Der Morgen ist erwacht und die Sonne scheint. Müde räkele ich mich in meinem Bett. Sommer, Sonne, frei und lange schlafen. Nachtgespenster vertreibe ich. Ich ziehe meinen Körper im Bett zusammen, strecke mich, dehne mich in meiner gesamten Länge aus. Die Träume der acht verschwinden in den Gedanken an eine Tasse Kaffee und ein gutes frisches Morgenbrötchen. Die Dusche....eine Sehnsucht die mein Körper spürt und dann, nach dem Frühstück in den Garten...faulenzen, einfach nichts tun.
Ich schaue aus dem Schlafzimmerfenster und sehe auf unser Nachbarhaus. Immer wenn ich in diese Richtung sehe muss ich an ein Gesicht denken. Rechts ein Fenster, links ein Fenster, gleiche Größe und mittendrin ein Fenster, dass sich einer Nase gleich in das Gesamtbild einpasst. Die Fenster sind alle noch mit Roll-Laden verschlossen. Es ist friedlich und still. Der Morgen ist noch jung. Die Häuserwand, auf die ich meine Blicke richte, strahlt Ruhe und Gelassenheit auf mich zurück. Ich kann in meinem Bett in Sicherheit noch eine Runde schlafen und die Träume der Nacht vertreiben. Die Fenster gegenüber sind verschlossen und können mich nicht beobachten.
Meinen Gedanken hänge ich nach und versuche mich durch gutes Zureden aus dem Bett zu stehlen. Hinter den Vorhängen unseres Schlafzimmerfensters beobachte ich die Roll-Laden der Häuserwand gegenüber. Nichts regt sich, alles ruhig und ich kann, ohne mich von fremden Blicken beobachtet zu fühlen, duschen.
Ich frühstücke und kann aus den Wohnzimmerfenster die Häuserwand gegenüber beobachten. Die Roll-Laden sind immer noch fest verschlossen und ich bin beruhigt. Die Sonne lockt mich in den Garten. Es ist Zeit meinen Garten zu genießen. Während ich Liegestuhl, Tisch und Decken nach draußen befördere erschrecke ich zum ersten Mal.
Die Roll-Laden gegenüber heben sich mit dem dafür typischen Geräuschen. Zuerst das linke Fenster. Nachdem die Glasscheiben von ihrem Überzug befreit sind, öffnet sich das Fenster und ganz kurz schaut ein menschliches Gesicht in unseren Garten.
Das Spiel wiederholt sich in kurzen Abständen bei den anderen beiden Fenstern. Das Haus gegenüber atmet Frischluft. Die Morgenluft strömt durch die geschaffenen Öffnungen in das Haus, entzieht so die Luft aus meinem Garten und raubt mir den Atem. Ich kenne dieses Spiel und habe mich nur scheinbar daran gewöhnt.
Ich warte bis sich die Situation beruhigt hat, hole mir eine Tasse Kaffee und warte auf das Spiel, das sich unwiderruflich wiederholen wird. Eine Zigarette schafft mir neue Luft in meinem Garten, der Kaffee ein neues Frischegefühl in meinem Körper. Die Luft in meinem Garten hat sich beruhigt. Die Sogwirkung der geöffneten Fenster hat nachgelassen. Ein Moment herrscht Frieden. Doch die Sonne ist wieder einmal ein Stück höher gestiegen und verbreitet ihre morgendliche Wärme. Die Luft heizt sich auf. Es wird angenehm warm. Gerade das ist der Zeitpunkt wo normalerweise wieder etwas passieren muss.
Ich lese Zeitung und warte auf den richtigen Augenblick. Jeden Moment muss gegenüber etwas passieren. Die Nachrichten sind nicht besonders erfreulich und ich spüre, dass sich gleich etwas verändern wird.
Gerade als ich mich mit den 80 Geburtstagen von Herbert Meyer beschäftige passiert es. Ein Fenster gegenüber wird geschlossen. Keine warme Morgensonnenluft dringt mehr in den Raum ein. Eine Roll-Lade wird heruntergelassen und sperrt die Morgensonne aus.
Das Haus gegenüber wird von Leben ausgeschlossen. Die anderen beiden Fenster werden ebenfalls geschlossen, der Sommer ausgesperrt. Die Luft in meinen Garten atmet auf, die Sonne scheint intensiver zu scheinen und Ruhe kehrt in mir zurück. Ich fühle mich nicht mehr beobachtet. Doch ich weiß, es wird nicht lange dauern.
Ich habe meine Zeitung zu Ende gelesen, meinen Kaffee ausgetrunken und meine Sitzgelegenheit in den Schatten gestellt. Es ist nicht viel Zeit vergangen. Die Sonne ist höher geklettert und hat meinen Garten in Licht und Schatten getaucht. Ich habe ab und zu meine Augen geschlossen und über die Träume der Nacht nachgedacht, versucht die Nachrichten des Tages zu verarbeiten und ganz unbewusst die Häuserwand gegenüber beobachtet. in den Blättern unseres wilden Weines raschelt es leise. War das ein Zeichen? Gleich muss es wieder so weit sein. Meine Nase spürt das Ungleichgewicht der frischen Morgenluft in den Räumen meines Nachbarn. Die Luftdrücke in den Räumen weichen in hohem Maße vom Luftdruck in meinen Garten ab. Die Sonne hat die Werte um ein unerträgliches Maß verschoben.
Dann ist es soweit. Ein Geräusch erreicht mein Ohr und lässt automatisch meine Blicke nach oben schweifen. Es ist eine Augenbewegung die ich aus jahrelanger Gewohnheit schon eingeübt habe. Eine Roll-Lade bewegt sich nach oben, ein Fenster öffnet sich und lässt den Parfümduft der Morgentoilette nach draußen entweichen. Seifengeruch, Haarwaschduft, ein bisschen Urin und Körpergeruch entweicht in meinen Garten. Kurz darauf folgt ein Duft von Leder, Holz und Schuhabrieb, weil das mittlere Fenster sich weit öffnet und Gerüche von Treppen steigen und Reinigungsmitteln nach draußen entlässt.
Das letzte Fenster rechts macht sich frei, lässt kurz die Morgensonne ins Zimmer strahlen und entlässt dann die Gerüche einer langen Nacht, ein Gemisch aus Schlaf, Körperschweiß und Zigarettenrauch. Alles vermischt sich mit den Düften aus meinem Garten und verändert die Atmosphäre in meinem Garten für einen kurzen Moment.
Dann normalisiert sich wieder alles. Die Ruhe kehrt zurück, die Luft erreicht wieder ihren Normalzustand und lässt sich wieder ohne Fremdgerüche ein und ausatmen.
Ich kann mich wieder entspannen und meinen Garten für eine Weile genießen, obwohl ich mich durch die weit geöffneten Fenster beobachtet fühle. Zeit für ein paar Zeilen in einem guten Buch, Zeit die Augen einen Augenblick zu schließen und den Gedanken nachzuhängen. Vielleicht sollte ich mir etwas zu trinken holen, oder mich auf die nächste Fensterattacke vorzubereiten. Ich atme durch, hole mir etwas zu trinken, lege mich auf eine Decke und starre die Häuserwand mit den geöffneten Fenstern an.
Die Luft wird immer wärmer und ich ziehe mein T-Shirt aus. Die Sonne hat so Gelegenheit meine Haut zu bestrahlen und in meinem Körper chemische Reaktionen auszulösen.
Doch die Kraft der Sonne, strahlt auch in das Gehirn meiner Mitmenschen. Der geheimnisvolle Fensterschließer von gegenüber fühlt sich erneut inspiriert. Die logische Folge ist, dass sich nacheinander alle Fenster gegenüber wieder der Außenwelt verschließen und die Zimmer dahinter über die Roll-Laden in ein Tagdunkel einlullen. Ich bin wieder einmal unbeobachtet, geschützt durch die Hecke rund um meinen Garten, durch eine hohe Tanne, die mich zur anderen Seite abschirmt. Ich könnte mich nackt ausziehen und keiner würde mich sehen oder beobachten können. Doch meine lange Erfahrung hindert mich daran, eine solche Aktion vor 24.oo Uhr durchzuführen. Ich weiß, dass die Fenster gegenüber sich daran gewöhnt haben in regelmäßigen Abständen nachzusehen, ob ich noch da bin. Ich kann also nur für kurze Zeit die Freiheit genießen nicht beobachtet zu sein.
Meine Erfahrung weiß, dass mit steigenden Temperaturen und fortschreiten des Tages die mir gegenüberliegenden Fenster danach lechzen wieder einen Blick in meinen Garten zu werfen. Ich weiß genau wann es passieren wird. Entweder spüre ich es am Geruch der in der Luft liegt, an den Bewegungen der Blätter unseres Hausbaumes oder im Licht der Widerspiegelungen von unserem Gartenteich. Aber eigentlich registriere ich die äußeren Umstände gar nicht mehr. Es ist einfach wie ein plötzlicher Blitz und ich weiß es wird gleich passieren. Es ist ein Moment indem ich plötzlich aufschrecke, ohne genau zu wissen warum. Es ist wie, als wenn eine Fensteröffnungsenergie an mir vorbei geht und schon sehe ich wie Hände nach Roll-Ladenschnürren greifen, sich daran festkrallen und daran zerren um Licht in die Räume zu lassen. Manchmal ist es so, als ob sich ein seelisches Fenster in mir Selbst öffnet oder einfach mit Gewalt aufgerissen wird. Es schmerzt, es erschreckt mich wenn ich mich dann nicht mehr alleine fühle. Doch irgendwie warte ich darauf dass es passiert.
Dann ist es wieder so weit. Ich war gerade ein wenig eingeduselt und merkte gleich, dass meine innere Ruhe zu Ende war. Ich stöhnte leise vor mich hin, als ich die Geräusche hörte die mich eindeutig daran erinnerten, dass auf der rechten Seite eine Roll-Lade hochgezogen wird, ein Fenster sich öffnet und Langeweile aus einem Zimmer strömte die sich langsam energetisch in meinem Garten zu verteilen begann. Dann das zweite mittlere Fenster, mit der Energie von nicht Leergegessenen Teller des Mittagsmahls, mit einer Energie von Ärger über die Mutter, die irgendwelche Wünsche ihres Sohnes nicht zugelassen hat. Dann das letzte Fenster, das einen Hauch von Leere und unnützes Öffnen in meinem Garten verströmt. Diese Mischung lässt mich darüber nachdenken ein frühes Bier zu mir zu nehmen um zu vergessen. Ich bin doch s unschuldig und will nur im Garten sitzen und den schönen Sonnentag genießen. Die Vorwürfe aus dem geöffneten Fenster sollen mich nicht erreichen und gehen mich auch nichts an. Ich will einfach meine Ruhe.
Meine Gedanken verbreiten sich in meinem Garten und als Konsequenz schließen sich kurz darauf alle Fenster wieder. Die Roll-Laden schließen sich wie Augenlider und lassen mich mit meinen Gedanken allein zurück. Doch meine Kraft im Garten auf die nächste Eröffnung der Roll-Laden und Fenster zu warten ist erschöpft und ich ziehe mich in mein Schlafzimmer zurück. Eine Stunde Pause von Sonne, Sommer und dem ständigen Gefühl zwischen beobachtet und allein gelassen sein. Ich schlafe im meinen Schlafzimmer mit dem Gefühl der Sicherheit, dass alle Fenster gegenüber geschlossen sind.
Als ich aufwache und einen Blick zwischen die Gardinen nach draußen wage sind wieder alle Fenster geöffnet. Ich habe nicht gezählt der wievielte Wechsel am heutigen Tag stattgefunden hat
Aber noch sind ein paar Stunden vom Tag übrig geblieben und ich habe den Gedanken, dass die Fenster gegenüber wie ein Fisch atmen. Maul auf, Maul zu. Wie ein Wal, der in regelmäßigen Abständen auftaucht und neue unverbrauchte Energie zu sich nimmt und dabei der verbrauchten Energie nach draußen abgibt. Doch noch berührt mich das Ganze nicht. Ich habe immer noch das Gefühl, dass mich der ganze Zirkus nicht im Geringsten berührt. Ich traue mich sogar wieder in den Garten und suche Schutz im Schatten unseres Hausbaumes.
Die Fenster und Roll-Laden schließen sich wieder und ich merke es nur an der veränderten Energie in meiner Umgebung. Ich fühle mich einfach sicherer. Doch eine unbekannte mir völlig fremde Energie stiegt im mir hoch. Ich fange an mich aufzuregen, zu ärgern und den ständig stattfindenden Wechsel um mich herum nicht mehr einfach so hinzunehmen. Ich merke es daran, dass mein Buch mich nicht mehr von der Außenwelt ausschließt, dass ich jedes Geräusch um mich herum wahrnehme und nur darauf warte, dass sich die Fenster im gewohnten Rhythmus wieder öffnen. Dann werde ich schreien, so laut ich kann. Ich werde so laut sein, dass durch die Kraft meiner Stimme die Fenster von alleine zuschlagen die Roll-Ladengurte reißen, und dadurch die Fenster ihre Augen für immer schließen.
Ich warte auf diesen Moment und sammele meine Kraft. Ich bin angespannt und voller Erwartung. Doch als es soweit ist habe traue ich mich nicht, sondern ich nehme es hin, das die Fenster über mir, die erste Abendluft einatmen und mir die Gelassenheit aus meiner Seele stehlen einmal etwas zu tun was mich wirklich befreien würde.
Die Fenster sind nur kurz geöffnet, die Roll-Laden nur kurz in ihren Kästen versenkt.
Aber meine Ausgeglichenheit ist ein für allemal dahin. Ich verlasse fluchtartig meinen Garten. Der Tag des ständigen Wechsels hat mich geschafft.
Ich werde morgen einen Brief in die offenen Fenster schmeißen, eine Rauchbombe oder das Foto eines nackten Mannes. Vielleicht werde ich den Briefträger bestechen und den Briefkasten meines Nachbarn mit Werbung verstopfen, oder für den laufenden Sommer nur noch schlechtes Wetter bestellen. Oder ich nehme alles einfach hin. Es wird Zeit, dass ich mir eine Lösung einfallen lasse und sei sie noch so abwegig.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Friedhelm Eymael).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2008.
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