Bernhard W. Rahe

Die Traummaschine

Unsere Gegenwart ist eine verrückte und komplizierte Zeit. Die Technologie und die Ökonomie schreiben dem Menschen vor, wie er zu leben hat. Die Erkenntnisse, die aus der Computertechnik, der Medizin, oder der Biochemie, der Raumfahrt und nicht zuletzt aus der Psychologie und der Soziologie resultieren, haben nicht wirklich einen eklatanten Fortschritt mit sich gebracht. Die Forschung hat dem Menschen zu keiner humanistischeren Weltsicht verholfen. In unserer Ära kann sich nahezu jeder mit jedem anderen Zeitgenossen - egal wo - austauschen, wenn er nur über die technischen Hilfsmittel verfügt und das Bedürfnis der Mitteilung verspürt. Ein Austausch über Sorgen und Nöte ist eine Sache, die humanistisches Feingefühl erfordert und nicht durch Technologie ermöglicht wird.

So atmen wir jeden neuen Tag tapfer durch, verlieren nicht das Vertrauen in unsere Welt. Wir hoffen auf den Tag, der uns endlich Zufriedenheit beschert. Jeder muss sich mit dieser Zeit, auch wenn er ihren Wandel nicht ganz nachvollziehen kann, aussöhnen, was bleibt ihm auch anderes übrig.
In den pulsierenden Städten dieser Welt, an Straßenecken, Unterführungen, Bahnhöfen und Flughäfen, in allen öffentlichen Gebäuden, stehen seit kurzer Zeit seltsame unansehnliche blaue Stahlautomaten. Passanten bleiben skeptisch vor diesen Blechkisten stehen, sie lassen Münzen in einen rötlich umrandeten Schlitz hinein gleiten. Wenn das Geldstück tief in das Innere des Automaten hinab gefallen ist, geht nach einer Weile ein leichtes Beben, ein seltsames Zittern durch diese Maschine. Schnarrende Geräusche, wie man sie von veralteten kleinen Druckmaschinen kennt, sind zu hören. In einer Auffangschale, ähnlich der eines Spielautomaten, rieselt kaum hörbar, ein einfarbig bedrucktes Kärtchen hinein - es ist eine Art Los, ein Ticket. Ein unscheinbares Pappkärtchen nur.
Die Höhe des Betrages, die der Kartenerwerber in das Gerät einwirft, ist nicht definiert. Jeder gibt das, was er will und was er kann. Die Karten werden, je nach Anwender, ganz individuell mit Schriftzeichen unterschiedlicher Sprachen bedruckt. Der Automat weiß wie er auf den Besucher einzugehen hat, was äußerst geheimnisvoll erscheint. Nicht selten sind es Symbole, die sich auf den Kärtchen befinden. Manchmal sind es sogar kleine Geschichten, in winzigen Buchstaben gedruckt. Jeder Automatenbenutzer, der eine - nennen wir sie Glückskarte - durch die Maschine erhalten hat, bekommt diese eine Karte für den genauen Zeitraum eines Jahres. Dann sollte er das sonderbare Billett unbedingt zurückgeben haben.
Wenn also der Rückgabezeitpunkt eintritt, führt der Träumer sein Kärtchen in den Rückwurfschlitz des Apparates ein. Darauf erfolgt unkommentiert die Erstattung des ehemals gezahlten Betrages. Das Gerät ähnelt auch jenen Parkautomaten, wie wir sie in Tief-oder Hochgaragen vorfinden. Sollte aber eine Karte erst nach Ablauf des Zeitlimits zurückgegeben werden, hat sich das, was auf der Karte steht, bedauerlicherweise nicht erfüllen können. Es handelt sich schließlich um Traum - oder Glückskarten, die sozusagen das Los jener Menschen, die ihr Geld in den Automaten werfen, verbessern oder vervollkommnen sollen. Wenn ein Traum nicht in Erfüllung gegangen ist, kann das eine Reihe unterschiedlicher Gründe haben. Vermutlich hat der Karteninhaber nicht stark genug an die Schrift gewordene Erstarrung seines Traumes geglaubt oder er hat nicht hart genug an eben jener differenzierten Verwirklichung des Glückes gearbeitet. Möglicherweise hatte er einfach nur eine Pechsträhne. Die Karte wurde in einer Jackentasche vergessen und somit der Traum nicht mehr beachtet. Die Maschinen sind sehr nachtragend, sie haben nicht nur ein elektronisches Hirn. Ihr Gedächtnis ist elefantös.

In den letzten Monaten sehe ich immer häufiger Leute vor diesen bizarren Automaten stehen. Verunsichert nesteln sie, auch Kinder sind dabei, an ihren Geldbörsen herum. Sie werfen die Münzen ein, horchen dem Schnarren und Rattern, sie ergreifen gespannt ihre Karten. Dabei kann man dem Mienenspiel der Menschen gelegentlich entnehmen, ob der Hinweis auf ihrer Traumkarte die Verwirklichung ihres Glückes zulässt. Geschulte Betrachter jener Gesichtsausdrücke spekulieren darüber, ob die Erwerber einer Karte an ihrer Illusion zerbrechen werden oder ob sie sich ihren Traum erfüllen können. Maskierte Mitarbeiter der so genannten Glücksgesellschaft überprüfen stets die Funktion der Automaten, sie schmieren die mechanischen Teile und warten die elektronischen Baugruppen nebst Kabelverbindungen. Sie füllen aber - das ist sehr eigenartig - niemals Karten nach, sie entnehmen dem Automaten zu keiner Zeit auch nur einen einzigen Cent. Zumindest hatte ich Derartiges nie gesehen, wo ich doch schon seit Wochen das Geschen an den Automaten aufmerksam verfolge.
Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass jeder Kunde seine Karte zurückgeben sollte. Andernfalls bekommt er keine neue. Wer sein Glück gefunden hat, gibt auch bereitwillig die Karte zurück, er darf dann eine weitere erwerben und so an der Realisierung eines anderen neuen Traumes arbeiten.
Die Glücksgesellschaft hat einen Automaten geschaffen, der heute an jeder Straßenecke installiert ist und in der Lage zu sein scheint, sich in gewisser Weise selbst zu regulieren. Ob nun in Berlin, in Bombay oder in Brooklyn, seine Funktion ist in jeder Metropole der Welt gleich.
Mich beschäftigten neulich, als ich mit dem Gedanken spielte, eine Münze einzuwerfen, gleich mehrere Probleme:
Warum gehen die Leute zu einem Automaten, um diesen danach zu befragen, welchen Traum sie träumen und was für sie Glück bedeutet? Welcher Trick versetzt diesen einfältigen Blechkasten in die Lage, den Städtern bestimmte Illusionen zuzuteilen und das mit einer subtilen und verblüffenden Auswahl und Gründlichkeit? Funktioniert das möglicherweise mit einem Zufallsgenerator und wie generiert der Apparat dann die Symbole und seine instruktiven benutzerorientierten Texte?

Ich hörte kürzlich von einem vermögenden Freund, der sich eine jener Karten besorgt hatte. Der Mann fand nur ein Wort auf diesem Kärtchen vor. Er zeigte es mir. Ich las das Wort "Yacht". Und genau diese Yacht war sein Traum, seine Triebfeder, sein Streben und sein privates Glück. Der Freund fühlte sich in der Tat in seinem - sagen wir - Traumgebilde bestätigt und schaffte es tatsächlich, innerhalb von nur acht Monaten, seinen Yachtraum zu realisieren. Die Karte gab er anschließend dem Automaten zurück und bekam prompt sein Geld erstattet. Der Einsatz betrug übrigens, das verriet mir der Freund mit einem auf mich befremdlich wirkenden Lachen, nur einen mageren Cent.
Dieses Kuriosum stimmte mich sehr nachdenklich, es erschien mir unbegreiflich und phantastisch aber war leider auch von Hoffnungslosigkeit geprägt. Nun, da die Traumgesellschaft, von der man nicht wusste, wo auf der Welt sie überhaupt ihre Geschäftsräume unterhielt, immer neue Traummaschinen aufstellte, stand auch ich vor einem dieser merkwürdig geformten metallenen Apparate. Es war kaum möglich, ihnen aus dem Wege zu gehen. Sie schienen einen magisch anzuziehen. Mir kam es schier so vor, als würden die Glücksmaschinen mir nachlaufen. Ich stand also davor, schaute grüblerisch an dem lackierten Metall hinauf und hinunter. Auf dem Boden entdeckte ich plötzlich eine jener Karten. Misstrauisch aber doch fasziniert und neugierig hob ich sie auf. Die graue Pappe war feucht vom Regen und schmutzig von der Straße. Ich versuchte, die Schrift oder ein Symbol zu erkennen. Ich wischte mit meinem Taschentuch darüber und konnte nur leidlich etwas entziffern. Ich überlegte kurz, was ich mit dieser bedruckten Pappe anfangen sollte. Gelesen hatte ich sie noch nicht. Diese Karte würde vermutlich jemandem von großer Bedeutung sein. Schließlich handelte es sich um eine Art Lebenslos. Ohne diese Karte war der Besitzer vielleicht verloren und der Möglichkeit, sein Heil zu finden, für immer beraubt. Andererseits konnte es sich um eine banale Träumerei handeln. Die Anschaffung eines Luxusautos, die Umsetzung einer Weltreise, der Besitz eines Sportflugzeuges.
Übrigens, meine vorangestellte Darstellung über den Regelkreis der Traummaschine war nicht differenziert genug.
Denn, manche Menschen warfen ihre Karte, wenn sich ihr Traum nicht verwirklichen ließ, einfach achtlos in den Dreck. Sie waren, so enttäuscht und ohne Visionen, plötzlich zu Gegnern dieser einstmals Hoffnung spendenden Glücksgeneratoren geworden. Darum überlegte ich mir, dass die Karte, die ich in meinen Händen hielt, vermutlich das Produkt einer Enttäuschung sein könnte. Ich schaute auf das nunmehr getrocknete Billet. Buchstaben standen da, schwach zu erkennen. Ich las das einfache Wort: "Brot". Wer in Gottes Namen, dachte ich verwundert, wünscht sich von dieser Maschine einen gewöhnlichen Kanten Brot? Dieses in unserer aufgeklärten und alles möglich machenden Zeit, wo Menschen im Besitz von Milliarden sind? Dieser Wunsch in einer Großstadt, die doch noch mehr zu bieten hatte. Wo Gelder wie reißende Flüsse in die großen Konzerne strömten. Ströme, die gelegentlich Existenzen, ganze Lebenswerke unter Wasser setzten, sie mit sich zogen und die daran haftenden Menschen in die Katastrophe stürzten.

Kurz entschlossen, steckte ich die Karte in den Rückschlitz. Ich hatte etwas Angst, schaute mich unsicher um und wollte dieses Stückchen Pappe nicht länger behalten.
Was nun geschah, war völlig fern meiner Vorstellungen. Diesen Moment werde ich niemals vergessen. Der Automat schien sich von der Stelle bewegen zu wollen und wütend aus seiner Verankerung zu springen. Ein Dröhnen und Poltern schüttelte das schwere Metall. Ein kreischendes und rasselndes Spektakel durchzitterte diese eigenartige Maschine. In den folgenden Minuten entleerte sich generös die Blechbrust. Sehr viel Geld flutete in die Auffangschale. Die Münzen schwollen über den Rand, prasselten zu Boden, bildeten einen Berg, der stetig anwuchs. Ich blickte mich erschrocken um. Zuschauer blieben auf der Stelle stehen, schauten ungläubig auf die vielen Münzen hinab.
Plötzlich trat ein kleiner schmächtiger Junge an den Münzenberg heran. Das Kind sah verwildert aus. Seine langen Haare hingen ihm ins Gesicht. Er hatte verfaulte Zähne im Mund. Er war etwa neun oder zehn Jahre alt. Seine Augen blickten wie die eines Greises. Das Kind sprach mit flüsternd krächzender Stimme. Und alle hörten dieses Wort. Wie es dröhnte in ihren abgestumpften verwöhnten Gehören, wie es hineinschnitt in steinerne und auch verfaulte Herzen, wie es fiel, so tief hinab, in leblose blutleere Seelen. Der Junge sagte dieses einfache Wort, das allen so bekannt war, das so elementar und in diesem Moment gar nicht mehr banal klang. Und es wollte nicht enden. Das Wort: "B r o t".
Dann hob der Junge eine Zehn-Cent-Münze auf, steckte sie sich sorgfältig und prüfend in die Hosentasche. Ohne sich umzuschauen verschwand er mit hängenden Schultern im dunstigen Trubel dieser monströsen Stadt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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