigem Dunkelgrün vor Intensität troffen und sich die Blüten der Bäume mit den Blumen in einem Wettbewerb, um die prächtigsten Farben ergingen. Eine leichte Brise wehte durch das Gewächs, die so frisch war, wie sie nur an den Küsten der Urmeere gewesen sein konnte, lange bevor der erste Mensch das Antlitz der Welt betreten hatte. Wie in Trance wiegten sich die Halme im Wind, tanzten ihr Ballett nach einer Musik, die nur sie hören konnten.

Nein, sie spürte den Luftzug und konnte plötzlich selbst das Lied des Windes leise in ihren Ohren klingen hören, ein melodisches Rauschen, ferner Gesang eines Engelschores.

Sie fühlte sich durchdrungen von diesem Leben, dieser Urkraft, fühlte sich frei und voller Freude. Ihr Herz jubelte und tanzte auf den Wellen des Windes mit den Blumen und Gräsern. Versank allmählich in der Intensität der Farben um sie herum, wurde aufgesogen und ging in ihr auf.

Es war das Paradies. Nichts anderes konnte es sein.

Und da war wieder diese junge Frau. Sie schwang auf den selben Wellen neben ihr durch die Lichtströme, schwamm mit ihr durch dieses bunte Nirwana, schien ihr auf ein mal nicht mehr bedrohlich oder verstörend.

Immer näher glitt sie an ihren Körper heran, ohne dass sie die unerträgliche Hitze wie beim ersten Mal verspürte. Dieses Mal ließ sie sich von der Leidenschaft tragen. Glitt an ihren Hängen entlang, ohne Angst und ohne Sorge. Lediglich vollkommene Glückseligkeit erfüllte sie.

Die Frau war nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt und blickte sie mit ihren glänzenden Augen an, die sich in fesselnde Strudel verwandeln zu schienen, von denen sie ihren Blick nicht abwenden konnte.

Sachte streckte sie ihre Hand aus, ohne dass Marlin zurückschreckte.

Nur mit der Fingerspitze berührte sie sie, fuhr mit ihr zärtlich lediglich über ihren Arm, als es in Marlins Körper ein explosives Feuerwerk entzündete, sie von Gefühlen der Freude und des Glückes überschwemmt, ja nahezu ertränkt wurde. Sterne explodierten vor ihren Augen und bunte wirre Lichter tanzten einen wilden Tanz in ihrem Kopf, ihre Haut brannte in einem wohligen Schauer, der sie von den Zehen- bis zu den Haarspitzen elektrisierte. Ihr schwindelte und das ohnehin übersättigte Bild vor ihren Augen schien zu taumeln und aus dem Gleichgewicht zu geraten, als stolperte man bei einem Wiener Walzer aus dem Takt und brächte so die ganze Formation aus der Balance. Ihr Körper schien vor Glücksgefühl bersten zu wollen, das immer stärker zunahm, bis ihr schwarz vor Augen wurde und sie ins Dunkle stürzte, das letzte Lichtlein ihres Verstandes erlosch.

 

Sie kam auf dem weichen Polster der großen Ledergarnitur im Salon wieder zu sich.

Ihr Kopf schwirrte immer noch und vereinzelt tanzte noch ein verirrtes buntes Fünkchen vor ihren Augen.

Sie setzte sich langsam auf und richtete ihren Blick auf die Person ihre gegenüber.

Der Schleier lichtete sich und Nihils freundliches Gesicht lächelte ihr entgegen. Sie blickte ihn an und ein kurzer Flashback von Glückseligkeit durchzuckte sie, erinnerte sie an den Garten, das Paradies.

Sie strich sich durch ihre blonden Strähnen.

„Was....“

„Ist das wichtig?“

„Aber wie ist das möglich?“

Clay Nihil saß ihr reglos gegenüber, ein Orakel, dass nur auf die richtigen Fragen eine Antwort geben würde.

„Kein Mensch verfügt über die Macht, so etwas zu bewirken...“

Wieder keine Antwort.

Marlin erinnerte sich, an ihre eigenes Bild, an das Gesicht und an die Dornenkrone...

„Sind sie...  sind sie GOTT?“

Plötzlich veränderten sich die Züge Nihils, wurden hart und kalt, das Licht flackerte und warf tiefe Schatten in sein Gesicht

„GOTT?“

Marlin erschrak als dieses Wort, das Nihil so verächtlich ausgerufen hatte, von einer Wand zur nächsten hallte und das Feuer des Kamin in einer Stichflamme wie Finger in den Raum griff. Ein Beben vibrierte durch ihren Körper, presste ihr die Luft aus den Lungen, als würde sie von einer mächtigen Welle getroffen.

„GOTT hat damit nichts zu tun! GOTT spielt schon seit Jahrtausenden keine Rolle mehr auf dieser Welt! Nein, ich bin sicher nicht GOTT! GOTT war ein aufgeblasener Tyrann! GOTT hat dieses Spiel schon lange verloren....“

Nihil sank zurück auf den Sessel tiefer in den Schatten, bis nur noch seine Augen aus dem Dunkel heraus glänzten.
Marlin starrte ihn entsetzt an. Schockiert von diesem Ausbruch saß sie versteinert da, die Finger in das Polster gekrallt, dass ihre Knöchel weiss wurden. Unfähig einen Ton über die Lippen zu bringen.

 

Aus dem Dunkeln, wo sich Nihils Mund befinden musste, erklang eine müde, verbitterte Stimme.

„Es tut mir leid. Das war unangemessen von mir.“

Ein stöhnendes Geräusch erklang. Und eine zweite Stimme, die sich nur entfernt nach Nihil anhörte, erklang leise aus dem Schatten des Sessels, ein Flüstern, „Sie wird es nicht verstehen.“

Nihil seufzte. Und richtete sein Wort wieder an Marlin.

„Ich bedanke mich für ihren Besuch. Ich hoffe, ich konnte ihnen dennoch etwas als meinen Dank mitgeben und entschuldige mich abermals für meinen unpassenden Ausbruch.“

Er machte keinerlei Anstalten aufzustehen oder weitergehende Erklärungen abzugeben.

„Selene wird sie zum Ausgang begleiten.“

Selene, die junge Frau, war lautlos neben ihr erschienen und wartete, bis Marlin die Kraft fand, sich zu erheben und ihr zu folgen.

Marlin wusste nicht, was sie sagen, was sie tun sollte.

Sie stand in der Tür des Salons, als sie einen Stich in ihrem Herzen verspürte.

Sie blieb stehen und drehte sich um, an Nihil gewandt, der noch immer in den Schatten des Sessels saß. Das Feuer des Kamins brannte unauffällig vor sich hin und auch der übrige Raum schien wieder so friedlich, wie bei ihrer Ankunft.

Nur über dem Sessel schien eine Wolke von Trauer zu schweben.

Marlin wusste nicht, ob es etwas bedeuten würde, aber sie konnte den Raum vorher nicht verlassen.

Mit brüchiger Stimme sagte sie „Danke“, bevor sie sich abwandte und Selene hinaus folgte.

 

*

 

Sie stand vor den flackernden Lichtern eines Tattooshops, der aufgrund der fortgeschrittenen Stunde bereits geschlossen hatte.

Sie war lange durch die Stadt und den Regen gewandert, hing ihren Gedanken und Erinnerungen an diesen Abend nach. Versuchte Ordnung und Sinn in dieses Chaos zu bringen, zu verstehen.

Letztlich war sie vor diesem Laden stehen geblieben, der hinter seinen vergitterten Schaufenstern für Neontattoos, dem derzeitigen letzten Schrei, warb. Mehrere Beispielartworks leuchteten in der Auslage. Aber es war nur ein spezielles gewesen, dass ihren Blick eingefangen hatte.

Die verführerischen klebrigen Wunschträume und Versuchungen, die tagtäglich Hunderte in den Abgrund rissen, um sie schließlich ins Verderben zu stürzen.

Ihr Gesicht spiegelte sich an dem Schaufenster und schien sie nachdenklich zu betrachten, in Gesellschaft von einem leuchtenden Neontattoo direkt neben ihrem Gesicht.

Ein rotes feixendes Gesicht mit zwei Bockshörnern, die ihm aus der Stirn wuchsen, lachte sie an...

 

 

 

Fortsetzung folgt in

„Sympathy for the Devil“

 

 

©Arno Erol 2007

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Arno Erol).
Der Beitrag wurde von Arno Erol auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Arno Erol als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

In der Stille von Flora von Bistram



Viele sanft anmutende Geschichten und Gedichte sowie Gedankengänge von der Autorin Flora von Bistram, die dieses schöne Buch für die Besinnung geschrieben hat.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Science-Fiction" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Arno Erol

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

SUPERBJÖRN XV - Die Quarkbällchen Invasion von Arno Erol (Absurd)
Ganymed 1 von Paul Rudolf Uhl (Science-Fiction)
Pissblätter von Norbert Wittke (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen