Jennifer Beckmann

So leicht stirbt es sich nicht

So leicht stirbt es sich nicht

Es war November und der war schon ziemlich zu Ende. Ich hatte gerade eine neue Stelle angefangen und es war der letzte Tag meiner Probezeit. Ich saß im Büro und das Telefon klingelte. Nichts besonderes eigentlich. Ich meldete mich und am anderen Ende war meine Mama. Sofort wußte ich, dass irgendwas hier nicht stimmte. Sie rief niemals einfach nur so in der Firma an. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps sagte sie immer. Sie fragte mich, ob ich zu ihr kommen würde. Sie müsse ins Krankenhaus. Sie arbeitete in einem Krankenhaus für psychisch Kranke. Man vermutete eine Tuberkulose oder ähnliches. Die Hausärztin überwies sie sofort weiter. Natürlich fuhr ich hin. Was für eine Frage. Ich nahm sofort frei, rief meinen Mann an und der kam mit. Wir saßen nun dort und warteten Stunde um Stunde. Wir warteten auf die verschiedenen Ärzte und deren Untersuchungen. Während der ganzen Zeit bekam meine Mom schon sehr schlecht Luft und sah auch nicht wirklich gut aus. Es stellte sich dann heraus, dass sie keine Tuberkulose hatte, aber woran sie litt leider noch nicht. Weil niemand wusste was ihr wirklich fehlte, behielten die Ärzte meine Mom da. Stationäre Behandlung sollte Aufklärung bringen. Ich fuhr bestimmt eine Woche lang jeden Abend nach der Arbeit, ca. 60-70 km zu ihr ins Krankenhaus.

Es gab nie was neues. Es hieß immer, es sei noch nicht raus was sie habe.

Während dieser Zeit wohnte meine damals schon pflegebedürftige Großtante bei uns. Sie ging tagsüber zu meiner Schwiegermutter und wir holten sie dort abends wieder ab. Früher erledigte die Pflege noch meine Mutter, aber das war nun ruckartig vorbei.

Am nächsten Wochenende bekam meine Mom von den Ärzten ein paar Stunden Urlaub und wir konnten zu meinem Bruder fahren, der näher bei Ihr wohnte als ich. Als die Ärzte nichts fanden wusste ich gleich, dass könne nichts gutes bedeuten.

Aber was hatte sie?

An diesem Nachmittag sollte es raus kommen. Sie wusste es schon ein paar Tage, hatte aber nichts gesagt. Wir saßen beim Kaffee alle zusammen, als Sie anfing uns zu erzählen was ihr fehlt. Sie sagte uns, sie hätte nicht mehr lange zu leben. Sie hatte Lungenkrebs und daran würde sie in kurzer Zeit sterben müssen. Es war alles schon so weit fortgeschritten, dass es keinerlei Rettung mehr gab. Weder eine Chemo, noch Bestrahlungen oder Medikamente hätten geholfen. Es blieb also nur Versorgung mit schmerzlindernden Medikamenten. Erst dachte ich , ich höre nicht richtig. Das gibt’s doch gar nicht. Dagegen musste man doch was tun können, in der Zeit der Raumfahrt. Aber leider weit gefehlt.

Die Hausärztin rief uns zwei Tage später zu sich in die Praxis und erzählte uns von dem Wunsch meiner Mutter, zuhause sterben zu dürfen. Allerdings würde sie das nur erlauben, wenn wir ihr versichern uns 24 Stunden am Tag um meine Mom zu kümmern. Ich dachte gar nicht lange nach. Was gab es da noch zu überlegen. Natürlich machte ich das. Mein Bruder ebenfalls. Mama hatte sich nicht getraut uns das zu fragen. Einen Tag später erklärte ich meiner Chefin, was bei mir los war und ich bekam einen ganzen Monat unbezahlten Urlaub. Als das geklärt war fuhr ich heim und wir veranlassten die Entlassung meiner Mom. Ich war tagsüber bei ihr und mein Bruder nachts. Wir taten es genau so wie wir es versprochen hatten.

Es gab soviel zu tun. Wir wussten gar nicht wo wir anfangen sollten. Es gab auch in einer solchen Situation noch Menschen, z.B. bei der Krankenkasse, die den Ernst der Lage nicht erkannten. Sie erwiesen sich als äußerst unflexibel. Bei dem Antrag auf ein Pflegebett, welchen ich persönlich stellte, wurde mir erklärt das müsse ich schriftlich machen. Auf die Frage wie lange es dann dauern sollte meinte die freundliche Dame ca. 14 Tage. Ich dachte ich spinne. Ich hatte ihr gerade erklärt, dass wir keine Zeit mehr haben und das wir wenn wir Pech hätten meine Mom in zwei Wochen bereits tot sei. Auf einmal ging es dann doch, nachdem ich dort ausgeflippt bin. Ohne Bewilligung wäre ich dort nicht raus gegangen. Ihr Vorgesetzter regelte alles sehr schnell.

Die 6 Geschwister meiner Mom, gingen alle ein und aus, wie sie Zeit hatten. Freunde und verwandte. Alle wollten so oft wie möglich bei ihr sein. Sie ließ sehr schnell nach, konnte kaum noch essen, trinken auch nicht. Sie war so schwach und trotzdem schaffte sie es noch immer zur Toilette zu gehen.

Irgendwann war es dann soweit. Es war morgen, mein Bruder gerade ca. zwei Stunden weg. Sie musste sich übergeben und rief uns ganz laut. „Es geht jetzt los. Jetzt muß ich sterben.“ Ich rief sofort meinen Bruder und alle anderen an. Alle kamen sofort zu uns. Bald war es auch soweit, dass Sie Erstickungsanfälle bekam. Aber daran wollte sie nicht sterben. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass irgendwann ihr Herz einfach aufhören würde zu schlagen. Es zog sich den ganzen Tag und die ganze Nacht. Wir saßen abwechselnd neben ihr. Sahen ihr zu wie sie atmete und hofften jedes Mal, wenn sich ihr Brustkorb sank, sie hätte es endlich geschafft. Aber sie atmete weiter. Wir hatten das Fenster ganz weit auf, damit sie mehr Luft bekam und es sehr kalt in dieser Nacht. Es war außerdem sternenklar. Keine Wolke, nichts was den Weg nach oben versperrt hätte. Aber sie ging nicht.

Sie wollte doch so gerne noch bleiben. Leben.

Die Ärztin kam in dieser Nacht drei oder vier mal. Als sie das letzte mal bei uns war, hatten wir schon Vormittag. Es war ein neuer Tag angebrochen und meine Mom quälte sich noch immer so entsetzlich. Als sie die Ärztin zum letzten mal sah, lächelte sie uns alle an. In diesem Moment blieb ihr Herz stehen. Sie hatte es endlich geschafft. Wir waren unendlich traurig und doch erleichtert.

Es war eine furchtbare Zeit und die die uns blieb so viel zu kurz. Trotzdem möchte ich keine dieser gemeinsamen Sekunden mehr missen. Woher die Kraft kam, kann ich mir heute nicht mehr erklären. Sie war einfach da. Wir hatten nicht viel Zeit zum nachdenken. Wir planten mit meiner Mom die Beerdigung, den Kaffee danach. Alles war vorher bereits besprochen. Es tut gut zu wissen, genau in ihrem Sinn gehandelt zu haben. Das beruhigt sehr.

Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist ganz nah bei mir. Sicher ist sie das auch. Es ist noch kein Tag vergangen seitdem an dem ich nicht mehrfach an sie gedacht habe. Manchmal macht es mich traurig und manchmal auch froh.

Ich bin froh einen Engel wie sie Mama nennen zu dürfen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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