Elle Kay

Das Leben des Herrn W. (1): Der Mensch, wie er ist


„Als
er klein war, wurde er stets gehänselt, seiner Eigenart wegen. Als
Heranwachsender wusste er nicht, ob er am weiblichen Geschlecht
Interesse hat. Selbst seine erste Freundin war ihm egal. Bei seinen
Mitstudenten war er beliebt, denn sie bewunderten einfach sein
Anderssein. Nun führt er das Leben eines Ottonormalbürgers, banal,
unauffällig und schlicht, eigentlich nicht weiter erwähnenswert, wenn
da nicht seine Eigenarten wären. Es ist erstaunlich, wie lange man doch
im Kopf dieses kleinen Menschen baden kann.
Manchmal treibt es
Leute zur Weisglut, manchmal ist es Mitleid erregend und meistens
einfach nur tragisch-komisch und unverständlich.“

W. ist
kein auffälliger Mann. Er ist weder besonders groß, noch besonders
schön, noch sonst irgendwie besonders. Wenn man ihm auf der Straße
begegnet, dreht man sich kein zweites Mal um. Er ist schlicht und
„schlicht“ ist auch das Adjektiv, was ihn gänzlich beschreibt. Schlicht
ist seine Bekleidung, für die Arbeit klassisch-unauffällig, in der
Freizeit geschmacklos-unauffällig, man würde fast sagen, sie sei
modisch oder trendy. Es ist nicht so, dass W. jedem Trend hinterher
jagen würde, er besteht immer darauf, seinen eigenen Stil zu haben, der
zufällig mit der heutigen Mode konform ist und sich dementsprechend
auch rein zufällig mit der Mode verändert. Natürlich ist es nicht
verkehrt, sich der Mode entsprechend zu kleiden, wir alle tun es doch
irgendwo, nur mit dem kleinen und feinen Unterschied zu W.: Ihm steht
es nicht. Wirklich nicht.
Bei der Arbeit trägt er klassische
Anzüge, die Krawatte stets zum Hemd passend. Dies verleiht ihm eine
unbeschreibliche Eleganz, welche das perfekte Korrelat zu seinen
gentlemanhaften Umgangsmanieren darstellt. Im Anzug ist dieser Mann
umwerfend schön. Aber eben nur so lange, bis ein anderer daherkommt.
Was jedoch umwerfend bleibt, sind seine Manieren. Er weiß sich wirklich
in der Öffentlichkeit zu benehmen. Stets zuvorkommend, höflich und
sachlich. Eine Seltenheit in unserer Gesellschaft, welche die betagten
Damen, denen er stets die Tür aufhält erfreut, und nicht nur diese.
Auch seine Kollegen schätzen diese Seite an ihm, zumal sie keine andere
kennen. Diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe, selbst bei dem größten
Stress lächelt er sanft, mit geschlossenen Lippen. Er sieht seriös aus.
Sein Blick ist von einer warmen, gewissenhaften Gelassenheit. Er findet
zur richtigen Zeit die richtigen Worte, scherz gekonnt und kommentiert
gezielt. Sein Benehmen ist professionell und kommt trotzdem natürlich
rüber. Das verleiht ihm eine umwerfende Schönheit, die ihn auf der
Arbeit von allen anderen Unterscheidet. Dort ist er etwas Besonderes,
Auffälliges.
In der Freizeit ändert sich das radikal. Zwar weicht
die einbetonierte Gelassenheit nie aus seinem Gesicht, jedoch verändert
sich der Rest. Einmal aus dem Büro raus verwandelt sich W. Die
Freizeitkleidung, stets in den angesagtesten Läden erworben, ist wie
gesagt sehr modisch. Zerfetzte Jeans mit viel Schlag, alternativ dazu
Baggypants in feschen Farben, ausgelatschte Markenturnschuhe,
hellblaue, mintgrüne, sonnengelbe und lachsfarbene T-Shirts mit bunten
Prints, manchmal sogar mit zyanblauer Glitzerschrift oder mit
ausländischen Sprüchen, die selbst W. nicht versteht. Bei kälterem
Wetter zieht er sich eine unpassende Strickjacke über. Im Winter
besteht er auf Accessoires, wie Schal und Mütze, welche nie farblich zu
dem Rest passen. Bei der Freizeitkleidung ist W. mit einer göttlichen
Geschmacklosigkeit gesegnet, die selbst Lagerfeld mit seinen Modellen
nicht zu toppen weiß. Doch all dies passt erstaunlich gut zu seiner
Erscheinung und seinen Wesenszügen, und zwar so gut, dass er auf der
Straße nicht auffällt.
W. ist nicht sonderlich groß gewachsen, für
einen Mann sogar recht klein. Er ist kräftig, um nicht zu sagen
übergewichtig. Sein Kopf ist klein, die winzigen blauen Augen verbirgt
er hinter einer Brille, die ihn mehr entstellt als dass sie ihn
schmückt. Für seine Zähne kann er nichts, sie sind klein, gelb und weit
auseinander. Allerdings hat er dies begriffen und deshalb vor langer
Zeit aufgehört zu Lächeln. So kaschiert er seine Zähne mit den
schmalen, formlosen Lippen, welche er nochmals hinter einem sehr gut
modellierten Bart verbirgt. Dieser steht ihm wirklich gut und das weiß
er auch. Die Gesichtsbehaarung ist auch weiterhin prägnant. Man
betrachte doch nur die zusammengewachsenen Augenbrauen, aber gut, das
haben viele Männer. Vielleicht würde sich W. selbige Behaarung auf
seinem Kopf wünschen. Denn wo ihm nun seit der Pubertät die Haare
ausfallen, funkelt nun eine wunderschöne Tonsur. Sie glänzt tatsächlich
bei direkter Lichteinstrahlung, als würde er sie jeden Morgen frisch
mit Bowlingkugelpolitur einreiben. Doch es passt in das schlichte Bild,
welches dieser Mann abgibt.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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